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Am folgenden Vormittag traf Frau von Ramin in Schönermark ein und ganz überraschend auch Claus von Dahlwitz. Er hatte nur Zeit über Sonntag zu bleiben und fuhr mit Braut und Schwiegermutter nach Kerkow, um den kurzen Besuch dort mit ihnen zuzubringen. Auf allgemeines Bitten schloß sich auch Tante Claudine an.
Ernst Starkeband wartete an diesem Tage auf ein Wunder. Er erwartete, daß Edith ihrem Verlobten und der Familie erklären würde: ich verzichte lebenslänglich auf die Zugehörigkeit zu euch und alle Vorrechte, die damit verbunden sind. Ich nehme mein Claus von Dahlwitz gegebenes Wort zurück, weil ich damals noch nicht wußte, was Liebe sei. Heute weiß ich, daß ich Tantens Inspektor, den Sohn der Köchin, liebe, und nichts wird mich abhalten, ihm anzugehören, bis der Tod uns scheidet.
Er wartete mit einer solchen Gewißheit, daß er sich umkleidete und zurechtmachte, als er vom Felde kam, um für alles bereit zu sein. Doch er wartete vergebens.
Totenbleich, mit zusammengekrampften Händen stand er an seinem Fenster und sah den Landauer auffahren, der mit Ediths Gepäck und Handtaschen beladen wurde. Er sah die ganze Gesellschaft aus dem Hause kommen, wie es schien, in bester Stimmung. Die beiden alten Damen nahmen auf dem Vordersitz Platz, – ein Zittern ging durch seinen Körper – Claus hob lachend und sehr aufgeräumt Edith in den Wagen, er nahm neben ihr auf dem Rücksitz Platz, umgab sie mit zärtlichen Aufmerksamkeiten und war so ausgelassen übermütig, daß Tante Claudine ihm einen Schlag mit dem Sonnenschirm gab und Edith lachte. Sie lachte! – Und wie schön war sie, trotz des grauen Staubmantels mit dem Schleierhütchen, das die goldene Krone verdeckte!
Als der Landauer zum Hoftor hinausrollte, brach Ernst zusammen.
Mit einem dumpfen Kopfschmerz ging er am Feierabend zu Nettchen Echtermann. Seit Wochen zum erstenmal. Er traf sie nicht im Küstergarten, ihre Mutter sagte, sie sei zu Hause mit Arbeit überlastet. In ihrem Stübchen trat sie ihm freundlich entgegen, doch sie war sehr bleich und sehr ernst, mit umschatteten Augen. Und mehr denn je sprachen diese silbergrauen Augen von dem großen Leiden aller Kreatur.
Er war erst ein einziges Mal in ihrem kleinen Heim gewesen, sie trafen sich an freien Abenden sonst bei den Eltern. Das Stübchen hatte bei aller Einfachheit einen besonderen, traulichen Zauber durch Bücher und ein paar hübsche Bilder, geschickt angebrachte Decken, selbstgearbeitete Kissen, blühende Pflanzen und Sträuße in Vasen und Schalen. Der alte Liegestuhl aus dem Dachgarten grüßte Ernst als Bekannter, mit dem darübergebreiteten Ziegenfell. Am Fenster stand die Nähmaschine und rings umher Spuren von Arbeit.
»Nettchen, wenn du mich nicht haben willst, weise mich hinaus,« sagte Ernst und warf sich in den Korbstuhl an dem anderen Fenster.
»Ich werde dich nicht ausweisen, aber ich habe all diese Wochen gewußt, daß du auf unrechtem Wege bist,« war die ruhige Antwort. Ernst ahnte nicht, was diese Ruhe sie gekostet.
Vor ihm stehenbleibend, reichte sie ihm einen kleinen Brief, nach dem er mit zitternden Fingern griff. »Ich habe heute tagsüber bei Fräulein von Dahlwitz gearbeitet. Edith kam vor der Abfahrt zu mir, sie sagte mir sehr freundlich Lebewohl und gab mir diesen Brief für dich mit dem Bemerken, es handle sich um eine Bestellung von ihrem Bruder Horst an dich, die sie nicht mehr mündlich machen könne. Aber Edith kann schlecht lügen. Ich übernahm den Brief, doch ich werde nicht zum zweitenmal die Vermittlerin machen. Auf meine Einwendung, daß du den Brief schneller durch den Diener bekommen würdest, entgegnete sie sehr verlegen, es handle sich um eine kleine Überraschung für die Tante, von der diese nichts vorher erfahren dürfe.«
Ernst schob den Brief in seine Brusttasche, und Nettchen fuhr stehenbleibend fort:
»Überlegst du dir auch, was du tust, wenn du Edith auf den Weg der Lüge und des Betrugs bringst? Es kann euch beiden nur Unsegen daraus erstehen.«
»Glaubst du etwa, daß die Ehe mit diesem – diesem Fatzke ihr Segen bringen wird? Es wäre die beste Tat meines Lebens, wenn ich sie davor bewahren könnte, aber – sei unbesorgt – sie wird in ihr Verderben gehen,« rief Ernst mit heftiger Leidenschaft und tiefer Bitterkeit.
