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Mina Murrays Tagebuch
Am gleichen Tage, 11 Uhr nachts. – O, wie bin ich müde! Wenn ich nicht eine Verpflichtung gegen mein Tagebuch fühlte, würde ich es heute nicht mehr öffnen. Wir machten einen reizenden Spaziergang. Lucy war nach kurzer Zeit in bester Laune, die wir, glaube ich, einigen munteren Kühen zu verdanken hatten, die auf einem kleinen Feld in der Nähe des Leuchtturmes auf uns zukamen, um uns zu beschnuppern, und uns in Angst und Schrecken versetzten. Ich glaube, wir vergaßen alles, außer natürlich die persönliche Gefahr. Wir tranken dann einen vorzüglichen Tee an Robin Hoods Bay in einer netten, kleinen, altmodischen Wirtschaft, durch deren Bogenfenster man gerade hinunter sah auf die mit Seetang bedeckten Felsen des Strandes. Wahrscheinlich hätten wir »moderne Frauen« mit unserem Appetit in Schrecken versetzt. Die Männer sind in dieser Beziehung nachsichtiger. Gott segne sie dafür! Dann gingen wir heim, indem wir einige, besser gesagt viele Ruhepausen einlegten; im Herzen trugen wir immer noch Furcht vor wild gewordenen Stieren. Lucy war wirklich müde, und wir beschlossen, so bald als möglich ins Bett zu kriechen. Es kam jedoch der junge Herr Kurat, und Frau Westenraa lud ihn ein, zum Souper bei uns zu bleiben; Lucy und ich hatten einen harten Kampf mit dem Sandmann zu bestehen. Ich glaube, ich kämpfte erfolgreicher, denn ich bin eine sehr harte Natur. Ich denke, die Bischöfe werden eines Tages zusammenkommen und darüber beraten müssen, ob man nicht bessere Kuraten einstellen solle, die nicht soupieren, so sehr sie auch dazu gepreßt werden mögen, und die es merken, wenn junge Mädchen müde sind. Lucy schläft und atmet leise. Sie hat mehr Farbe in den Wangen und sieht so süß, ach so süß aus. Wenn sich Herr Holmwood schon in sie verliebte, da er sie nur im Wohnzimmer sah, so möchte ich wissen, was er jetzt täte, wenn er sie so sähe. Einige der »modernen Frauen« werden eines Tages die Forderung aufstellen, daß es Mann und Frau erlaubt sein müsse, sich erst gegenseitig im Schlafe zu sehen, ehe man sich bewerbe oder eine Bewerbung annehme. Aber die »modernen Frauen« werden wohl in Zukunft sich nicht mehr damit begnügen, eine Bewerbung anzunehmen, sondern sie werden selbst werben wollen. Das wird etwas Schönes werden! Ich bin so glücklich heute Abend, weil die liebe Lucy wieder besser aussieht. Ich glaube wirklich, sie hat es jetzt überwunden und wir sind über die bösen Klippen ihres Schlafwandelns hinweg. Ich wäre ganz glücklich, wenn ich wüßte, ob Jonathan … Gott segne und behüte ihn.
11. August, 3 Uhr morgens. – Wieder zum Tagebuch. Da ich nicht schlafen kann, will ich schreiben. Ich bin zu erregt, um schlafen zu können. Wir hatten ein Abenteuer, ein Erlebnis, das mir tödlichen Schreck einjagte. Ich schlief ein, sobald ich mein Tagebuch geschlossen hatte … Plötzlich wurde ich völlig wach und sprang aus dem Bette mit einem schrecklichen Gefühl der Angst und einer Leere um mich her. Das Zimmer war so dunkel, daß ich Lucys Bett nicht sehen konnte; ich schlich mich hinüber und tastete nach ihr; das Bett war leer. Ich machte Licht und bemerkte, daß sie überhaupt nicht im Zimmer war. Die Türe war zu, aber nicht verschlossen; ich hatte dies doch gewissenhaft besorgt, ehe wir uns zur Ruhe legten. Ihre Mutter wollte ich nicht wecken, da sie in letzter Zeit wieder leidender ist; so zog ich denn einige Kleidungsstücke an und machte mich auf die Suche. Ehe ich das Zimmer verließ, kam ich auf die Idee, daß vielleicht die Kleider, die sie trug, mir einen Anhalt für ihr Verschwinden geben könnten. Schlafrock würde bedeuten, daß sie sich im Hause, Straßenkleider, daß sie sich außerhalb befinde. Schlafrock und Straßenkleid befanden sich auf ihren gewöhnlichen Plätzen. »Gott sei Dank«, sagte ich mir, »weit kann sie nicht sein, da sie nur im Nachthemd ist.