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Der Sommer war vergangen, und auch die schönen Herbsttage waren zu Ende. Es wurde kühl und nebelig am Abend, und in den feuchten Wiesen fraßen die Kühe das letzte Gras ab. Hier und da flackerten auf den Wiesen kleine Feuer auf, denn die Hirtenbuben brieten Kartoffeln und wärmten sich die Hände,
An einem solchen nebelgrauen Abend kam Otto aus der Schule heim und erklärte seiner Mutter, er müsse nachsehen, was das Wiseli mache. Denn seit den Herbstferien war es noch nicht in die Schule gekommen, acht Tage lang nicht. Otto steckte seine Vesperäpfel zu sich und lief davon. Am Buchenrain angekommen, sah er den Rudi vor der Haustür am Boden sitzen und von einem Haufen Birnen, die neben ihm lagen, eine nach der anderen zerreißen.
»Wo ist das Wiseli?« fragte Otto.
»Draußen«, war die Antwort.
»Wo draußen?«
»Auf der Wiese.«
»Auf welcher Wiese?«
»Ich weiß nicht.« Und Rudi kaute weiter an seinen Birnen.
»Du stirbst einmal nicht am Gescheitsein«, bemerkte Otto und ging auf gut Glück zur großen Wiese, die sich vom Haus bis gegen den Wald hinaufzog. Jetzt entdeckte er drei schwarze Punkte unter einem Birnbaum und ging darauf zu. Richtig, da bückte sich Wiseli, um die Birnen zusammenzulesen. Dort saß der Chäppi rittlings auf seinem Birnenkorb, und zuhinterst lag der Hans rücklings über den vollen Korb hin und schaukelte sich so darauf, daß der Korb jeden Augenblick umzustürzen drohte. Chäppi sah ihm zu und lachte.
Als Wiseli den Otto herankommen sah, leuchtete sein Gesicht auf. »Guten Abend, Wiseli«, rief er von weitem, »warum bist du so lange nicht in die Schule gekommen?«
Wiseli streckte erfreut dem Otto die Hand entgegen. »Wir haben so viel zu tun, darum durfte ich nicht kommen«, sagte es. »Sieh nur, wie viel Birnen es gibt! Ich muß vom Morgen bis zum Abend auflesen, soviel ich nur kann.«
»Du hast ja ganz nasse Schuhe und Strümpfe«, erwiderte Otto. »Hier ist's nicht gemütlich. Frierst du nicht, wenn du so naß bist?«
»Ich fröstle nur manchmal ein wenig, sonst ist es mir eher heiß vom Auflesen.« In diesem Augenblick gab der Hans seinem Korb einen solchen Ruck, daß alles übereinander auf den Boden hinrollte. Der Hans, der Korb und alle Birnen, die fuhren nach allen Richtungen hin.
»Oh, oh!« sagte Wiseli kläglich. »Nun muß man die alle wieder zusammenlesen.«
»Und die auch«, rief Chäppi und lachte, als die Birne, die er geworfen hatte, das Wiseli an der Schläfe traf, daß es ganz bleich wurde und ihm vor Schmerz das Wasser in die Augen schoß.
Kaum hatte Otto das gesehen, als er auf den Chäppi losfuhr, ihn samt seinem Korb umwarf und ihn fest im Genick packte. »Hör auf, ich muß ersticken«, gurgelte der Chäppi. Jetzt lachte er nicht mehr.
»Du sollst daran denken, daß du es mit mir zu tun hast, wenn du so mit dem Wiseli umgehst«, rief Otto zornig. »Hast du genug? Willst du daran denken?«
»Ja, ja, laß nur los!« bat Chäppi, mürbe gemacht.
Nun ließ Otto los. »Jetzt hast du's gespürt«, sagte er; »wenn du dem Wiseli noch einmal etwas zuleide tust, so packe ich dich so, daß du noch einen Schrecken hast davon, wenn du siebzig Jahre alt bist. Auf Wiedersehen, Wiseli.« Damit drehte sich Otto um und ging mit seinem Zorn nachhause.
Hier suchte er gleich seine Mutter auf und erzählte ihr empört, daß das Wiseli eine solche Behandlung erdulden müsse. Er war auch ganz entschlossen, auf der Stelle zum Herrn Pfarrer zu gehen und den Onkel und seine ganze Familie anzuklagen, damit man ihnen das Wiseli entreiße.