»Belüge dich doch nicht selbst, Ernst! Kennst du Edith so wenig um glauben zu können, daß du ihr mehr Segen brächtest, als Herr von Dahlwitz, der wohl nicht besser oder schlechter ist als der allgemeine Durchschnitt? Dein Urteil über ihn ist kaum maßgebend, denn du bist ihm gegenüber befangen. Edith ist durch und durch Aristokratin, sie besitzt den ganzen Hochmut ihrer Kaste und ist zur Herrin großen Stils geboren. Wenn ich nicht irre, war es gerade diese Eigenschaft, die dir so gut an ihr gefiel. Es ist ein Verbrechen, daß du ihre Zukunft zerstören willst und versuchst, sie dem Mann, der sich für sie eignet, abspenstig zu machen.«
Nettchen hatte heftig mit großem Nachdruck gesprochen, und Ernst wand sich schwergetroffen unter den bitteren Wahrheiten ihrer Anklage.
»Ich liebe sie!« kam es wie ein wildes Aufschluchzen aus seiner gequälten Seele. »Gestern – im Walde – ach, nur eine kleine halbe Stunde – waren wir allein – wir vergaßen alles, was zwischen uns stand – ich hielt sie einen seligen Augenblick lang in diesen meinen Armen und fühlte ihre Seele vom Scheintod zum Leben erwachen! – Und heute – heute fuhr sie mit dem anderen lachend vom Hofe! Großer, allbarmherziger Gott, das ertrage ich nicht – ich erschieße sie und ihn und mich! Ich werde vor sie hintreten und ihr zuschreien vor allen, ja vor allen, daß sie eine Dirne ist, wenn sie sich nicht zu mir bekennt!«
Nettchen zitterte am ganzen Körper. Sie packte ihn am Arm und schüttelte ihn. »Du bist wahnsinnig,« schrie sie ihn an, »du bist schlecht! Willst du ein so großes Unglück über zwei Familien bringen? Es ist genug an der einen Sünde, du wirst sie büßen müssen, Gott laßt sein nicht spotten! Ich habe bisher an deine Ehrenhaftigkeit geglaubt, aber ich sehe, ich täusche mich! Edith war reinen Herzens, sie war stolz, doch ehrlich, du hast sie zu Lug und Betrug verführt! Schäme dich, kennst du nicht Gottes Gebot: du sollst nicht begehren deines nächsten Weib?«
»Ach Nettchen, was weißt du brave, kleine Schulmeisterseele von der Liebe!«
Es war zu viel.
»Geh!« sagte sie, ganz ruhig und eiskalt werdend, indem sie befehlend mit der Hand nach der Tür wies. »Ich verachte deine Schwäche. Ein Mann, der zum Sklaven seiner Leidenschaft wird, ist kein rechter Mann. Du lohnst das Vertrauen schlecht, das dir Fräulein von Dahlwitz schenkt. Hast du das Ziel vergessen, das du dir gesteckt, die Verirrungen der Vergangenheit gut zu machen mit einem besseren Leben? Sollen die Leute von dir sagen: der Apfel fällt nicht weit vom Stamm?«
Ernst sprang heftig auf. Was war mit dem weichherzigen, duldsamen Nettchen vorgegangen, daß sie sich so veränderte?
»Leb wohl, ich sehe, es ist kein Verständnis mehr möglich, ich muß mit meinem eigenen Gewissen fertig werden,« rief er zornig und ging ohne weiteren Abschied zur Tür hinaus. Nettchen starrte ihm eine Weile unbeweglich nach, dann stürzte sie in ihre Schlafkammer und warf sich mit herzbrechendem Weinen über ihr Bett. Ja, sie hatte sich verändert, ihre Kinderseele war zur Reife erwacht, und die Schulung, die sie früh durchgemacht, wandelte sie zu einem in sich gefestigten, mutigen Weibe.
Bald war jeder Gedanke an sie in Ernst ausgelöscht, als er, in seine Behausung zurückgekehrt, Ediths Brief aus der Tasche nahm und las.
Er enthielt nur ein Wort:
»Nimmermehr.«
Weiter nichts, ohne Unterschrift. Damit mußte er sich nun abfinden.
