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XVI.

Tante Claudinens Krankheit war jetzt in den Zeitpunkt getreten, wo Leben und Tod auf des Messers Schneide stehen. Der Arzt erwartete die Krisis für die nächste Nacht. Es schien, daß alles im Hause den Atem anhielt, die Stille wurde noch lastender, der Druck, der auf jedem einzelnen lag, atembeklemmender. Nichts als Flüstern und Schleichen auf den Gängen und Treppen, zuweilen klang es wie verhaltenes Schluchzen und Seufzen, wo Frauen zusammenstanden, angstvoll tuschelten und auf jeden Laut aus dem Krankenzimmer horchten. Edith rührte sich nicht fort vom Krankenlager und blieb jeden Winks der Schwester gewärtig. Man hörte zweimal am Tage den Wagen des Arztes anrollen und wieder abfahren; dann ging die bange Frage: was hat er gesagt? durch das ganze Haus. Claus ließ sich jedesmal von ihm Bericht erstatten, er bekam den Bescheid, daß die Wendung zum Guten oder Schlimmen vor dem nächsten Morgen eintreffen müsse. Es sei jetzt weiter nichts zu machen als abwarten und auf die Selbsthilfe der Natur hoffen; er könne zwar nichts mit Sicherheit verbürgen, glaube aber Anzeichen zu haben, daß die Rettung nahe sei. Der Sanitätsrat wollte am frühen Morgen wiederkommen.

Am Abend konnte es Claus nicht länger aushalten, seine Nerven versagten. Er wurde vollkommen hysterisch und hatte einen Chok, als ihm der alte Wienert unerwartet aus dem Dunkel eines der großen Gemächer entgegentrat, denn seine überreizten Sinne täuschten ihm den in Grau zerfließenden Schatten des Todes vor. Wienert mußte ihn mit einem Kognak wieder auf die Beine bringen. Er hatte am Morgen einen Brief erhalten, der seine Nervenfolter ins Unerträgliche verschärfte. Irma, der schöne Gelbstern, Nachkommin erlauchter Ahnen, schrieb:

 

Mein Bester!

Ich muß bis heut in acht Tagen mit der ersten Post die bewußte Summe haben, sonst werde ich ausgepfändet. Und da ich auf die Sachen, die mir eigentlich gar nicht mehr gehören, Geld aufgenommen habe, ginge es mir dreckig. Wenn Du nicht zahlst, muß ich mich sofort an Deine Tante wenden, hier gibt es keinen Aufschub und keine Rücksicht, Not bricht Eisen. Ich hoffe, du hast ein Einsehen.

Deine Irma.

 

Da der Brief ohne orthographische Fehler geschrieben war, wußte Claus, daß er die Abschrift eines Diktats sei. Wahrscheinlich von einem Erpresser, der sie ausnutzte und ins Feuer trieb. Na, wartet nur, dachte er bei sich, vielleicht noch vierundzwanzig Stunden, dann bin ich Herr auf Schönermark und überliefere euch Gesindel der Polizei! Und wenn sie mich bei Edith denunzieren– die Sache würde kaum Erfolg haben. So wie ich meine Braut kennengelernt, ist sie viel zu klug und zu stolz, sich mit gemeinen Denunziationen zu befassen und sich die Gelegenheit, Frau von Dahlwitz auf Schönermark zu werden, zu verscherzen. Sie neigt wenig zu Sentimentalitäten.

Aber – wenn Tante Claudine wieder gesund würde? – – Ihm wurde heiß und kalt bei diesem Gedanken, und er war es, der ihn den ganzen Tag auf der Folter hielt. Er ertrug es nicht mehr, auch noch den Abend allein zu bleiben mit dieser Marter, in den unheimlich großen, schweigenden Räumen, in deren Kaminschloten der Herbststurm seltsam heulte und draußen mit den Fensterläden rasselte, als ob sämtliche verstorbene Dahlwitze, die mal hier gehaust, mit klapperndem Totengebein nächtliche Tänze und Gesänge aufführten, um das Familienglied, das auf dem Wege zu ihnen war, feierlich abzuholen. In dieser Notlage entschloß er sich, hinüber in das Beamtenhaus zu gehen, um Ernst einen Besuch abzustatten. Vielleicht war er für eine Partie Schach oder Salta zu haben. Und er wollte sich doch einmal des »Günstlings« Behausung ansehen; wer weiß, ob sich nicht auch dort Gelegenheit bieten würde, Schlüsse zu ziehen.

