Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Hier aber hatte er wirkliche Sensation!
Schon nach achtundvierzig Stunden merkten Daisy und er, ohne noch mehr als einen Spaziergang durch die Lauben der Hauptstraße an mittelalterlichen Brunnen vorbei erlebt zu haben, dies Land und Volk unterschied sich von allen kultivierten menschlichen Gemeinschaften, die sie gesehen hatten. Hier gab es sämtliche Voraussetzungen nicht, die sonst unbedingt herrschten.
Hier wollte offenbar kein Mitbürger auf den anderen wirken, keinen Eindruck durch Besonderheit schinden, wodurch Lärm, Schreien, Gestikulieren, grelle Farbe, schrille Dynamik, die kostete, gespart wurde. Hier gab es – in einer Demokratie! – wie keine menschlichen auch keine Standesvorurteile, herrschte kein eitler Geist kleiner Kreise, sondern alles Volk dachte – dreisprachig – unisono. Wodurch anstelle tausend täglicher erhabener Dummheiten Einzelner Eindruck einer Totalvernunft trat, die phantastisch wirkte.
Fairfax und Tochter hatten Gewißheit, hier seien sie menschliche Gimpel, Excentrics, Peripherische und kamen sich komisch vor, als sie sahen, ihr Reichtum berechtige sie zu nichts vor anderen, weil es nicht nur keine Stätte, ihn zu zeigen, gab, aber auch Gegenstände fehlten, ihn für sie auszugeben. Nicht einmal das kleinste Andenken an Wilhelm Teil war zu kaufen!
Daisy fand sich im schlichtesten Pariser Kleid auffallend und kaufte Regenmantel und Galoschen. Die Sioux bekamen Hausarrest und durften sich auf der Straße überhaupt nicht zeigen.
Aber es war Fairfax erwiesen, die Schweiz aus solchem grundsätzlichen Gegensatz zu aller umwohnenden Welt spiele auch keinerlei Rolle in Wirklichkeit, sondern sei Eiland anderswo nicht möglicher menschlicher Haltung, dem keine europäische Bedeutung zukommen könnte. Im Gegenteil werde sie es alsbald schwer genug haben, solche freie Einzelheit zu verteidigen und zu behaupten.
Für ihn, seine Ziele und Weltanschauung war sie nicht nur uninteressant, doch geradezu langweilig. Er reiste ab.
Um in Salzburg anzukommen und vor größerer Überraschung zu stehen.
Er hatte doch Zeitungen gelesen, in denen vom österreichischen Elend spaltenlang Rede gewesen war. Er erinnerte sich genau der fettgedruckten, schreienden Aufschriften, die die Not mit kreischenden Worten gekündet hatten, und war vor Wirklichkeit starr!
Zum erstenmal begann er, am endlichen Einfluß der Presse, der bis dahin in seiner Weltordnung festgestanden hatte, zu zweifeln, da er hier den Abgrund zwischen konkreter Wirklichkeit und Zeitungsberichten über sie vergleichen konnte. Impulsiv drahtete er seinen Propagandachefs, auch Plexin, die für Zeitungsreklame ausgeworfenen Summen um sechzig Prozent zu kürzen. Vor allem aber stünde er endgültig vom Ankauf der einundachtzig ihm angebotenen französischen Tageszeitungen und Wochenschriften ab.
Als er am ersten Mittag in Salzburg mit Daisy durch schlammaufgeweichte Straßen zu jenem nahen Stadtplatz am Dom schritt, vor dem heute der berühmte Schauspieldirektor das mittelalterliche Passionsspiel aufführen sollte, stellte er fest, die Menschen starben stehend auf der Straße.
Und gerade das war das Erstaunliche, daß sie sich nicht einfach mit letztem Seufzer friedlich in den Schlamm und alle Viere von sich streckten und verreckten, sondern in ihren Blick noch stolze Leuchte der Verzweiflung stellten, ehe sie um die nächste Ecke in ihr Ende wankten. Phantastische Lappen, mit denen sie Blößen deckten, grotesk, was sie auf Häupten und an Füßen trugen! Daisy und Fairfax waren ganz verstummt und grau und meinten, mitten in der Hölle zu stehen.
Daisys flehendem Blick, umzukehren, begegnete Fairfax mit Hinweis auf den Kathedraleplatz, wo sich großartig Phantastisches vorzubereiten schien. Sie traten hin und nahmen auf Tribünen Plätze ein.
Vor den offenen Kirchenportalen war die Bühne aufgeschlagen, und der erste Mime trat im Augenblick aus dem Dominnern ins Freie, als sämtliche Kirchenglocken der erzkatholischen Stadt auf Befehl des Bischofs vor einem Publikum zu läuten begannen, das Fairfax mit einem Blick zu drei Vierteln als Israeliten, zu einem Viertel als internationale Snobs erkannte, die üppige Toiletten und feistes Fleisch in heiße Sonne spreizten.
Rings um den Platz aber lungerte zerlumptes Volk und hielt sich an gespannten Seilen hoch.
Daisy zog den Vater am Rock; der aber war geblendet. Solchen Kontrast hatte er nirgends gekostet und, hingerissen, genoß er ihn. Diese Salzburger Festspiele waren Kost für starke Nerven und gaben von einer Spannfähigkeit des europäischen Herzens Beweis, gegen die seine, selbst mit Indianermilch gefüttert, und erst recht die aller Amerikaner noch immer gering war. Hatte er sich manchmal gestanden, er sei doch wohl aus Stahl gemacht, mußte er hier zugeben, mit Europa Schritt zu halten, müsse er das meiste noch hinzulernen.
Als aber der heftigste Eindruck verwunden war, und Daisy plötzlich an seiner Seite nicht mehr saß, riß er sich von dem mit raffinierter Kunst abschwirrendem Spiel los und suchte sein Kind hinter den Tribünen.
Gerade kam er zurecht, einen Skandal zu schlichten, der angesichts von Ort und Umständen leicht hätte heikel werden können. Einen schreienden wütenden Volkshaufen sah er um Daisy, den er durchbrechen mußte, um seine Tochter bei einer leeren Droschke zu finden, deren Pferd, unsagbarer Klepper, als Sack tot zu Boden lag.