Die Mutter hörte zu, bis Otto sich ein wenig beruhigt hatte, dann sagte sie: »Lieber Junge, das würde gar nichts nutzen, das Kind würde man dem Onkel nicht wegnehmen, nur ihn reizen, wenn er so etwas hörte. Er meint es selbst nicht böse mit dem Kind, und es ist kein genügender Grund da, ihm Wiseli wegzunehmen. Ich weiß, daß das arme Kind jetzt ein hartes Brot ißt. Ich habe es auch nicht vergessen, ich schaue immer danach aus, ob mir der liebe Gott nicht einen Weg zeigt, wie dem Kind geholfen werden könnte. Die Sache liegt mir auch am Herzen, das kannst du glauben, Otto. Wenn du inzwischen das Wiseli schützen und den groben Chäppi ein wenig zähmen kannst, ohne selbst dabei grob zu werden, so bin ich ganz damit einverstanden.«
Otto beruhigte sich bei dem Gedanken, daß die Mutter nach einem anderen Weg für das Wiseli ausschaute. Er selber dachte alle möglichen Rettungswege aus, aber alle führten in die Luft hinauf und hatten keinen Boden. Und er sah ein, daß das Wiseli darauf nicht gehen konnte. Als er dann zu Weihnachten seine Wünsche aufschreiben durfte, da schrieb er ganz verzweifelt mit ungeheuren Buchstaben, so als müßte man sie vom Himmel herunter lesen können, auf sein Papier: ›Ich wünsche, daß das Christkind das Wiseli befreit.‹
Nun war der kalte Januar wieder da, und der Schlittenweg war so prächtig glatt und fest, daß die Kinder gar nicht genug bekommen konnten, die herrliche Bahn zu benutzen. Es kam auch eine helle Mondnacht nach der anderen, und Otto hatte auf einmal den Einfall, am allerschönsten müßte das Schlittenfahren im Mondschein sein. Die ganze Gesellschaft sollte sich am Abend um sieben Uhr zusammenfinden und die Mondscheinfahrten ausführen, denn es war der Tag des Vollmonds. Da mußte es prächtig werden.
Mit Jubel wurde der Vorschlag angenommen, und die Schlittbahngenossen trennten sich gegen fünf Uhr wie gewöhnlich, da die Nacht einbrach, um sich um sieben Uhr wieder zusammenzufinden.
Weniger Anklang fand der Vorschlag bei Ottos Mutter, als er ihr mitgeteilt wurde. Sie ließ sich gar nicht von der Begeisterung hinreißen, mit der die Kinder beide auf einmal und in den lautesten Tönen ihr das Wundervolle dieser Unternehmung schilderten. Sie hielt ihnen die Kälte des späten Abends vor, die Unsicherheit der Fahrten bei dem ungewissen Licht und alle Gefahren, die besonders das Miezchen bedrohen könnten.
Aber die Einwände blieben wirkungslos, und Miezchen bettelte inständig, als hinge seine einzige Lebensfreude an dieser Schlittenfahrt. Otto versprach auch, er wurde auf Miezchen aufpassen und immer in seiner nächsten Nähe bleiben.
Endlich willigte die Mutter ein. Mit großem Jubel und wohlverpackt zogen die Kinder ein paar Stunden nachher in die helle Nacht hinaus. Es ging alles ganz nach Wunsch, die Schlittenbahn war unvergleichlich, und das Geheimnisvolle der dunklen Stellen, wo der Mondschein nicht hinfiel, erhöhte den Reiz der Unternehmung. Eine Menge Kinder hatte sich eingefunden, alle waren in der fröhlichsten Stimmung.
Otto ließ sie alle vorausfahren, dann kam er, und zuletzt mußte das Miezchen kommen, damit ihm keiner in den Rücken fahren konnte. So hatte es Otto eingerichtet, er konnte sich dabei auch immer von Zeit zu Zeit mit einem Blick vergewissern, ob Miezchen nachkomme.
Als nun alles so gut ging, fiel einem der Buben ein, nun müßte einmal der ganze Zug anhängen, nämlich ein Schlitten an den anderen gebunden werden. So wollte man hinunterfahren, das müßte im Mondenschein ein ganz besonderer Spaß werden. Unter großem Lärm und allgemeiner Zustimmung ging man gleich ans Werk.
