Johanna Spyri
Wie Wiselis Weg gefunden wird
Johanna Spyri

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4. Kapitel.
Beim Onkel

Als das Wiseli mit dem Onkel in das Haus am Buchenrain trat, da kamen die drei Buben aus der Scheune gestürzt und liefen hinter den beiden her in die Stube. Alle drei starrten das Wiseli an. Aus der Küche kam die Tante herein und schaute das Wiseli ebenfalls an, als wenn sie es noch nie gesehen hätte.

Der Onkel setzte sich hinter den Tisch und sagte: »Ich meine, man könnte etwas essen. Das Kleine hat, denke ich, heute noch wenig gehabt. Komm, setz dich«, sagte er, zu Wiseli gewandt, das immer noch auf demselben Fleck stand, sein Bündelchen in der Hand. Es gehorchte. Jetzt holte die Tante Most und Käse und legte das große Schwarzbrot auf den Tisch. Der Onkel schnitt ein tüchtiges Stück ab und legte eine Scheibe Käse darauf, dann schob er es vor das Kind hin. »Da, iß, Kleines, du wirst Hunger haben.«

»Nein, ich danke«, sagte Wiseli leise. Es hätte keinen Bissen hinunterschlucken können, denn Leid und Angst und Weh schnürten ihm so den Hals zu, daß es kaum atmen konnte.

Die Buben standen immer noch da und starrten es an. »Mußt dich nicht fürchten«, sagte der Onkel ermunternd, »iß nur zu.« Aber das Wiseli saß unbeweglich da und rührte sein Brot nicht an. Die Tante war bis jetzt auch stehengeblieben und hatte das Kind angeschaut von oben bis unten, mit beiden Armen in die Seite gestemmt. »Wenn's dir nicht recht ist, so kannst du's bleiben lassen«, sagte sie nun, drehte sich um und ging wieder in die Küche.

Als der Onkel sich gestärkt hatte, stand er auf und sagte: »Nimm's in die Tasche, nachher hast du sicher Hunger. Mußt dich nur nicht fürchten.« Damit ging er auch in die Küche hinaus. Wiseli wollte gehorchen und das Käsebrot in die Tasche stecken, aber diese war viel zu klein. Es legte das Brot wieder auf den Tisch.

»Ich will dir schon helfen«, sagte Chäppi, schnappte das Brot vom Tisch weg und wollte abbeißen. Es flog aber in die Luft, denn der Hans hatte von unten herauf Chäppis Hand einen tüchtigen Stoß gegeben, damit ihm die Beute entfalle und er sie erwische. In dem Augenblick aber huschte der Rudi schnell auf den Boden und haschte den Fang weg. Jetzt stürzten die beiden Größeren auf ihn, und einer fiel über den anderen her. Und nun gab es ein Schlagen und Raufen und Lärmen und Heulen, daß es dem Wiseli angst und bange wurde.

Der Vater öffnete wieder die Küchentür und rief: »Was ist los?«

Da schrien die drei Buben am Boden alle durcheinander.

»Das Wiseli wollte nichts«

»Das Wiseli hatte keinen Hunger!«

»Weil das Wiseli keins wollte!«

Da rief der Vater noch lauter: »Wenn das nicht aufhört da drinnen, so will ich mit dem Lederriemen kommen!« Dann schlug er die Tür wieder zu. Das ›da drinnen‹ hörte aber noch nicht auf, sondern als die Tür zu war, ging's erst recht los. Denn der Hans hatte entdeckt, daß es das wirksamste Mittel sei, den Feind zu erschrecken, ihm in die Haare zu fahren, was die anderen sogleich auch begriffen. Und so rissen sie nun alle drei jeder mit beiden Händen an den Haaren eines anderen und schrien dazu fürchterlich.

In der Küche saß die Tante auf einem Schemel und schälte Kartoffeln. Als ihr Mann die Stubentür wieder geschlossen hatte, fragte sie: »Was hast du mit dem Kind vor? Warum hast du es gleich mit heimgenommen?«

»Es wird, denke ich, bei jemandem sein müssen. Ich bin der Patenonkel und andere Verwandte hat es keine mehr. Und du kannst es ja schon brauchen. Das Wiseli kann dir im Haushalt helfen. Du sagst ja immer, die Buben machen dir viel Arbeit.«

»Das wird eine schöne Hilfe sein. Du kannst ja hören, wie es zugeht drinnen in der ersten Viertelstunde schon, daß es da ist.«

»Das habe ich schon manchmal gehört, schon bevor das Kleine da war. Es hat, denke ich, nicht viel damit zu tun«, sagte der Onkel ruhig.