Daisy, in vom Kutscher unbewachten Augenblick, hatte dem herben Falben eine so große Morphiummenge aus ihrer Spritze schnell in die Weichen gejagt, daß er glatt hingefallen war und seinen Atemrest als Wölkchen ausgeblasen hatte.
Ein Dolmetscher versicherte immer wieder der Menge, die junge Dame habe den Anblick des um Erbarmen flehenden verhungerten Geschöpfs nicht mit ansehen können. Sein Jammer, als größter im verheerten Europa geschauter, habe ihr das Herz zerfleischt und sie zur Tat augenblicklich hingerissen.
Fairfax, wortlos, streckte eine Hundertdollarnote von sich. Aber sei's, der Anblick solchen Geldscheins raubte dem Besitzer des Tiers den Verstand, oder er war schon vorher nicht bei Trost gewesen, er schrie, ein über das andere Mal aufschluchzend, nicht Geld sei, was er wolle und nicht diese Schätze Arabiens. Sein Roß habe er geliebt, sein Rößlein, braunes Peterlein, das einzige Wesen, das ihm auf Erden noch nahgestanden und genau wie er und alle Umstehenden – hier machte er große Geste ein Recht auf diesen unvergleichlichen österreichischen Schmerz in Gänze bis zum natürlichen Ende gehabt hätte. Wozu Volk murrte, schnob und nach vorn schob.
Da aber wurde plötzlich auch Daisy hysterisch. Vor dem alten Mann fiel sie in Knie und bat weinend um seine christliche Verzeihung.
Und wie Atem des Himmels beruhigte augenblicklich diese Gebärde die erregte Menge: es hob der Kutscher die Schluchzende auf und küßte erst sie, dann das tote Pferd zärtlich auf den Mund.
Ernst und ergriffen ging alles auseinander. Daisy, immer weinend, an des Vaters Arm, der verdutzt das Ganze sinnlos und außerhalb der Zusammenhänge fand.
Und der noch gleichen Abends mit Suite nach München entfloh.
In Bayern aber gab es von Anfang bis zum Ende nur Verdrießlichkeit und Mißverständnisse für Fairfax. Nichts klappte. Gleich im Hotel war Nötiges nicht gerichtet – man hatte infolge seiner überstürzten Ankunft kaum eine Ahnung, wer er war – und als er am nächsten Morgen aus wüstem Traum, Daisys Erlebnis in Salzburg betreffend, erwachte, schien draußen auf Korridoren der jüngste Tag angebrochen.
Bei halber Nacht war kontrollierend die Fremdenpolizei im Hotel erschienen und hatte die Sioux ohne spezielle Einreiseerlaubnis für Bayern betroffen. Diese aber, die sich durch brüsken Einbruch uniformierter Beamten bedroht sahen, waren augenblicklich auf den Kriegspfad aufgebrochen, und minutenlang sausten Tomahawks und andere harte Gegenstände hinter der fliehenden Polizeitruppe her, während benachbarte Zimmer sich öffneten, und vor Schreck halb ohnmächtige, dürftig bekleidete Hotelgäste das chaotische Durcheinander nur noch verstärkten.
Und dann schien es zum Äußersten zu kommen. Siegestrunken und durch das Außerordentliche außer sich gebracht machten die Indianer Miene, einigen Weibspersonen, die sich ihnen aufdringlich genaht hatten, in deren Zimmer zu folgen, was diese, da die Geschichte vor aller Welt vor sich ging, nicht dulden konnten und sich schreiend verbaten.
In diesem Moment erschien Fairfax auf der Szene, donnerte – und zerknirscht zogen sich schleunigst die Sioux zurück. Für ihren Herrn aber begann ein Vormittag schwierigster Zurechtstellungen. Es raste die Polizeidirektion, und nur eine lange, dringende Telephonade des amerikanischen Botschafters in Berlin, eines Vetters Fairfax, der drohte, aus der Sache einen diplomatischen Zwischenfall zu machen, rettete die Indianer vor Schlimmstem. Es telephonierte entschuldigend Fairfax mit dem gekränkten Präsidenten des Freistaats Bayern, der Präsident mit Berlin, Berlin mit dem preußischen Gesandten in Bayern, der mit dem amerikanischen Konsul in München, der mit dem bayrischen Justizminister, der mit der Polizeidirektion, die mit Fairfax, Fairfax mit ihr und noch einmal dankend mit dem Staatspräsidenten, bis gegen Mittag alle Beteiligten mit Einschluß der verbindenden Telephonistinnen völlig erschöpft waren und endlich Ruh gaben.
Nicht so die Münchener Zeitungen, die abends mit flammenden Artikeln erschienen: » Die rote Schmach!« und »Wie weit soll es noch kommen?!« und das Ungeheure, das sich ereignet hatte, in so satten Farben malten, daß die gesamte Einwohnerwehr an abendlichen Biertöpfen Revanche kochte, die ältesten Kellnerinnen schworen: dös gibts fei net! und die Wassermädchen sich kichernd ihr Teil dachten.
Anderen morgens aber, instruiert, widerriefen die Redaktionen das Ganze, behauptend, es handle sich vielmehr um die Indianertruppe, die der Gabriel Niederhuber für die Oktoberwiese engagiert habe, und die das p. t. Publikum mit noch nie dagewesenen Tricks ergötzen werde.
Immerhin mußten die Sioux sofort nach Berlin vorausreisen, und nur auf abermalige persönliche Vorstellung beim Freistaatspräsidenten gelang es Fairfax, Erlaubnis zu erhalten, daß eine einzige Indianerfrau, die er nicht entbehren konnte, wenige Tage, die er in München bleiben wollte, mit ihm verweilen durfte. Daisy hingegen war mit kurzer Trennung von Mumfo ohne weiteres einverstanden, was Fairfax ein bedeutendes Zeichen schien.