Für Miezchen fand Otto die Fahrt doch ein wenig gefährlich, denn manchmal gab es dabei einen großartigen Umsturz sämtlicher Schlitten und Kinder. Das konnte er für das kleine Wesen nicht riskieren. Er ließ seinen Schlitten zuletzt anbinden, der Miezchens aber wurde freigelassen. So fuhr es, wie immer, hinter dem Bruder her. Nur konnte er jetzt nicht, wie sonst, seinen Schlitten langsamer fahren lassen, wenn Miezchen zurückblieb, denn er war in der Gewalt des Zuges. Jetzt ging es los, und die lange, lange Kette sauste die glatte Bahn hinunter.
Mit einemmal hörte Otto ein furchtbares Geschrei, und er kannte die Stimme. Es war Miezchens Stimme. Was war da geschehen? Otto hatte keine Wahl, er mußte die Lustpartie zu Ende machen, wie groß auch sein Schrecken war. Aber kaum unten angelangt, riß er sein Schlittenseil los und rannte den Berg hinauf. Alle anderen liefen hinter ihm drein, denn fast alle hatten das Geschrei vernommen und wollten auch sehen, was los war. An der halben Höhe des Berges stand das Miezchen neben seinem Schlitten, schrie aus Leibeskräften und weinte. Atemlos stürzte Otto heran und rief: »Was hast du? Was hast du?«
»Er hat mich – er hat mich – er hat mich«, stieß Miezchen schluchzend hervor und kam nicht weiter vor Aufregung.
»Was hat er? Wer denn? Wo? Wer?« rief Otto.
»Der Mann dort, der Mann, er hat mich – er hat mich totschlagen wollen und hat mir – und hat mir – furchtbare Worte nachgerufen.« So viel kam endlich heraus unter immer neuem Geschrei.
»So sei doch nur still jetzt, Miezchen, tu doch nicht so. Er hat dich ja doch nicht totgeschlagen. Hat er dich denn wirklich geschlagen?« fragte Otto ganz zahm, denn er hatte Angst.
»Nein. Aber er wollte, mit einem Stecken – so hat er ihn gehoben und gesagt: ›Wart du!‹ Und ganz furchtbare Worte hat er mir nachgerufen.«
»So hat er dir eigentlich gar nichts getan«, sagte Otto und atmete beruhigt auf.
»Aber er hat ja – er hat ja – und ihr wart alle schon weit fort, und ich war ganz allein.« Und vor Mitleid mit sich selbst brach Miezchen noch einmal in lautes Weinen aus.
»Bscht! Bscht!« beschwichtigte Otto. »Sei doch still jetzt, ich gehe nun nicht mehr von dir weg, und der Mann kommt nicht mehr. Und wenn du nun gleich ganz still sein willst, so gebe ich dir den roten Zuckerhahn vom Christbaum.«
Das wirkte. Mit einemmal trocknete Miezchen seine Tränen und gab keinen Laut mehr von sich. Denn den großen roten Zuckerhahn vom Christbaum zu bekommen, war Miezchens allergrößter Wunsch gewesen. Er war aber bei der Teilung auf Ottos Teil gefallen, und Miezchen hatte den Verlust nie verschmerzen können. Wie nun alles in Ordnung war und die Kinder den Berg hinaufstiegen, wurde besprochen, was es für ein Mann gewesen sein könne, der das Miezchen habe totschlagen wollen.
»Ach was, totschlagen«, rief Otto dazwischen. »Ich habe schon lange gemerkt, wer es war. Wir haben ja im Herunterfahren den großen Mann mit dem dicken Stock auch angetroffen, er mußte unseren Schlitten ausweichen, in den Schnee hinein. Das machte ihn böse, und als er dann hintennach das Miezi allein antraf, hat er es ein wenig erschreckt und seinen Zorn an ihm ausgelassen.«
Diese Erklärung fand allgemeine Zustimmung. Das war ja so natürlich, daß jedes meinte, es sei ihm selber so in den Sinn gekommen. So wurde die Sache vergessen und lustig drauflos gerodelt. Endlich aber mußte auch dieses Vergnügen ein Ende nehmen, denn es hatte längst acht Uhr geschlagen, die Zeit, da aufgebrochen werden sollte.