Nie vorher hatte er Ernst heimlich so grimmig gehaßt, als seitdem Edith lachend zugegeben, daß sie »ihn vielleicht« vorziehen würde, wenn er nicht Inspektor statt Erbe von Schönermark sei. Es war im Scherzton gesagt, doch mit herausfordernder Rücksichtslosigkeit, und sein Scharfsinn konnte sich nicht darüber täuschen, daß diesem Bekenntnis Wahrheit zugrunde läge. Und wenn seine Eitelkeit es auch nicht zugeben wollte und es standhaft leugnete – es gab da eine leise, ganz von fern kommende Stimme, die mit vernichtender Deutlichkeit flüsterte: er ist dir in allem überlegen, äußerlich und innerlich, bis auf die Geburtsvorrechte und die soziale Stellung, die hast du ihm voraus.

Leider ließ sich eine solche Stimme nicht erwürgen, und diese fürchterlichen Augenblicke des Selbstgerichts, die niemand erspart bleiben, wo die Seele sich plötzlich nackend sieht und auch die letzte, künstliche Hülle fällt, pflegten wie ein Dieb in der Nacht zu kommen und ihn aus tiefstem Schlaf zu rufen, so daß er dem Überfall nicht gewachsen war.

Als Claus jetzt bei Ernst Starkeband anklopfte und eintrat, fand er ihn in der Sofaecke, den Kopf in die Hand gestützt, mit einem sehr ernsten, bekümmerten Gesicht. Auf seine Bitte, den Abend bei ihm zubringen zu dürfen, wurde er mit höflichem Entgegenkommen aufgenommen.

»Sie haben es sich ja hier recht gemütlich gemacht,« bemerkte Claus, sich im Zimmer umsehend.

»Ja, dank der Fürsorge Ihrer Fräulein Tante und der Beihilfe meines Pflegevaters konnte ich mich behaglich einrichten. Das ist eine große Wohltat auf dem Dorf, wo man auf sein Heim angewiesen ist,« war die Antwort.

Das Zimmer zeigte sich offensichtlich mit Liebe hergerichtet. »Sehr viel mehr als das meine,« dachte Claus mit neidischer Bitterkeit, »für mich sind Logierzimmer gut genug.«

Er entbehrte bisher keinen Komfort in den Gemächern, die er jetzt innehatte, und sein Aufenthalt war auch nur ein Notbehelf, doch mußte zugegeben werden, daß Ernst sich liebevoller Aufmerksamkeiten erfreute, die bei Claus fehlten, trotzdem des letzteren Zimmer bedeutend eleganter und reicher in der Ausstattung waren. So stand z. B. ein schönes Bild von Tante Claudine, mit ihrer eigenhändigen Unterschrift, in einem geschmackvollen Rahmen auf einem bevorzugten Platz, an der Wand hingen Jagdszenen von Landheer, die Claus als Lieblinge seiner Tante kannte, neben einem prachtvollen Lenbachschen Bismarck und einem Goethekopf. Ein Pfeifenständer trug Tabakspfeifen aller Größen, und eine Ofenecke mit tiefem Ledersessel, Lesetischchen und Rauchutensilien konnte nur von Damenhand so einladend und behaglich hergerichtet sein. Ein großer Bücherschrank enthielt neben Fach- und wissenschaftlichen Werken die ersten Klassiker und schöne Literatur, ein praktischer, altmodischer Bureausekretär stammte unverkennbar aus dem Nachlaß der alten Dahlwitze, wie auch die Mahagonipolstermöbel und der runde Tisch unter der Hängelampe die Biedermeierzeit verrieten.

Das alles konnte nur die Tante ausgesucht und zusammengestellt haben, und diese Einsicht belastete Claus noch mehr mit Eifersucht und Besorgnis. Wenn dieser »Kutschersohn« sich in so kurzer Zeit derartig in ihrer Gunst befestigt hatte, dann konnte man sich für die Zukunft auf alles gefaßt machen – vorausgesetzt, daß sie am Leben blieb – ja – vorausgesetzt! Alte Jungfern werden im gefährlichen Alter unzurechnungsfähig, und die angebliche Raminsche Vaterschaft würde dann einen Trumpf in der Hand des Erbschleichers bedeuten, den er verstehen wird, auszuspielen. Diese Gedanken tauchten blitzartig bei Claus auf, während er neben Ernst mit der Zigarre auf dem Sofa saß. Das Gespräch drehte sich um die Kranke und die bevorstehende Krise. Im Zimmer war es warm, und die Hängelampe warf einen freundlichen Schein, in dessen Lichtkreis ein paar müde Sommerfliegen summten.