So stellte er, worauf es ihm im großen Zusammenhang seiner Reise ankam, nur das Grundsätzlichste über Bayern und seine Bevölkerung fest, es sei zwar das enfant terrible Deutschlands, und das kernige Mannsvolk mit griffestem Messer in der hinteren Hosentasche für lokale Ausschreitungen durchaus nicht ungefährlich, im ganzen aber stände die bayrische Mentalität zu großen politischen und wirtschaftlichen Weltfragen in überhaupt keinem erwähnenswerten Zusammenhang weil, ohne Rohstoff, produktions- und welthandelslos nur auf Bier, Literaten und Gspusiwirtschaft eingestellt, das Land, für Deutschlands Gesamtschicksal mehr als der kleinste Industriebezirk qualité négligeable sei.
Darüber beruhigt, sah er sich noch genießend einige Besonderheiten der hübschen Stadt an, ein Atelierfest, auf dem Daisy ein über das andere Mal errötete, einen Aufzug Sonntagsmorgen der bebänderten Studenten und der Einwohnerwehr zum nationalen Bekenntnis vor die Feldherrnhalle, der ihm wohlgefiel, und jenes rätselhaft verwitterte Zwitter an der Ecke Perusa- und Theatinerstraße, das, für Fremde nach Abstammung, Tracht, Geschlecht und Beruf unkenntlich, von Wissenden als weibliche Trambahnweichenstellerin erklärt wird.
Aber schon war ihm in München die Eigenschaft der Menschen aufgefallen, durch die gleichwohl der Bayer sich als echter Deutscher beweist, und aus der Fairfax schon an dieser ersten Etappe den entscheidenden Unterschied der Bevölkerung zur französischen besonders feststellen konnte: unmäßige Konsumfähigkeit!
Grade jenes Vermögen, das Daisy den Franzosen glatt bestritten hatte, und das im Grund Voraussetzung und conditio sine qua non aller Fairfaxschen Pläne und die eigentliche Qualität war, um die die Welt den Deutschen mehr als um seine Schaffenskraft beneidet.
Er fuhr, den Kontakt mit Bayern ein Weilchen zu verlängern, ganz simpel Schnellzug erster Klasse nach Berlin. In seinem Abteil saß ein eingeborenes Ehepaar, das gleich nach Abfahrt des Zugs ein Körbchen hervorzog, mit leckeren Eßwaren bis zum Rand gespickt.
Da es für Fairfax und Daisy Problem war, was und wieviel ihr Gegenüber genießen würde, stellten sie fest: zwei Büchsen Ölsardinen von Philippe und Canaud, eine gut gebratene Gans, von der nur das Skelett blieb, je eine Blut- und Leberwurst, drei Tafeln Schokolade und Traubenrosinen. Dazu zwei Flaschen Rotwein und einen festen Schluck Benediktinerliqueurs.
Die hatten den letzten Bissen nicht getilgt, als der Kellner des Speisewagens vorbeilief und zum ersten Mittagessen rief. Wie auf ein lang erwartetes Signal startete das Paar zum Diner.
Daisy trumpfte den Vater an: »Lauf durch den Zug, zu sehen, wie alle Welt sich regaliert, und daß hier keine Ausnahme geschah! Das lebt saftig, blüht und vertilgt Stoff auf Stoff, daß es dem nach Verbrauch verlangenden Produzenten hier besser als anderswo zumut sein muß. Welche Entschlüsse du auch schließlich faßt, welche Ziele du aufstellst, jedes ist falsch, in dem solche Genußfreude, solcher Verbrauchstaumel des Deutschen nicht angemessen berücksichtigt ist.«
Und nach einem Augenblick: »Und hättest du mit dem Glauben an der Franzosen Elementarhaß, dieses Volk vernichten zu wollen, recht, und wäre er dir als Kreatur noch so sympathisch, als Hersteller, der von nichts als dem allgemeinen Verbrauch abhängt, bleibt für dich zu überlegen, auf wessen Seite du dich schließlich schlägst.«
»Du hast für die Deutschen ein Faible.« Sagte Fairfax.
»Ich finde mit Einschluß der Deutschen dein Europa zum Kotzen« fuhr Daisy fort, »wie ich auch Amerika für eine Fairfax kaum erlebenswert fand. Seit meinem ersten Lebensjahr langweile ich mich drüben wie hier zum Erbarmen, und Ursprüngliches in mir ist überhaupt nicht berührt. Immerhin bin ich gerecht genug, anzuerkennen, ist die Welt so erbärmlich beschränkt, mir der Deutsche ein Exzeß zu sein scheint. Und das ist, was die übrigen ärgert.«
»Aber dieser Exzeß, wie du richtig sagst, hat als solcher keine Spitzen. Ist an sich niemand feindlich oder nur allen zugleich.«
»Was heißt das?« Fragte Daisy.
»Er hat gegen keinen Einzelnen Tendenz. Ist nicht direkt zielstrebig, so daß man ihn nicht leiten, kaum beaufsichtigen kann. Nichts ist an ihn anzuschließen, nicht auf ihn zu rechnen wie auf der Franzosen soliden Trieb etwa. Das ist klar! Diesen Deutschen ist es gleich, mit wessen Hilfe oder gegen wen sie Vielfresserei und Verschwendung befriedigen, und darum ist der Trieb, als in der Weltwirtschaft unkalkulierbar, schließlich des Zinsverlusts wegen unprofitlich.«
»Das verstehe ich nicht. Jedenfalls ist er sympathisch.«
»Sympathisch?« Schrie Fairfax. »Seit wann bist du sentimental?«
»Seit kurzem vielleicht.« Sagte Daisy.
Am Anhalter Bahnhof in Berlin war noch ganz anderes Hailoh als seinerzeit bei der Ankunft in Paris. Hier hatte Plexin, der selbst herübergekommen war und in einem Dutzend Sprachen schrie, fluchte und kommandierte, vorgesorgt. Es wimmelte auf dem Bahnsteig und in Vorhallen von offizieller Welt und Privatpublikum, da der Ruf ging, Fairfax käme, Deutschland in Not zu helfen.
Man spannte die Pferde von des Amerikaners Wagen und zog ihn im Triumph vor sein Hotel Unter den Linden, wo er und seine Tochter auf Schultern der Stärksten in ihre Gemächer getragen und gezwungen wurden, brausende Hurras der sich stets noch vergrößernden Mengen entgegenzunehmen.