Auf dem Heimweg schärfte der Otto dem Miezchen ein, zuhause nichts zu erzählen von dem Vorfall, sonst könnte die Mutter Angst bekommen. Und dann dürften sie nie mehr im Mondschein Schlitten fahren. Den Zuckerhahn würde Miezchen gleich bekommen, aber es müsse versprechen, nichts zu erzählen.
Miezchen versprach hoch und heilig, kein Wort zu sagen. Die Spuren seiner Tränen waren auch längst verschwunden und konnten nichts mehr verraten.
Längst schon schliefen Otto und Miezchen auf ihren Kissen, und der rote Zuckerhahn spazierte durch Miezchens Träume und erfüllte sein Herz mit einer so großen Freude, daß es im Schlaf lächelte. Da klopfte es unten an die Haustür, so laut, daß der Oberst und seine Frau vom Tisch auffuhren, an dem sie eben gemütlich gesessen und sich über ihre Kinder unterhalten hatten. Und die alte Trine rief in strafendem Ton zum Fenster hinaus: »Was ist das für eine Manier!«
»Es ist ein großes Unglück geschehen«, tönte es von unten herauf. »Der Herr Oberst soll doch herunterkommen, sie haben den Schreiner Andres tot gefunden.«
Damit lief der Bote wieder davon. Der Oberst und seine Frau hatten genug gehört, denn auch sie waren zum offenen Fenster gegangen. Augenblicklich warf der Oberst seinen Mantel um und lief zum Haus des Schreiners. Als er in die Stube trat, fand er schon eine Menge Leute da. Man hatte den Friedensrichter und Gemeindeamtmann geholt, und eine Schar Neugieriger und Teilnehmender war mit ihnen gekommen. Andres lag am Boden in einer Blutlache und gab kein Lebenszeichen von sich. Der Oberst trat näher.
»Ist denn jemand zum Doktor gelaufen?« fragte er.
Es war niemand dorthin gegangen. Da sei ja doch nichts mehr zu machen, meinten die Leute.
»Lauf, was du kannst, zum Doktor«, befahl der Oberst einem Burschen. »Sag ihm, ich lasse ihn bitten, er soll auf der Stelle kommen.« Dann half er selbst den Andres vom Boden aufheben und in die Kammer hinein auf sein Bett legen. Erst jetzt trat der Oberst an die schwatzenden Leute heran, um zu hören, wie der Vorfall sich zugetragen hatte, ob jemand etwas Näheres wisse.
Der Müllerssohn trat vor und erzählte, er sei vor einer halben Stunde vorbeigekommen, und da er noch Licht gesehen habe in des Schreiners Stube, habe er im Vorbeigehen schnell fragen wollen, ob seine Aussteuersachen auch rechtzeitig fertig werden. Er habe die Tür der Stube offen stehend, den Andres tot im Blut liegend am Boden gefunden. Der Matten-Joggi, der dabeistand, habe ihm lachend ein Goldstück entgegengestreckt, als er hereingetreten sei. Er habe dann den Leuten zugerufen, daß der Gemeindeamtmann kommen solle.
Der Matten-Joggi, der so hieß, weil er unten in der ›Matte‹, im Tal wohnte, war ein schwachsinniger Mensch, der davon lebte, daß ihn die Bauern mithelfen ließen. Er schleppte Steine und Sand, las Obst auf oder machte im Winter Holzbündelchen. Daß er Böses getan hätte, hatte man bis jetzt nicht gehört. Der Müllerssohn hatte ihm gesagt, er solle da bleiben, bis auch der Präsident noch da sein werde. So stand Joggi noch immer in einer Ecke, hielt seine Hand fest zugeklemmt und lachte halblaut.
Jetzt trat der Doktor in die Stube und hinter ihm her auch noch der Präsident. Der Gemeindevorstand stellte sich nun mitten ins Zimmer und verhörte die Leute. Der Doktor ging sofort in die Kammer hinein, und der Oberst folgte ihm. Der Doktor untersuchte genau den unbeweglichen Körper.
»Da haben wir's«, rief er plötzlich aus, »hier auf den Hinterkopf ist Andres geschlagen worden, da ist eine große Wunde.«
»Aber er ist doch nicht tot, Doktor, was sagst du?«
»Nein, er atmet ganz leise, aber er ist böse dran.«
Nun brauchte der Doktor Wasser und Schwämme und Weißzeug und noch vieles. Die Leute draußen liefen alle durcheinander und suchten und rissen alles von der Wand und aus dem Küchenkasten und brachten Haufen von Sachen in die Kammer hinein, aber nichts von dem, das der Doktor brauchte.