Wer mochte den großen Strauß letzter farbenprächtiger Herbstblumen auf den Tisch gestellt haben, in dem geschmackvollen Tonkrug von antiker Form? Es waren Chrysanthemen dabei aus dem Warmhaus, – das konnte nur der Gärtner gewesen sein – ein Beweis, wie Ernst sich bei allen Leuten in Gunst gesetzt. Das wollte er ihm ankreiden, es würde geraten sein, das Personal zu revidieren, sobald er hier Herr wäre. Hatte dieser Kerl, der vom Dahlwitzschen Gelde lebte, ihm je einen Strauß oder auch nur eine Blume in sein Zimmer gestellt?

Mit einem Blick auf den Bücherschrank und das Lesetischchen am Ofen, das mit Zeitungen und Broschüren bedeckt war, bemerkte Claus: »Es scheint, daß Sie geistige Interessen haben, mich wundert, daß Sie Landwirt wurden? Wie ertragen Sie diese rein praktische – verzeihen Sie – Bauernarbeit, oder – haben Sie ein besonderes Ziel dabei im Auge?«

Ein scharfer, forschender Blick streifte Ernst und das Wort »besonderes Ziel« wurde eigentümlich stark betont.

»Diese ›Bauernarbeit‹ ist meine angeborene Passion,« entgegnete Ernst kurz.

»Nun ja, das Landleben! Als freies Herrenleben würde ich es auch jedem anderen vorziehen – für eine gewisse Zeit im Jahr. Aber Sie müssen zugeben, daß eine solche Dorfidylle auf die Dauer stumpfsinnig wird. Es fehlt jeder geistige Connex mit Gleichstehenden.«

»Das ist für mich nicht ausschlaggebend, sondern nur die Arbeit, die mir Freude macht, mit der ich etwas leiste. Meiner Meinung nach führt ein freies Herrenleben nur der Arbeiter – ganz egal in welchem Fach – der sein eigenes Brot ißt und weiß, daß er es überall findet, unabhängig von der Gunst der Menschen und Verhältnisse.«

»Nun ja – ich verstehe – moderne Ideen – sehr ehrenvolle Grundsätze. Leider schleppen wir – meine Kaste – eine Kette etwas weitergehender Ansprüche am Fuße nach. Ich weiß nicht, soll ich es Glück oder Unglück, Vorzug oder Nachteil nennen, kompliziertere Lebensbedingungen zu haben. Aber – mein Bester – täuschen Sie sich auch nicht? Ginge Ihnen nicht doch vielleicht über das ›eigene Brot‹ die Gunst eines Menschen oder des Schicksals, die Ihnen ein schönes Gut als Erbe oder Geschenk in den Schoß würfe?«

»Glücksgeschenke sind jedem willkommen, und in den meisten Fällen ist Glück haben auch Verdienst.«

»Zuweilen nur das Verdienst überlegener Schlauheit und Intrige,« sagte Claus scharf, da er aber fühlte, daß er nicht weitergehen dürfe, fragte er, ob sich Ernst mit irgendwelchen geistigen Studien nebenbei beschäftige?

»Ich lese viel Fachwissenschaftliches, um meine Kenntnisse zu erweitern und auf dem Laufenden alles Neuen zu bleiben, auch ist es meine Absicht, gemachte Erfahrungen, die Wert für die Allgemeinheit haben, schriftlich zu sammeln für Fachzeitschriften. Und wenn ich sehe, daß ich damit Erfolg habe, werde ich meine schriftstellerische Tätigkeit ausdehnen. Außer dem Fachstudium interessiert mich die Astronomie am meisten, die ich natürlich nur als Laie betreiben kann. Hier im Flachland unter der freien Himmelsweite werden die Sinne auf die Natur in allen ihren Erscheinungen gerichtet; ich wollte, ich hätte noch Zeit, Botanik und andere Wissenschaften zu studieren, und ich muß gestehen, daß ich die Anregungen und Genüsse der Stadt noch nicht vermißt habe.«

Claus hatte etwas auf dem Wandbrett in einer Zimmerecke entdeckt während des Gesprächs, das seinen Blick nicht losließ. Es war ein Behälter, auf dessen Etikette ein gewaltiger Totenschädel mit gekreuzten Beinknochen schauerlich drohte. Also Gift.