»So«, entgegnete die Tante eifrig, »hast du denn nicht gehört, daß sie alle miteinander etwas von dem Wiseli riefen?«

»Sie schreien doch immer«, meinte der Onkel. »Mit der Kleinen wirst du, denke ich, noch fertig werden. Sie ist kein bösartiges Kind, das habe ich schon gemerkt. Sie kann auch folgen, besser als die Buben.«

Das war der Tante fast zu viel. »Ich meine, es sei nicht nötig, daß man es jetzt schon gegen die Buben aufhetzt«, sagte sie und riß die Häute immer schneller von den Kartoffeln. »Und dann möchte ich nur wissen, wo das Kind schlafen soll.«

Der Onkel schob ein paarmal die Kappe auf seinem Kopf hin und her, dann sagte er ruhig: »Man kann nicht alles an einem Tag machen. Es wird wohl bis jetzt in einem Bett geschlafen haben, denke ich, und das wird es wieder bekommen. Morgen will ich dann zum Pfarrer gehen. Heute kann es auf der Ofenbank schlafen, da ist's ja warm. Dann kann man einen Vorschlag machen, wo es in unsere Kammer hineingeht. Da kann man sein Bett hineinschieben.«

»Ich habe mein Lebtag nie gehört, daß man zuerst das Kind bringt und dann acht Tage nachher das Bett, das dazu gehört. Und dann möchte ich auch wissen, wer das bezahlen muß, wenn man noch bauen soll, um des Kindes willen.«

»Wenn uns die Gemeinde das Kleine zuerkennt, so muß sie uns auch etwas für den Unterhalt geben«, erklärte der Onkel. »Ich nehme es dann noch immer billiger an, als ein anderer es tun würde. Es fühlt sich auch am wohlsten bei uns.«

Mit dieser Überzeugung ging der Onkel in den Stall hinaus und rief noch zurück, der Chäppi soll ihm nachkommen. Es war schwierig für die Tante, sich Gehör zu verschaffen drinnen in der Stube, als sie den Auftrag ausrichten wollte. Da rauften und schrien die drei noch immer. »Es wundert mich nur, daß du so zusiehst und kein Wort zum Frieden sagst.« rief die Tante dem Wiseli zu, das sich scheu an die Wand drückte und sich kaum zu rühren wagte.

Nun wurde der Chäppi in den Stall geschickt, und die beiden anderen liefen ihm nach. »Kannst du stricken?« fragte dann die Tante das Wiseli. Es sagte schüchtern ja, Strümpfe könne es stricken. »So nimm die«, sagte die Tante und nahm aus dem Schrank einen großen braunen Strumpf heraus mit einem Garn, fast so dick wie Wiselis Finger. »Du bist am Fuß, gib acht, daß er nicht zu kurz wird, er ist für den Onkel.«

Nun ging sie wieder in die Küche, und Wiseli setzte sich auf die Ofenbank und mußte den langen Strumpf auf seinem Schoß zusammenhalten. Der war so schwer, daß er ihm ganz die Hände herunterzog, wenn er hing, so daß es die Nadeln nicht führen konnte. Es hatte aber kaum recht angefangen mit seiner Arbeit, als die Tante wieder hereinkam. »Du kannst jetzt herauskommen in die Küche«, sagte sie. »Du kannst sehen, wie ich alles mache, so kannst du mir an die Hand gehen nach und nach.«

Wiseli gehorchte und sah draußen der Tante zu, soviel es konnte. Aber immer schossen ihm wieder die Tränen in die Augen, und dann sah es nichts mehr. Denn es mußte denken, wie es gewesen war, wenn es der Mutter nachlief in die Küche, und wie sie mit ihm redete und es immer wieder streichelte. Es fühlte aber, daß es nicht weinen dürfe, und schluckte und schluckte, daß es fast meinte, es werde erwürgt. Die Tante sagte ein paarmal: »Gib acht! So weißt du's nachher.«