»Da muß eine Frau her, die Verstand hat und weiß, was ein Kranker nötig hat«, rief der Doktor ungeduldig. Alle schrien durcheinander. Aber wenn einer eine wußte, so rief ein anderer: »Die kann nicht kommen.«
»Einer soll auf den Hang laufen«, befahl der Oberst. »Meine Frau soll mir die Trine herunterschicken!« Sofort lief ein Mann davon,
»Deine Frau wird dir aber nicht danken«, sagte der Doktor, »denn ich lasse die Pflegerin drei bis vier Tage und Nächte nicht vom Bett weg.«
»Keine Sorge«, entgegnete der Oberst, »für den Andres gäbe meine Frau alles her, nicht nur die alte Trine.«
Keuchend und beladen kam die Trine an, viel schneller, als man hatte hoffen können. Denn sie stand schon lange mit einem großen Korb am Arm bereit, und die Frau Oberst stand neben ihr und lauschte, ob einer gelaufen komme. Sie hatte nicht annehmen können, daß der Andres wirklich tot sei, und hatte überlegt, was man brauchen könnte, um ihm wieder auf die Beine zu helfen. So hatte sie Schwamm und Verbandzeug, Wein und Öl und warme Flanelle in einen Korb gepackt, und Trine mußte nur hinunterlaufen, als der Bote kam. Der Doktor war sehr zufrieden.
»Alles fort jetzt, gute Nacht, Oberst, und mach, daß die ganze Bande zum Haus hinauskommt!« rief er und. schloß die Tür zu, nachdem der Oberst hinausgetreten war. Der Gemeinderat war noch am Beratschlagen. Da aber der Oberst erklärte, nun müsse alles das Haus verlassen, faßten die Männer den Beschluß, vorläufig müsse der Joggi eingesperrt werden. Dann wollte man weitersehen.
Also mußten zwei Männer den Joggi in die Mitte nehmen, damit er nicht davonlief, und ihn so zum Armenhaus bringen und in eine Kammer sperren. Der Joggi ging aber ganz willig davon und lachte, und von Zeit zu Zeit guckte er vergnügt in seine Faust hinein.
Gleich am anderen Morgen ging die Frau Oberst voller Sorge zum Häuschen des Andres hinunter. Trine kam leise aus der Kammer und brachte die frohe Nachricht, Andres sei gegen Morgen schon ein wenig zum Bewußtsein gekommen. Auch der Doktor sei schon dagewesen und habe den Kranken über Erwarten gut angetroffen. Ihr aber habe er eingeschärft, daß sie keinen Menschen in die Kammer hineinlasse, Andres dürfe auch noch kein Wort reden, wenn er auch wollte, nicht. Nur der Doktor und die Wärterin sollen vor seine Augen kommen, erklärte die Trine in großem Amtseifer. Damit war die Frau Oberst einverstanden, und erfreut kehrte sie mit ihren Nachrichten nach Hause zurück.
So vergingen acht Tage. Jeden Morgen ging die Frau Oberst zum Haus des Kranken, um genau Bericht zu bekommen und zu hören, ob etwas fehle, das dann schnell herbeigeschafft werden mußte. Otto und Miezchen mußten jeden Tag aufs neue besänftigt werden, daß sie ihren kranken Freund noch nicht besuchen durften. Aber da war immer noch keine Erlaubnis vom Doktor. Die Trine war noch unentbehrlich, wurde auch täglich vom Doktor gelobt für ihre sorgfältige Pflege.
Nach Ablauf der acht Tage schlug der Doktor seinem Freund, dem Oberst, vor, nun einmal den Kranken zu besuchen, zu der Zeit, da er selbst dort sein würde. Denn jetzt war der Augenblick gekommen, da Andres wieder reden durfte. Und der Doktor wollte ihn in Gegenwart des Obersten darüber befragen, was er selbst von dem unglücklichen Vorfall wisse.