« Ich rannte hinunter und sah im Wohnzimmer nach. Nicht da! Dann suchte ich alle offenen Räume des Hauses ab, indem eine immer wachsende Angst mir das Herz zusammenschnürte. Endlich kam ich an das Haustor und fand es offen. Es war nicht weit offen, nur das Schloß war nicht eingeschnappt. Die Hausleute sind ängstlich darauf bedacht, das Haustor jede Nacht sorgfältig zu schließen, und so mußte ich befürchten, daß Lucy fortgegangen sei, so wie sie war. Ich hatte keine Zeit daran zu denken, was geschehen könnte; ein schweres, erdrückendes Angstgefühl nahm mir alle Urteilsfähigkeit. Ich ergriff einen dicken, warmen Shawl und rannte davon. Die Glocke schlug eben eins, als ich in The Crescent ankam; keine Seele war auf der Straße. Ich eilte die Nordterrasse entlang, fand aber keine Spur der weißen Gestalt, nach der ich suchte. Vom Rande der Westklippe, gerade über dem Pier, sah ich quer über den Hafen weg zur Ostklippe hinüber, in der Hoffnung oder Furcht, – – was es war, weiß ich nicht – – Lucy auf unserem Lieblingsplätzchen zu entdecken. Der helle Vollmond wurde hin und wieder durch schwere, treibende Wolken verhüllt, so daß über der ganzen Szene abwechselnd Licht und Schatten lagen. Eine oder zwei Sekunden konnte ich nichts sehen, da gerade der Schatten einer Wolke die Marienkirche und alles Umliegende verdunkelte. Dann, als die Wolke vorüberzog, kam die zerfallene Abtei wieder in Sicht. Als der messerscharfe Rand eines schmalen Lichtstreifens über sie strich, wurde die Kirche mit dem Friedhof nach und nach sichtbar. Was ich auch erwartet haben mochte, meine Erwartung wurde nicht enttäuscht, denn dort, auf unserem Lieblingssitz, sah ich eine vom Mondlicht hell beschienene, halb zurückgelehnte, schneeweiße Gestalt. Allzurasch näherte sich wieder eine Wolke, als daß ich viel hätte sehen können. Sofort umhüllte mich wieder tiefe Finsternis, aber ich hatte den Eindruck, als stände etwas Dunkles hinter dem Sitz, auf dem sich die weiße Gestalt befand, und beuge sich über sie; was es war, ob ein Mensch oder ein Tier, konnte ich nicht erkennen. Ich wartete gar nicht mehr ab, bis ich wieder etwas sehen konnte, sondern flog die Treppen hinab zum Pier und am Fischmarkt vorbei zur Brücke, den einzigen Weg, auf dem von hier aus die Ostklippe zu erreichen war. Die Stadt lag da wie tot, keine Seele mehr zu sehen; es war mir ja lieb so, denn niemand sollte etwas von Lucys Leiden erfahren. Die Zeit und die Entfernung schienen mir unermeßlich lang; meine Knie zitterten und mein Atem rang sich keuchend aus meiner Brust, als ich die endlosen Stufen zur Abtei hinaufsprang. Ich muß sehr rasch gelaufen sein, dennoch kam es mir vor, als seien meine Füße mit Blei ausgegossen und meine Gelenke eingerostet. Als ich auf der Höhe angelangt war, konnte ich den Sitz und die weiße Gestalt darauf genau erkennen, denn ich war jetzt nahe genug, um selbst im Dunkel der Nacht alles zu unterscheiden. Es war offenkundig, irgend etwas beugte sich lang und schwarz über die halb zurückgelehnte weiße Gestalt. In tiefster Seele erschreckt rief ich: Lucy! Lucy! und das Etwas hob den Kopf – – ein bleiches Gesicht mit rotglühenden Augen wandte sich mir zu. Lucy antwortete mir nicht, und ich rannte zur Friedhoftüre. Hierdurch schob sich die Kirche zwischen mich und die Bank und versperrte mir auf einige Augenblicke die Aussicht. Als ich sie wieder sehen konnte, war die Wolke vorübergezogen und blendender Mondschein fiel auf sie, wie sie so dasaß, halb zurückgelehnt, das Haupt über die Lehne der Bank zurückgefallen. Sie war ganz allein; weit und breit keine Spur von einem lebenden Wesen.