So ging es eine gute Zeitlang, dann hörte man ein lautes Gestampfe auf dem Hausgang. »Mach schnell die Tür auf, sie kommen«, sagte die Tante. Denn der Lärm kam vom Onkel und den Buben her, die draußen den Schnee von den Schuhen stampften. Wiseli machte die Tür zu Stube auf, und die Tante hob eine große Pfanne vom Feuer und lief damit in die Stube hinein, wo sie den ganzen Haufen gebratener Kartoffeln auf den Schiefertafeltisch schüttete. Dann rannte sie zurück, brachte ein großes Becken voll saurer Milch herein und sagte: »Leg auf den Tisch, was in der Schublade liegt, so können sie essen.«

Wiseli zog schnell die Schublade auf, da lagen fünf Löffel und fünf Messer, die legte es hin, und nun war der Abendtisch fertig. Der Onkel und die Buben waren hereingekommen und saßen gleich auf den Bänken am Tisch den Fenstern entlang. Unten am Tisch stand ein Stuhl, darauf hin wies nun der Onkel und sagte: »Es kann, denke ich, dort sitzen, oder nicht?«

»Freilich«, sagte die Tante, die auch einen Stuhl für sich bereit hatte, auf der Seite gegen die Küche zu. Sie saß aber nur eine Sekunde darauf still, dann lief sie wieder in die Küche, kam zurück und setzte sich geschwind wieder zu einem Löffel voll Milch nieder. Dann lief sie von neuem hinaus. Es wußte niemand, warum das so sein mußte, denn das Kochen war ja beendet. Aber es war immer so, und wenn der Onkel einmal sagte: »Sitz doch und iß einmal«, so kam sie erst recht in Eile und sagte, sie habe nicht Zeit, so lange zu sitzen, und draußen werde wohl jemand nachsehen müssen. Als sie jetzt zum zweitenmal hereingeschossen kam und eilig eine Kartoffel schälte, fiel ihr Wiselis Untätigkeit auf, das neben ihr saß, die Hände in den Schoß gelegt. »Warum ißt du nicht?« fuhr sie es an.

»Es hat keinen Löffel«, sagte Rudi, der auf der anderen Seite neben ihm saß und schon lange den Grund herausgefunden hatte, warum jemand an einem Tisch sitzen kann, ohne zu essen, solange noch etwas da ist.

»Ja so«, sagte die Tante. »Wem wäre es aber auch in den Sinn gekommen, daß man auf einmal sechs Löffel haben muß? Man brauchte ja immer nur fünf, und ein Messer wird auch sein müssen. Warum kannst du aber auch nichts sagen? Du wirst wohl wissen, daß man zum Essen einen Löffel braucht.« Diese Worte waren an das Wiseli gerichtet.

Es schaute die Tante scheu an und sagte leise: »Es ist gleich, ich brauche keinen, ich habe keinen Hunger.«

»Warum nicht?« fragte die Tante. »Bist du's anders gewöhnt? Ich habe nicht im Sinn, was zu ändern.«

»Es ist wohl besser, wenn man das Kleine zuerst ein wenig in Ruhe läßt. Man muß ihm keine Angst machen«, sagte der Onkel beschwichtigend. »Es wird schon besser werden.«

Nun ließ man das Wiseli in Ruhe, die anderen aßen weiter. Das Kind saß unbeweglich dabei, bis endlich der Vater aufstand, noch einmal die Pelzkappe vom Nagel nahm und nach der Stallaterne suchte, denn der Fleck sei krank geworden, da mußte er noch einmal hinaus. Der Tisch war schnell wieder in Ordnung. Die Kartoffelschalen wurden mit den Händen in das leere Milchbecken heruntergewischt, dann die Schiefertafel abgewaschen, und als die Tante damit fertig war, sagte sie zu Wiseli: »Du hast gesehen, wie ich's mache, das kannst du von nun an tun.«

Jetzt setzte sich der Chäppi wieder hinter den Tisch. Er hatte seinen Griffel und sein Rechenbuch geholt und machte Anstalten, seine Rechnungsaufgaben vor sich auf den Tisch zu schreiben. Erst starrte er aber eine Weile auf das Wiseli hin, das seinen braunen Strumpf wieder vorgenommen hatte, aber sehr hilflos dasaß, denn es konnte keine Masche sehen in seinem Winkel. Und sich an den Tisch zu setzen, auf dem die trübe Öllampe stand, wagte es nicht.