Andres freute sich, als er dem Herrn Oberst die Hand drücken durfte. Er hatte ja schon lange bemerkt, woher ihm alles Gute und alle Sorgfalt für seine Genesung kam. Dann besann er sich, so gut er konnte, um die Fragen der beiden Herren zu beantworten. Er wußte aber nur folgendes zu sagen: Er hatte seine Summe beisammen, die er jährlich dem Herrn Oberst zur Verwahrung brachte. Diese wollte er noch einmal überzählen, um seiner Sache sicher zu sein. Er hatte sich am späteren Abend hingesetzt, den Rücken gegen die Fenster und die Tür gekehrt. Mitten im Zählen hörte er jemanden hereinkommen. Ehe er aber aufgeschaut hatte, fiel ein furchtbarer Schlag auf seinen Kopf. Von da an wußte er nichts mehr.
Also hatte Andres Geld auf dem Tisch liegen gehabt. Davon war aber gar nichts mehr gesehen worden, nur das einzige Stück in Joggis Hand. Wo könnte denn das andere Geld hingekommen sein, wenn wirklich Joggi der Übeltäter war? Als Andres vernahm, wie der Joggi gefunden worden und nun eingesperrt sei, wurde er ganz unruhig.
»Sie sollen ihn doch gehen lassen, den armen Joggi«, sagte er. »Der tut ja keinem Kind etwas zuleide, der hat mich nicht geschlagen.«
Andres hatte aber auch gegen keinen anderen Menschen den leisesten Verdacht. Er habe keine Feinde, sagte er, und kenne keinen Menschen, der ihm so etwas hätte antun wollen.
»Es kann auch ein Fremder gewesen sein«, bemerkte der Doktor, der die niedrigen Fenster ansah. »Wenn Sie da beim hellen Licht Geld auf dem Tisch liegen haben und zählen, so kann das von außen jeder sehen und Lust zum Teilen bekommen.«
»Ich habe nie an so etwas gedacht, es war immer alles offen,« sagte der Andres gelassen.
»Es ist gut, daß Sie noch etwas im Trockenen haben, Andres«, bemerkte der Oberst. »Lassen Sie sich das nicht zu Herzen gehen. Das wichtigste ist, daß Sie wieder gesund werden.«
»Gewiß, Herr Oberst«, erwiderte Andres und schüttelte ihm die Hand. »Ich habe nur zu danken. Der liebe Gott hat mir ja sonst schon viel mehr gegeben, als ich brauche.«
Die Herren verließen den friedlichen Andres, und vor der Tür sagte der Doktor: »Dem ist wohler als dem anderen, der ihn zusammenschlagen wollte.«
Vom Joggi wurde eine traurige Geschichte erzählt, die alle Buben in der Schule beschäftigte und in große Teilnahme versetzte. Auch Otto brachte sie nach Hause und mußte sie jeden Tag ein paarmal wiederholen, denn jedesmal, wenn er daran dachte, machte sie ihm aufs neue großen Eindruck.
Als man den Joggi an dem Abend lachend ins Armenhaus gebracht hatte, da war er aufgefordert worden, sein Goldstück an einen seiner Führer abzugeben, den Sohn des Friedensrichters. Joggi aber klemmte seine Faust noch besser zusammen und wollte nichts hergeben. Aber die beiden waren stärker als er. Sie rissen ihm mit Gewalt die Faust auf. Und der Friedensrichterssohn, der von dem Joggi manchen Kratzer während der Arbeit erhalten hatte, sagte, als er das Goldstück endlich in der Hand hielt: »So, jetzt wart nur, Joggi, du wirst schon deinen Lohn bekommen. Wart nur, bis sie kommen, sie werden dir's dann schon zeigen.«
Da hatte der Joggi angefangen furchtbar zu schreien und zu jammern, denn er glaubte, er werde geköpft. Und seither aß er nicht und trank nicht und stöhnte und jammerte fortwährend, denn die Furcht und Angst vor dem Köpfen verfolgte ihn ständig. Schon zweimal waren der Präsident und der Gemeindeamtmann bei ihm gewesen und hatten ihm gesagt, er soll nur alles sagen, was er getan habe, er werde nicht geköpft.
Er wußte nichts zu sagen, als daß er beim Andres ins Fenster geschaut habe, und der sei am Boden gelegen. Er sei zu ihm hineingegangen und habe ihn ein wenig gestoßen, da sei er tot gewesen. Da habe er etwas glänzen gesehen in einer Ecke und habe es geholt, und dann sei der Müllerssohn gekommen und dann noch viele. Hatte der Joggi so viel erzählt, so fing er wieder zu stöhnen an und hörte nicht mehr auf.