Unten pries ein Redner die engen historischen Bande beider großen Nationen, und was sie gemeinsam in Zukunft vermöchten. Fliegende Wurst-, Eis-, Brezel- und Limonadenhändler wie Verkäufer bunter Ballons, Flaggen und Medaillen hatten zusamt den Bedürfnisanstalten inmitten der großen Allee, wie Fairfax von oben erkannte, reißenden Absatz.
Am anderen Morgen brachte Daisy dem Vater Sternheims jüngsterschienenes Buch »Berlin oder Juste milieu«, das ihr alle Welt seiner krassen Feststellungen wegen begeistert empfohlen hatte. Aus ihm könne er sich schnell über die Hauptstadt, Deutschland und vor allem darüber unterrichten, daß wirklich, wie sie beide geahnt hätten, des Deutschen unersättliches Bedürfnis dessen markantestes Merkmal sei. Aber nicht wie der Verfasser, der dem Thema zu nahstehe, müsse man diese Genußsucht brandmarken, sondern sie über Deutschland hinaus für Europa fruchtbar machen. Das sei ihr Urteil!
Und von diesem einzig möglichen Generalstandpunkt aus, anderen Völkern durch Vermittlung der Deutschen Bedürfnisse beizubringen, möglichst viele, hauptsächlich unnötige und immer kostspieligere, käme keiner der westlichen Stämme, die sämtlich bis zum Rand gesättigt seien, aber wie sie vorausgesagt habe, Rußland und nur Rußland in Frage.
Fairfax ließ sich das Buch vorlesen, fand das Meiste richtig und wünschte, der Verfasser ließe einmal, durch Gefühl nicht gebunden, seine Feder über Amerika aus. Er werde ihm zu dem Zweck Gratisreise und Aufenthalt dort verschaffen. In der Tat aber war er nach der Lektüre imstand, was in Berlin sich ereignete, vom Fleck weg zu begreifen: wie über Ziele politischer Gruppen von den Junkern zur äußersten Linken dies gemeinsame Ideal überwog, um keinen Preis das wiederaufblühende Geschäft »Deutschland«, von dessen Gedeihen aller Deutschen Genußfähigkeit abhing, zu gefährden.
Hinter diesem alle Welt blendendem Gesicht stand Abneigung gegen Frankreich, die Kulissenzauber mächtiger Gruppen blieb, weit zurück und wurde nur durch der Franzosen Anwürfe mühsam am Leben gehalten. Das aber war schlimme Entdeckung auch für den Fall, daß Daisys Behauptung, Frankreichs Chauvinismus selbst habe keinen langen Atem, falsch war und genügte, Fairfax zu verwirren. Denn er selbst war viel zu grade Natur, als daß er geglaubt hätte, bei solchem doppeltem Antlitz Deutschlands könne man auf dem Umweg über sein zweites, schwächeres Gesicht ans Ziel schielen.
Hier hatte er die Hand nicht mehr am Hebel. In allen bisher durchreisten Staaten war des Einzelnen und der Nation Bekenntnis treuherzige und gerade Sache gewesen. In Deutschland jedoch lebte ein Relativismus, der gefährlich schien, indem niemand nur das, was er zu sein vorgab, aber noch etwas anderes dazu war.
Fairfax dachte nach – was? Und entschied: alles! Aber nicht wie in Amerika, wo alles – nichts bedeutet, weil der Amerikaner, begehrt er auch die ganze Welt und Welt immer anders, keinem Ding bleibenden Wert und Wichtigkeit zumißt, sich wie ein Schauspieler aus stets anderen Rollen und wechselnden Szenen fortspielt, sondern im Sinn, daß der Deutsche zum Ideal der sich im übrigen ändernden Welt eine bereits starre Vollendung verehrt: daß es dem Deutschen gut geht!
Wie auch der Jude unter der Bedingung stets der forscheste Fortschrittler war, daß Israel Gottes auserwähltes Volk bleibt. So sehr er nachdachte, und wie ihn Plexin zu überzeugen suchte, aus Selbsterhaltungstrieb schon sei Haß gegen die Entente und Frankreich Deutschlands oberstes Muß – der Amerikaner zweifelte hartnäckig im Entschluß, zumal er wußte, als Jude war Plexin diesmal spießgesellt.
Auch Daisy traute er in dieser Frage keine Meinung zu, weil sie zwischen ihrer naiven amerikanischen Kraftverschwendung, Wunsch, sich im eigenen Leben durch alle Körper und Welten hindurchzuentwickeln und der Deutschen Hast, die trotzdem an ein Höheres als menschlichen Fortschritt, » das deutsche Glück«, nämlich, glaubt, nicht unterschied.
So war er in Berlin zum erstenmal ohne das donnernde Hochgefühl, das sonst Atmosphäre um ihn schwängerte und Welt vor seine Füße schmiß; aber er hoffte auf schleunige Erleuchtung von außen. Der Teufel mochte wissen, woher!
Inzwischen sagten ihm üppige Vergnügungen nichts. Theater und Kino waren ohne Ausnahmen banal, und Nacktes wurde auf der Szene wie überall zu kraß angeboten, als daß es gewirkt hätte. Im Gegenteil ging Daisy, sich zu unterscheiden, auch abends im hohen Kleid. Das Weibliche, in allen Preislagen, drang ungeniert bis in Fairfax' Ankleidezimmer und war wie Ungeziefer schwer zu entfernen.
Die Sioux, die er nach Haus hatte schicken wollen, weil sie infolge lockeren Lebens, das sie überall trotz Aufsicht führten, sich nicht vermehrten, und die er ein wenig satt hatte – zehn Kilo war er schwerer und zum schwersten Rennen fit geworden – hatten, ohne daß Daisy sich widersprechend einmischte, doch das Engagement nach München zur Oktoberwiese gefunden, von dem in Zeitungen damals scherzhaft die Rede gewesen war und fühlten sich, wie sie mitteilen ließen, bei Bier und Weißwürsten wie nie im Leben zu Haus.