»Du wirst auch etwas tun können«, rief auf einmal Chäppi erbost zu ihm hinüber, »du bist nicht das Geschickteste in der Schule.«

Wiseli wußte nicht, was es sagen sollte, es war ja gar nicht in der Schule gewesen heute und es wußte nicht, was zu tun war. Es war ja überhaupt ganz aus aller Ordnung und Fassung. »Wenn ich rechnen muß, so mußt du auch, oder dann tu ich's auch nicht«, rief der Chäppi wieder. Wiseli hielt sich mäuschenstill. »So, dann ist's recht«, fuhr Chäppi lärmend fort, »so tu ich keinen Strich mehr an der Arbeit.« Damit warf er seinen Griffel weg.

»So, so, dann tu ich auch nichts«, rief der Hans aus und steckte ganz erleichtert sein Einmaleins wieder in den Schulsack, denn das Lernen war ihm das Bitterste, das er kannte.

»Ich will es schon dem Lehrer sagen, wer an allem schuld ist«, fing Chäppi wieder an, »du kannst dann nur sehen, wie es dir geht.« So hätte Chäppi wohl noch eine Zeitlang seinem bösen Wesen Luft gemacht, wenn nicht der Vater schon aus dem Stall zurückgekommen wäre. Er trug zwei große, leere Futtersäcke auf der Schulter herein und kam damit auf den Tisch zu.

»Mach Platz«, sagte er zu Chäppi, der beide Ellbogen auf den Tisch gestemmt hielt und den Kopf in die Hände stützte. Dann breitete er die Säcke aus, faltete sie zusammen, noch einmal und noch einmal. Danach ging er zur Ofenbank und legte das Paket darauf hin. »So«, sagte er befriedigt, »das ist gut. Und wo hast du dein Bündelchen, Kleines?«

Wiseli holte es aus einer Ecke hervor, wo es bis jetzt gelegen hatte, und schaute mit Erstaunen zu, wie der Onkel das Bündelchen am oberen Ende des Pakets auf die Ofenbank hin drückte, daß es nicht so ganz kugelrund bleibe.

»So, da kannst du schlafen«, sagte er nun zu Wiseli. »Frieren mußt du nicht, der Ofen ist heiß, und auf das Bündelchen kannst du den Kopf legen. So liegst du wie im Bett. Und mit euch dreien ist's auch Zeit. Rasch ins Bett!« Damit nahm er die Öllampe vom Tisch und ging zur Küche, die drei Buben stampften hinter ihm her. Bei der Tür wandte er sich noch einmal um und sagte: »Schlaf gut. Mußt nicht mehr nachdenken heute, denn es kommt dann schon besser.«

Dann ging er hinaus. Nun kam die Tante noch einmal herein mit einem Öllämpchen in der Hand und betrachtete das Lager. »Kannst du liegen da?« fragte sie. »Du hast es ja warm hier am Ofen, manches hat kein Bett und muß dazu erst noch frieren. Es kann dir auch noch so gehen, sei du nur froh, daß du einstweilen unter einem guten Dach bist. Gute Nacht!«

»Gute Nacht!« sagte Wiseli leise. Die Tante hatte es aber jedenfalls nicht gehört, denn sie war schon halb draußen, als sie gute Nacht wünschte, und hatte die Tür gleich hinter sich zugemacht. Jetzt saß Wiseli da in der dunklen Stube, alles war auf einmal ganz still ringsum, es hörte keinen Ton mehr. Der Mond schien ein wenig durch das eine Fenster herein, so daß Wiseli wieder erkennen konnte, wo die Ofenbank war, worauf es schlafen sollte. Es ging nun gleich hin und setzte sich auf sein Lager.

Zum erstenmal heute, seit es die Mutter verlassen hatte, war es nun allein und konnte sich besinnen. Die ganze Zeit bis jetzt war es in einer steten Spannung gewesen, denn alles hatte ihm Angst und Furcht eingeflößt, was es gesehen und gehört hatte, seit es von der Mutter weg war. Und noch hatte es gar nicht weiter gedacht, nur von einem Augenblick auf den anderen sich gefürchtet. Nun saß es da, zum erstenmal in seinem Leben ohne die Mutter, und ganz klar und deutlich kam ihm nun der Gedanke, daß es sie nie mehr sehen werde, daß es nie mehr mit ihr reden und sie hören könnte. Jetzt kam auf einmal ein solches Gefühl der Verlassenheit über das Wiseli, daß es ihm gerade vorkam, als sei es mutterseelenallein und verloren auf der Welt und gar kein Mensch kümmere sich mehr um es, und so müsse es nun ganz allein und im Dunkeln bleiben und umkommen.