Nachdem die ersten elementaren Stürme der Verzweiflung, des Zornes und Jammers bei ihm ausgetobt, zeigte sich die Wirkung von Nettchens Peitschenhieben. Im tiefsten Innern regte sich sein Gewissen, der Trotz erwachte. Er war zwar böse auf Nettchen, viel mehr und unbarmherziger als auf Edith, als habe sie seine Qualen verschuldet, doch unbewußt schämte er sich vor ihr. Sie hatte dennoch sein Ehrgefühl geweckt, und langsam tastete er sich auf Umwegen zurück zur Pflicht.
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm? Ha! Er wollte es ihr schon zeigen!
Als Fräulein von Dahlwitz von Kerkow heimkehrte, hatte er die äußere Haltung wiedergewonnen. Sie arbeiteten jetzt unter Hochdruck, der Brennereibau sollte vor Winter unter Dach und Fach, er ging seiner Vollendung entgegen, die Maschinen kamen an und wurden aufgestellt, die ersten Proben begannen. Auf dem Felde war eine Dampfdreschmaschine tätig, ein neuer Dampfpflug bereitete die Stoppeln zur Wintersaat. Schönermark war allen umliegenden Gütern mit der Bestellung vorauf. Tante Claudinens Verhältnis zu ihrem jungen Administrator wurde immer herzlicher, sie tat und unternahm nichts mehr ohne seinen Rat. Wenn sie unter sich waren, nannte sie ihn beim Vornamen, oft auch »lieber Junge«. Er rettete sie vor der Vereinsamung, und sie liebte ihn persönlich, mit einem Muttergefühl für den Sohn des verlorenen Geliebten. In ihrem Neffen Claus liebte sie nur die Familie, den Namen, auf den sie so stolz war, den sie um ihrer Väter willen heilig hielt. Es gab Momente – wenn ihr Auge Ernst folgte und ihr Blick weich wurde und zärtlich – wo sie bedauerte, ihn nicht adoptieren zu können. Schade! Die alte Scholle wäre bei ihm gut aufgehoben, besser als bei Claus. Er ist der Wertvollere, dachte sie bei sich. Doch sie unterdrückte diese Regungen wie ein Unrecht.
Zwischen Claus und Edith hatte es während des kurzen Zusammenseins in Kerkow einige Mißstimmungen gegeben. Sie wollte keine Zärtlichkeiten von seiner Seite, wie er sie liebte, dulden. Als er auf seinem vermeintlichen Recht bestand, widersetzte sie sich ernsthaft. Das habe Zeit bis nach der Hochzeit. Er mußte von neuem zu seinem Verdruß erfahren, wie völlig unabhängig sie von ihm sei. Es steigerte sein Begehren, jedoch blieb ihm nichts übrig, als sich zu fügen, sie ließ ihn fühlen, daß sie ihm nur mit einem lockeren Faden verbunden sei. Sein Scharfblick fand sie verändert, und gleich war sein sehr empfindliches Mißtrauen wach. Neulich sah es ganz anders aus, sie hatte sich williger und freundlicher gegeben – was war geschehen? Hatte sich ein anderer zwischen ihn und sie gestellt? – – Das Bild des jungen Administrators brannte sich wieder in sein Hirn – verflucht, – daß sie den Sommer lang dem täglichen Verkehr mit dem Proleten ausgesetzt gewesen, der sich Familienzugehörigkeit anmaßte, weil die Tante die altjüngferlichen Reste ihrer unausgelebten Gefühle an ihn verschwendete.
Mit viel Geschick wußte er Edith auszuhorchen. Zufällige Fragen, plötzliche Wendungen im Gespräch sollten sie dazu bringen, sich zu verraten. Und Edith, deren vornehme Natur sich ihres schlechten Gewissens unerträglich schämte, war herausfordernd ehrlich.
Ja, – allerdings – sie zog den alten Kameraden fast allen Standesgenossen vor! Er sei ihnen persönlich durchaus ebenbürtig.
»Dann würdest du ihn am Ende auch mir vorziehen?« hatte er mit schwer verhaltenem Ärger gefragt.
»Vielleicht,« war die lachende, maßlos hochmütige Antwort, »aber einen Inspektor heiratet man nicht.«
Mochte er sich damit abfinden, nun hatte sie wenigstens die Wahrheit gesagt, wenn er sie dennoch heiraten wollte, war das seine Sache.
Sie war so schön in ihrem kalten, selbstsicheren Stolz, daß er die Kränkung hinunterwürgte und erleichtert aufatmete über ihre Nichtachtung des »Inspektors«. Als er abreiste, hatte sie ihn völlig versklavt.