»Verzeihen Sie, was führen Sie denn da für unerlaubt mörderische Chemikalien in Ihrem Asyl weltabgewandten, erhabenen Friedens und hoher, geistiger Betätigung?« fragte er ironisch.

»Rattengift natürlich. Strychnin und Arsenik. Man muß hier fortgesetzt gegen das Überhandnehmen der Rattenplage kämpfen.«

»Mich wundert, daß ein so gefährliches Gift in solcher Quantität an Laien verabfolgt wird.«

»Ich ließ es mir vom Sanitätsrat verschreiben und präpariere nach der Angabe des Kammerjägers das Rattenfutter selbst, um es auch persönlich an die geeigneten Stellen zu bringen, sonst könnte leicht Schaden bei anderen Tieren entstehen. Unter dem alten Borges, der es Jochen Kuphal überließ, sind einmal sämtliche Puten krepiert, die davon gefressen.«

»Ich vermute, Sie könnten das ganze Dorf damit umbringen? Ist diese Masse reines Strychnin und Arsen? Also doch wohl unmittelbar tödlich wirkend?«

»Eine Messerspitze davon und Sie sind weg, wie geblasen. Es wird für die Ratten mit Mehl und etwas Zucker zu Kügelchen verarbeitet.«

»Ist es nicht bedenklich, daß Sie es offen dort stehen lassen?«

»Die Leute, die in mein Zimmer kommen, kennen es alle. Daran vergreift sich niemand.«

Den Rest des Abends verbrachten die beiden jungen Männer beim Schachspiel. Claus verlor die Partie, trotzdem er ein viel besserer Spieler war als Ernst. Er saß gerade dem Wandbrett mit dem Rattengift gegenüber. Entsetzlich, daß der Totenkopf ihm fortwährend Gesichter schnitt. Bald fletschte er drohend den zahnlosen Mund, bald grinste er höhnisch, bald lockte er verheißungsvoll. Noch schlimmer wurde es, nachdem sich Claus zur Nacht in sein Zimmer zurückgezogen hatte. Er konnte nicht schlafen und sah immer den Totenkopf vor Augen, der dasselbe Mienenspiel fortsetzte.

Entweder ich bin verrückt oder ich werde krank, dachte er ächzend. Irgendwo heulte ein Hund in langgezogenen Klagetönen, und an das Fenster klopfte es wie eine Hand, es war aber ein Zweig des alten Holunderstrauchs neben der Haustreppe. Er versuchte es, im Bett zu lesen, gab es aber bei der schlechten Beleuchtung wieder auf. Es blieb nichts als eine Zigarette. Endlich schlief er ein, wie benebelt durch einen schreckhaften Schlaf mit wirren Traumvisionen. Als der Morgen dämmerte, fuhr er auf wie gerufen, er hörte deutlich, daß Ernst sein Zimmer verließ, die Haustür aufschloß und hinausging. Stalltüren knarrten auf dem Hof, Pantinen klapperten auf dem Pflaster, hie und da eine Männerstimme, dazwischen kurze Befehle von Ernst, dann wieder alles still. Claus wußte, daß Ernst jetzt auf dem Kornboden das Pferdefutter verabreichte und in den Ställen das Futtern beaufsichtigte. Tante Claudine hatte es wiederholt gerühmt, daß er stets der erste auf dem Platz sei am Morgen und diese Aufsicht nie versäume. Jeder Langschläfer wurde von ihm energisch zur Pflicht gerufen.

Als handele er auf einen höheren Befehl, sprang Claus aus seinem Bett, warf die notwendigsten Kleidungsstücke über, spähte vorsichtig durch das Fenster, horchte hinaus und ging dann leise hinüber in Ernsts Zimmer. Er hatte eine kleine Schachtel mitgenommen, und als handele er automatisch, halb im Schlafwandel, trat er an das Wandbrett, nahm die Büchse mit dem Rattengift und schüttete eine starke Dosis von dem Pulver in seine Schachtel. Sorgfältig, genau auf ihren alten Platz, stellte er die Blechbüchse zurück, so daß der Totenkopf nach wie vor in das Zimmer grinste, und erreichte unbehelligt seine eigene Stube. Er legte sich noch einmal in das Bett und fiel sofort für eine Stunde in einen seltsam tiefen, festen Schlaf.


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