Fairfax, stand er gegen Abend vorm Hoteleingang und ließ Berliner Leben an sich vorbeilaufen, hatte eine Sechzehnjährige bemerkt, die in Bluse und Hut mit aufgekippten Nüstern, wie eine Gerte schlank seit Tagen vor ihm strich, bis endlich sich sein Blick in sie verfing, daß er lüstern war, zu wissen, was sie bedeute; ihr winkte, worauf sie kam.
Nutte sei sie, sagte sie. Berliner Spezies des halbflüggen Mädchens; ihre Eltern Portiersleute am Kurfürstendamm. Sie habe nur einen Haß: Armut! Was ihr geschehe, sei gleich. Aber mit armen Leuten wolle sie nie wieder zu tun haben. So lange würde sie unter den Linden spazieren, bis sie den mit der rechten Valuta gefunden habe: Entente oder besser Neutralen. Wolle er sie, könne er sie haben. Er sähe anständig aus. Aber erst Garantie! Im übrigen täte sie, was er verlange: gehe auch nachträglich ins Gymnasium, wünsche er mehr als höhere Töchterschule!
Er ging mit ihr essen, und sie überfraß sich so, daß der erste Abend mit ihren Übelkeiten peinlich endete. Bald aber wurde sie nett und manierlich, und er fand in dem ihr eingerichteten Heim reizende Unterhaltung. Auch Daisy, die sie gebeten hatte, bei ihr den Tee nehmen zu dürfen, war nach dem Besuch begeistert, weil Alice von Fairfax gesagt hatte: »Ihr Alter macht Laune. Er ist wirklich ein großzügiges Original.«
Andrerseits war es Fairfax nicht entgangen, wie Daisy Blicken eines im Hotel wohnenden hochgewachsenen Blonden nicht nur nicht auswich, sondern sie feurig erwiderte. Der bartlose Schlanke mit gutgetragenem Monokel war der Erbgraf Schleyn-Weyn-Reitzenstein, aus purstem Blut gezogen, mit deutschen und auswärtigen Fürstenhöfen verwandt. Katholischer Westfale, letzter Sproß klotziger Feudalität, stand er im sozialdemokratischen Berlin und unter Kleptokraten, die Fisch und Kartoffel mit dem Messer schlangen, wie vom Mond gefallen ein wenig hohl. Doch gäbe er, schlüge man ihn an, noch edlen Ton, hatte man den Eindruck. Boshafte sagten, er sei prähistorisches Überbleibsel, weil er sich mit Weibern nicht abgab, von jenem Baron Thunder ten Thronkh abstammend, den Voltaire unter dem Namen Candide unsterblich gemacht hat.
Jedenfalls war er blendend, Legationsrat im Auswärtigen Amt und mit seinen Vorgesetzten bis zur höchsten Stelle fieberhaft neugierig auf Fairfax und das, was er vorhatte. Der Gedanke, mit Daisy zu flirten, war ihm also schon von Berufs wegen gekommen, ehe sie selbst Eindruck auf ihn gemacht hatte. Fairfax aber hoffte, durch ihn letzte Aufschlüsse und den richtigen Start zu bekommen, bevor er seine Anwesenheit in Berlin offiziell machte.
Man lernte sich kennen und gefiel sich. Als Diplomat war Bodo Schleyn diskret, offenherzig als Weltmann, so daß Fairfax alles, was er wissen wollte, erfuhr: daß wirklich das deutsche Geschäft wieder zu laufen anfing, man zu Riesenproduktion und größerem Verbrauch als je auf dem Sprung war und nur durch der Franzosen störendes Verhalten verwirrt, aufgehalten und, fuhren sie mit ihren Schikanen fort, gezwungen sei, sich trotz damit verknüpften Risikos östlich zu orientieren.
Daisy strahlte. Der Franzose sei Europas Fakir und hindere der naiven Deutschen und der Welt Konsumdrang. Aber man könne auf dieser Erde nicht mehr nach individuellen Zwangsideen leben. Wer auch nur ein Vorurteil habe, sei fossil!
Der Erbgraf begriff nicht, was sie meinte, freute sich aber, Eindruck gemacht zu haben. Fairfax jedoch überlegte zum erstenmal gründlich mit Plexin, ob man Frankreich bremsen, alle Kriegspläne abbrechen und es mit einem der Welt von den Deutschen vorgemachten Friedensverbrauch versuchen solle. Vielleicht bringe, wie es der Krieg getan hatte, wirklicher Frieden hinsichtlich neuer Konsummöglichkeiten überraschende Aufschlüsse. Wenn man alle Schleusen öffne!
Plexin, der erst nicht wollte, fand nach einer Woche Berliner Aufenthalts, das Ding diskutabel. Könnte man wirklich Europa, später die Welt soweit bringen, wie hier schon ein breites Publikum tagsüber Warenhäuser, abends und nachts Kinos, Theater, Weinstuben, Cafés, Bars und Kabaretts plünderte und leertrank, könnte man voraussetzen, jedermann würde durch strenge Erziehung zu solchem leiblichen und geistigen Großverschleiß reif, war die Sache zu machen.
Genaue Untersuchung, sorgfältigstes Experiment an Vertretern mehrerer Völker verlangte Fairfax, und Plexin, in abgeschlossenem Raum, beobachtete Wirkungen auf je einen Polen, Serben, Italiener und ukrainischen Landsmann.
Während aber die drei ersten mächtig erhöhten Umsatz von Genußmitteln mit Ausnahme deutschen Champagners vertrugen, und auch in der Verschwendung täglicher Gebrauchsartikel, Feuerzeug, Papier, Tabak, Toilettenbedarf nicht faul blieben, versagten sie völlig auf geistigem Gebiet und waren nach der Lektüre weniger Bücher mit Titeln, wie »Das Verlangen nach Grenzenlosigkeit«, »Geschichte als Sinn des Sinnlosen«, »Eros und die Evangelien«, von denen der Deutsche mit einem Haufen Zeitungen und Broschüren täglich bequem ein Dutzend liest und begreift, schon mehr tot als lebendig.