Und über das Wiseli kam ein solches Elend, daß es den Kopf auf sein Bündelchen drückte, ganz bitterlich zu weinen anfing und trostlos sagte: »Mutter, kannst du mich nicht hören? Mutter, hörst du mich nicht?«

Aber die Mutter hatte dem Wiseli oft gesagt, wenn es einem Menschen schlimm gehe und er leiden müsse, dann sei er froh, daß er zum lieben Gott im Himmel schreien könne. Der höre ihn immer an und wolle ihm gern helfen, wenn gar keine Menschen ihm mehr zuhören wollen oder helfen können. Das kam dem Wiseli in den Sinn, und es richtete sich wieder auf und stieß schluchzend hervor: »Ach, lieber Gott im Himmel, hilf mir auch. Es ist mir so angst, und die Mutter hört mich nicht mehr!« Und so betete es zwei- oder dreimal, und dann wurde es ein wenig stiller und ruhiger. Es fühlte sich getröstet, da doch der liebe Gott im Himmel noch da war, zu dem es eben gerufen hatte. So war es doch nicht ganz, ganz allein.

Jetzt erinnerte es sich auch an die Worte, die ihm die Mutter ganz zuletzt noch gesagt hatte: »Wenn du einmal keinen Weg mehr vor dir siehst und es dir ganz schwer wird...« So war es jetzt schon gekommen, und doch hatte es noch nicht gewußt, wie das kommen konnte, als die Mutter so sagte. Dann, hatte sie gesagt, solle es daran denken, wie es heiße in seinem Lied:

»Er wird auch Wege finden,
Wo dein Fuß gehen kann.«

Jetzt verstand auch Wiseli mit einemmal, was die Worte bedeuteten, die es vorher nur so hingesagt hatte, denn es hatte noch nie Angst gehabt. Aber jetzt war es ja geradeso, daß es gar keinen Weg mehr vor sich sah und dachte, mit ihm sei es ganz aus. Denn vor ihm stand gar nichts mehr als ein großer Schrecken vor jedem Augenblick im Haus des Onkels. Es kam aber jetzt ein rechter Trost in sein Herz, wie es wieder und wieder so sagte:

»Er wird auch Wege finden,
Wo dein Fuß gehen kann.«

So hatte Wiseli noch gar nie empfunden, was es sei, einen lieben Gott im Himmel zu haben, zu dem man rufen kann, wenn man sonst von niemanden mehr gehört wird. Nie bis jetzt hatte es gewußt, wie gut das tun kann. Es faltete jetzt ganz still seine Hände und fing sein Lied von vorn an, denn es wollte so gern noch etwas mehr vor dem lieben Gott sagen und zu ihm beten. Es sagte auch jedes Wort mit seinem ganzen Herzen, wie nie zuvor:

»Befiehl du deine Wege,
Und was dein Herze kränkt,
Der allertreusten Pflege
Des, der den Himmel lenkt.

Der Wolken, Luft und Winden
Gibt Wege, Lauf und Bahn,
Er wird auch Wege finden,
Wo dein Fuß gehen kann.«

Es war eine beruhigende Zuversicht ins Herz des Kindes gefallen. Nachdem es mit Vertrauen die letzten Worte noch einmal gesagt hatte, legte es seinen Kopf wieder auf das Bündelchen und schlief augenblicklich ein.

Jetzt träumte das Wiseli, es sehe einen schönen, weißen Weg vor sich, ganz trocken und hell von der Sonne beschienen, der ging zwischen lauter roten Nelken und Rosen durch und war so verlockend anzusehn, daß man gleich hätte darauf hüpfen und springen mögen. Und neben dem Wiseli stand seine Mutter und hielt es liebevoll bei der Hand, wie immer, und dabei zeigte sie auf den Weg hin und sagte: »Sieh, Wiseli, das ist dein Weg! Habe ich nicht zu dir gesagt:

›Er wird auch Wege finden,
Wo dein Fuß gehen kann‹?«

Und das Wiseli war sehr glücklich in seinem Traum, und auf seinem Bündelchen schlief es so gut, als läge es in einem weichen Bett.


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