Mit dem Ukrainer aber, der sich anfangs in leichter Verdauung geistiger Speisen bis zur höchsten Bewußtseinspreislage leistungsfähig gezeigt hatte, erlebte Plexin, als er ihm schließlich aufgab, innerhalb achtundvierzig Stunden das gesamte Werk der beiden indischen Poeten: Tagore und Yo-Him-Bim, der deutschen Leibdichter, zu kennen, eine Katastrophe: Der starb daran!
Bevor dies Resultat sich ergeben hatte, schien jedoch des Erbgrafen Verhältnis zu Daisy soweit fortgeschritten, daß alle Welt erkannte, zwischen ihnen mußte bald Entscheidung fallen.
Durch den plötzlichen Tod seines Vaters, des regierenden Fürsten Schleyn-Weyn-Reitzenstein war Graf Bodo in abgründige Trauer versetzt und schien so trostbedürftig, daß nur eines Weibs hingebende Liebe ihm den Heimgegangenen ersetzen konnte. Man sah zwar, wie Absicht, ein freies harmonisches Leben zu opfern, ihm schwer wurde, aber als einziger Ausweg täglich mehr einleuchtete, und wie er mit dem Entschluß seiner Heirat offenbar andere, wichtigere verband.
Außerdem glühte allmählich Atmosphäre, die sich überall erhebt, wo ein Ding in Schwung ist, und Bewegung, Hin- und Herlaufen war um ihn. Herren im Gehrock und Zylinder kamen, die tuschelten, sorgenvolle und dann erlöste Mienen machten, als sie ihm freudig auf die Schulter klopften.
Daisy war so prachtvoller Laune, daß Fairfax sah, sie erwartete den Antrag mit Freuden. Sie schenkte Alice eine ihrer Perlschnüre, deren wertvoller Besitz das Mädchen bis an sein Lebensende zur Kapitalistin machte, trällerte, sang und hüpfte nur so herum.
Eines Morgens ließ endlich sich offiziell Fürst Bodo melden und erschien in strahlender Aufmachung der ehemals Pasewalker Kürassiere, Regiment Königin; weißem Koller mit Karmoisin, silberschuppigem Metallhelm in den Nacken, Lackstiefeln bis zur Hüfte und einen Pallasch, der, aufgestützt, ihm an die Brustwarzen reichte. Im ganzen glich er Lohengrin durchaus.
Er bat um der abwesenden Daisy Hand; fügte aber, ehe Fairfax geantwortet hatte, hinzu: von seiner männlichen Leidenschaft abgesehen, stände er hier als Deutscher und Preuße vornehmlich, verbände mit seiner persönlichen Frage an das Schicksal größere, überpersönliche für sein über alles geliebtes, in tiefster Not befindliches Vaterland: Ob Fairfax bereit sei, die Mitgift so groß zu geben, daß, nachdem mit ihr die gesamte Kriegsschuld Deutschlands an die Entente bezahlt sei, genug bleibe, mit Daisy standesgemäß leben zu können.
Hier zum erstenmal war Fairfax in seinem Leben platt und wußte für den Augenblick keine Silbe zu sagen. Der Fürst, der seines Gegenübers Bestürzung sah, zog sich taktvoll zurück, indem er hinzufügte, er werde seine Forderung, die Alpha und Omega seines Lebens sei, schriftlich besser begründen.
Fairfax aber, alleingelassen, durchblitzte nach dem ersten Schreck der Gedanke: warum nicht?!
War die Summe, hundertunddreißig Milliarden Goldmark an sich schon nicht unerschwinglich, schien Daisys Leidenschaft, des Fürsten unbeugsamer Wille, doch auch die rein geschäftliche Seite der Angelegenheit dringend wert, die Sache kaltblütig zu überlegen.
Was würde erste Folge eines seiner Kriegsschulden ledigen Deutschlands sein? Das Hinauffliegen seiner Valuta und seiner sämtlichen mobilen und immobilen Werte doch!
Und legte man, ehe noch eine Seele von der geänderten Lage wußte, zu niederem Kurs Hand auf sämtliche deutschen Vorzugswerte – sollte es nicht möglich, wahrscheinlich, notwendig sein, aus den zweifellos märchenhaften Kursdifferenzen die bezahlten Milliarden nicht nur wiederzuholen, sondern – hier erglühte Fairfax vom Scheitel zur Sohle – noch traumhafte Vermögen darüber hinaus zu gewinnen?
Er sprach mit Daisy, die über des Fürsten Anträge aus dem Häuschen und doppelt in ihn verliebt war. Das sei, weiß Gott, doch ein Kerl und endlich strikter Beweis dafür, was eigentlich in jedem Deutschen für eine Nummer stecke! Plexin aber, mit dem Fairfax seine Ideengänge im allgemeinen beredete, fand die Perspektive, man helfe, indem man Deutschland großzügig beispringe, sich selbst noch viel großzügiger, von schauerlicher Großartigkeit und behauptete, so eng mit Deutschland verschweißt, könne man es zu noch viel gewaltigerem Massenverbrauch stacheln und um anderes in der Welt sich überhaupt nicht mehr kümmern.
Drei Tage lang grübelte Fairfax über Kalkülen und kam zum Ende, das Geschäft sei richtig und in seiner sentimentalen Aufmachung besonders aller Konkurrenz überlegen. Er traf langsam Vorbereitungen, sich des gesamten Kali, Kohlen und Elektrizitätsfonds Deutschlands zu versichern und sandte Plexin mit Gegenbefehlen nach Frankreich, durch die der dortige gesamte Haßbetrieb langsam auf tote Geleise geschoben werden sollte.
Des Fürsten Bodo angekündigtes Schreiben hatte großen Ton. Neben des Forderers Heroismus strich es auch den von Fairfax hinreichend heraus und machte aus der Sache historische Angelegenheit für künftigen Geschichtsunterricht mit der Jahreszahl 1920. Fairfax' Antwort war königlich und kurz.
Am Abend der mit distinguiertem Pomp gefeierten Verlobung, der der Reichskanzler und der Staatssekretär des Äußeren beiwohnte, beide als einzige Bescheid wissend über das, was Deutschland bevorstand und bis zu Tränen gerührt, gelang es dem immerhin sechzigjährigen Amerikaner, zu seiner kleinen Alice heimgekehrt und von Erfolgen geschwellt, diese, wie sich später herausstellte, zur Mutter eines Knaben zu machen.
Eine Woche verging allen Beteiligten in innerem dulci jubilo. Die Reichsämter rechneten fieberhaft, Fairfax kontrollierte und arbeitete hinter Kulissen der Börse und Presse im Schweiß seines Angesichts. Bodo und Daisy thronten auf Wolken, und Plexin drahtete, man gäbe wieder Wagner in Paris, und es wehe neuer Wind im Elysée und Palais Bourbon. Schon erhob sich vom Zentrum des Hotels »Unter den Linden« ein unerhörtes frisches deutsches Selbstgefühl, und ohne daß jemand Genaueres wußte, strömte aus Fairfax' Milieu Zuversicht auf offizielle Welt.
Allenthalben begann die deutsche Valuta sprunghaft zu steigen, und sogar das Publikum auf neutralen Märkten, wo Fairfax kaufte, bekam Witterung und deckte sich bis an den Hals mit deutschem Geld ein. Innerhalb acht Tagen hatte bei einem Wertunterschied von elf Punkten nach oben Fairfax auf dem Papier bereits ein Drittel der gesamten vom Fürsten geforderten Summe verdient und sah ein Geschäft in Gang, das all sein Wünschen, besonderes Vorbereiten, Phantasieaufwand glänzend rechtfertigen würde. Wie noch nie im Leben war er froh und gelobte Alice, als er wieder einmal mit ihr durch die Siegesallee ging, die sie einen Traum der Schönheit fand, ihr sämtliche Denkmäler samt Siegessäule zu kaufen und in New York in seinem Park in gleicher gärtnerischer Aufmachung wieder hinzustellen, und als Alice, daß die Anlage verkäuflich sei, zweifelte, versicherte er mit glücklichem Lachen, er habe Mittel, die deutsche Regierung gefügig zu machen, zumal das Symbol nach Berlin nicht mehr passe. Worauf Alice Freudenschreie ausstieß.
Doch da geschah ein Unerhörtes: eine der Telephonistinnen des Hotels, aus Kriegszeiten gewohnt, alle von ihr aufgefangenen interessanten Gespräche der dazu eingesetzten Behörde zu übermitteln, hatte zu Anfang des Fairfaxschen Aufenthalts eine Unterhaltung von Zimmer zu Zimmer zwischen dem Sioux Mumfo und Daisy aufgezeichnet und sie einfältig wortgetreu an die vorgesetzte Stelle weitergegeben. Weiß der Himmel, wer eines Morgens dem Fürsten Abschrift dieses vertrauten Gesprächs auf seinen Schreibtisch geweht hatte, jedenfalls konnte der aus dem Tenor des Gesprächs, knappen Ausdrücken den nicht zu übertreffenden Grad der Intimität zwischen beiden sprechenden Personen nicht verkennen. Er erbleichte. Fühlte, er stand vor Katastrophe! Noch suchte er in Anbetracht dessen, was nicht für ihn aber für Höheres auf dem Spiel stand, die Wahrheit von sich zu schieben, doch gab eine Unterredung mit dem betreffenden Telephonfräulein, das ihn merkwürdig ansah und sich genau der Umstände und auch an anderes erinnerte, keine Möglichkeit zur Ausflucht mehr.
So kraß war das Maß der Gewißheit!
Sofort wollte er handeln und als Koloß von Bronze vor Fairfax treten. Aber als er ans Hotel kam, stand wartend der Wagen zur Fahrt schon bereit, er mußte zu Daisy und ihrem Vater einsteigen und schnell ins Theater fahren, wo er »Minna von Barnhelm« auf der Szene sah.
Nun versuchte er es innerlich mit Zynismus, mit »wenn schon«, biß Zähne zusammen und suchte zur moralischen Blasiertheit der Zeit aufzuturnen. Er glorifizierte sein an sich erhabenes Ziel ins Grenzenlose, und also seine Pflicht; aber immer wieder wurde er von der Bühne her in Minnas und vorzüglich Tellheims Schicksal verwebt, und als jener Höhepunkt des Dramas stieg, wo Tellheim zum Fräulein von Barnhelm mit einem Ton – o solchem Ton! sagt:
Tellheim: Meine Ehre!
Fräulein: Die Ehre eines Mannes wie Sie –
Tellheim: Nein, mein Fräulein, Sie werden von allen Dingen recht gut urteilen können, nur hierüber nicht. Die Ehre ist nicht nur die Stimme des Gewissens, nicht das Zeugnis weniger Rechtschaffenen.
Fräulein: Nein, nein, ich weiß wohl. Die Ehre ist – die Ehre!
Da schossen Bodo im Hintergrund der Loge Tränen in Strömen aus den Augen, und er wußte, es war alles vorbei, und er könne mit diesen Amerikanern nichts gemein haben, die kein kleinstes Ehrgefühl, geschweige das eines Legationsrates im Auswärtigen Amt, Feudaladeligen, Pasewalker Kürassiers und vor allem eines schieren Preußen verständen.
Am nächsten Morgen der Auftritt mit Fairfax war lapidar. Markig legte Bodo den Tatbestand hin und orgelte nichts als das Wörtchen »Ehre«. Doch als Fairfax nicht begriff und Daisy hereinbat, stand denkmalhaft Schleyn-Weyn-Reitzenstein im Kürassierkoller, Faust am Pallasch, die andere Hand beschwörend erhoben und sagte: »Meine Ehre! Deutschlands Ehre vor allem!«
Daisy, ohne sonderlich berührt zu scheinen, klirrte mit noch metallischerer Stimme, während sie ein süßduftendes Schnupftuch gegen die Tür schwenkte! »Go out quickly!« Fairfax, innerhalb nächster zwölf Stunden, in denen noch niemand den Vorfall ahnte, verkaufte die überall gekauften Markmilliarden und Werte mit einem Vorteil von dreizehn Punkten und stellte trotz der auf ihn niedergesausten moralischen Schlappe einen Bargewinn von einigen Milliarden aus der Sache Reitzenstein für sich fest, so daß sie schließlich nicht umsonst gewesen war. Nach dieser Frist aber fiel jähe Stille um die Fairfax', und sie blieben achtundvierzig Stunden in Berlin in Eis isoliert. Nur noch von des Fürsten Verschwinden hörten sie, und daß der Reichskanzler bei Anhören des neuen Tatbestands hell aufgeschluchzt und in Erschütterung gewankt, schließlich aber Bodo mit Trost und Lob zugestimmt und in Erholungsurlaub entlassen habe.
Am dritten Tag jedoch brach in Berlin aus heiterem Himmel ein kommunistischer Putsch los, der alles andere Interesse schnell begrub und jeden nur an seine persönliche Sicherheit denken ließ. Insbesondere war das Regierungsviertel, in dem Fairfax' Hotel lag, bedroht; er saß mit Daisy plötzlich hinter herabgelassenen Fensterläden gefangen, und sie konnten das einzige europäische Phänomen, das sie noch nicht gesehen hatten, aus nächster Nähe betrachten.
Fairfax, der, als Maschinengewehrkugeln an das Holz prasselten, bedenklich wurde, richtete sich an Daisys Haltung auf, die seit des Fürsten Verschwinden strahlenden Blick und irgend ein Persönliches hatte und wagte, gierig durch Rouleauxritzen auf die Straße zu spähen. Allmählich packte ihn unten das Feuergefecht so, daß er sich selbst vergaß und kaltblütig Kampfmethoden der beiden feindlichen Parteien verglich.
Er tadelte die Kommunisten, die sich äußerlich auch im Kampf von keinen Spießbürgern unterschieden. Wie sollten sie, im schlichten Arbeitsrock, den im Kugelregen so nötigen heroischen Nimbus von Mann zu Mann verbreiten? Diese nach außen zur Schau getragene Bedürfnislosigkeit sei nicht nur Erfolg gefährdend, sondern abstoßend. Hier, wie überall, brauche natürlich gerade der kommunistische Soldat eine die kriegerische Phantasie beflügelnde Ausstattung nebst Ehrenzeichen, und hätte er, Fairfax, mit dieser Branche zu tun, würde ihn kein gegenteiliger politischer Standpunkt abhalten, den maßgebenden Stellen für eine solche, sachgemäßes Offert zu machen. Abgesehen davon, daß auch die proletarischen Waffen minderwertig schienen, da es auf gegnerischer Seite nach stundenlangem Geknall noch keinen Toten gab. Ware wahrscheinlich der Bethlehem Steel works, die schon vor dem Krieg mit Deutschland gearbeitet hatten.
Daisy, vorgebeugt den Ereignissen folgend, warf ihm einen kalten Blick zu, den er an ihr noch nicht kannte, und der ihn bewog, weitere Anmerkungen zu den Ereignissen für sich zu behalten.
Als aber allmählich Bleiben an der den Angriffen am meisten ausgesetzten Lindenfront nicht länger tunlich schien, Krach, Panik und Explosionen aus der Hotelhalle bis in die Stockwerke dröhnten, hielt es Fairfax geraten, den von dem an allen Gliedern schlotternden Hoteldirektor über die Dächer der Nachbarhäuser angewiesenen Rückzug mit anzutreten, der kopflos mit den Gästen, dem gesamten Personal und fast vor Sinnen ausgeführt, im Keller eines Ministeriums mündete. Hier stellte Fairfax erschüttert, daß Daisy sich nicht mehr bei ihm befand, fest.
Obwohl durch preußischer Reichswehr Heldenmut der Putsch am andern Morgen erstickt war, blieb Daisy verschwunden, und Fairfax in Zerschmetterung wurde nur durch Alices maßlose Zärtlichkeit und Sicherheit aufrechterhalten, das Kind werde bald wieder zum Vorschein kommen. Dafür sprach auch der Umstand, daß trotz erdenklicher Nachforschungen nicht das geringste Zeichen an den Tag kam, es sei an Daisy ein Verbrechen oder eine Bluttat verübt. Nur das stellte sich heraus, es war außer ihr der Haupträdelsführer und Veranlasser des Aufstands, Agent der Sowjetregierung, ein gewisser Turtelbaum oder Tirtoieff, wie in einen Abgrund verschwunden.
Nach bangem Harren, währenddessen Fairfax, im tiefsten über die problematischen deutschen Eigenschaften enttäuscht, durch Plexin wieder Anschluß an das eindeutige Frankreich genommen und der französischen Regierung Entschluß, Deutschland gegenüber jetzt strikt als unerbittlicher Gerichtsvollzieher aufzutreten, gebilligt hatte, erhielt er in der Stunde, da er mit Alice von Berlin über Paris nach Amerika aufbrach, diese Ansichtskarte Daisys aus Moskau, die, wer weiß wie, zu ihm gelangt war:
»Väterchen: nach martervoller Langeweile, die nur Du manchmal gütig unterbrachst, hat mich Iwan Turtelbaum, in der Geschichte Tirtoieff genannt, der erste Held, den ich sah, mit stürmender Hand im Hotel Bristol genommen und in ein Dasein schwärmender Bewegung und himmlischer Möglichkeiten hierher gerettet, wo ich begeistert und von den Maßgebenden herzlich empfangen bin. Selbst selig und von allem beglückt, was ich hier sich vollenden hoffe, rufe ich aus tiefstem Wissen um Eure ausgepumpten Kulturen dir zu: Vive la barbarie, mein guter alter Jimmy! Daisy.«
Mitunterschrieben aber hatten außer Tirtoieff-Tschitscherin, Lunacharski, Gorki und schließlich Lenin selbst.
Während aber Alice schrie: »Ich habe Dir immer gesagt, das Mädchen hat keine Manieren und Erziehung, sonst triebe es sich nicht mit solchen Banditen herum«, sah Fairfax, aus flüchtiger Lähmung erwacht, in dem Umstand, daß Lunacharski und Tschitscherin, die Offiziellen, vor allem aber, daß Lenin selbst seinen Namen hingesetzt hatte, dessen bedeutungsvollen Wink an ihn!
Und indem er titanisch sich über Welt und Geschehenes redete, glomm hoch in ihm der erste Funke eines anderen Plans, vor dessen grausiger Gewalt er selbst erschrak.