Als ich mich über sie beugte, sah ich, daß sie noch schlief. Ihre Lippen waren geöffnet und sie atmete – nicht sanft, wie sie es sonst tat, sondern in langen, hastigen Zügen, als müsse sie darum kämpfen, ihre Lungen mit frischer Luft zu füllen. Wie ich an sie herantrat, bewegte sie im Schlaf die Hand und zog den Kragen ihres Nachthemdes fester um die Kehle zu. Es überlief sie dabei ein leichter Schauder, als ob sie Kälte empfinde. Ich schlug den warmen Shawl um sie und zog die Ecken fest um ihren Hals zusammen, denn ich fürchtete, sie könne sich eine tödliche Krankheit zuziehen, unbekleidet wie sie war … Ich zögerte aber noch, sie zu wecken und befestigte, um meine Hände zu einer allenfallsigen Hilfeleistung freizubekommen, den Shawl mit einer großen Sicherheitsnadel. Ich muß aber in meiner Angst ungeschickt gewesen sein und sie am Halse gerissen oder gestochen haben; denn als ihr Atem allmählich wieder ruhiger zu werden begann, legte sie öfter ihre Hand an die Kehle und stöhnte. Nachdem ich sie sorgfältig eingewickelt hatte, zog ich ihr noch meine Schuhe an die Füße und versuchte sie schonend zu wecken. Erst reagierte sie gar nicht, aber allmählich wurde ihr Schlaf doch weniger fest und sie seufzte und stöhnte von Zeit zu Zeit. Schließlich aber, als es mir doch zu lange dauerte und da es mir darum zu tun war, sie möglichst rasch nach Hause zu bringen, schüttelte ich sie heftig, worauf sie die Augen öffnete und erwachte. Sie schien gar nicht überrascht, mich zu sehen, wie sie überhaupt ohne Zweifel sich nicht gleich klar darüber war, wo sie sich eigentlich befand. Lucy ist immer hübsch, auch beim Erwachen; und sogar jetzt, wo doch ihr Leib von der Kälte geschüttelt wurde und sie darüber entsetzt sein mußte, mitten in der Nacht unbekleidet auf einem Friedhof zu erwachen, verlor sie ihre Grazie nicht. Sie zitterte ein wenig und klammerte sich an mich; als ich ihr sagte, sie müsse jetzt sofort mit mir heimgehen, stand sie mit dem Gehorsam eines Kindes auf, ohne ein Wort zu sagen. Als wir weggingen, stieß ich mit dem nackten Fuße an einen Stein und Lucy hörte meinen leisen Schmerzensruf. Sie blieb stehen und bestand darauf, ich sollte meine Schuhe anziehen, aber ich tat es nicht. Dagegen bestrich ich, als wir auf den Fußweg außerhalb des Friedhofes kamen, wo noch von dem Unwetter her eine Regenpfütze sich befand, meine Füße mit Schmutz, damit nicht jemand, der uns etwa auf dem Heimweg begegnen könnte, imstande wäre zu erkennen, daß ich mit nackten Füßen ging.
Das Glück war uns günstig und wir kamen nach Hause, ohne auch nur eine Seele angetroffen zu haben. Nur ein einzelner Mann, der nicht mehr ganz nüchtern schien, kam durch die Straße auf uns zu; wir versteckten uns in einen Torbogen, bis er in einem der kleinen, abschüssigen Höfchen – – in Schottland nennt man sie »Wynds« – – verschwunden war. Mein Herz schlug so laut in unserem Versteck, daß ich mehrmals glaubte, umsinken zu müssen. Ich war in heißer Angst um Lucy, nicht nur für ihre Gesundheit, daß sie von diesem Abenteuer Schaden haben könne, sondern auch für ihren Ruf, falls die Sache ruchbar würde. Als wir daheim unsere Füße gereinigt und zusammen ein Dankgebet gesprochen hatten, brachte ich sie in ihr Bett. Bevor sie einschlief, bat sie mich, ja sie flehte mich an, niemand über ihr nächtliches Abenteuer ein Wort zu sagen, auch ihrer Mutter nicht. Ich versprach es ihr nur zögernd; als ich aber dann an das Befinden ihrer Mutter dachte und wie es sie angreifen würde, so etwas zu erfahren, und wie sehr die Sache wahrscheinlich – – nein, sicher – mißdeutet würde, wenn etwas an die Öffentlichkeit durchsickerte, hielt ich es für klüger, das Versprechen zu geben. Ich hoffe, ich habe recht daran getan. Ich habe die Türe verschlossen und der Schlüssel hängt an meinem Halse; so darf ich doch wenigstens hoffen, meine Nachtruhe ungestört genießen zu können. Lucy schläft tief, der Widerschein des Morgens leuchtet hoch über der See.
Am gleichen Tage, mittags. – Alles geht gut. Lucy schlief, bis ich sie weckte, und schien die ganze Nacht ihre Lage gar nicht geändert zu haben. Das nächtliche Abenteuer hat ihr scheinbar auch nicht geschadet; eher ist vielleicht das Gegenteil der Fall, denn sie sieht heute morgen blühender aus als seit Wochen. Es tut mir nur leid, daß ich durch meine Ungeschicklichkeit sie mit der Sicherheitsnadel verletzt habe. Es muß tatsächlich nicht unbedeutend gewesen sein, denn die Haut an ihrer Kehle ist vollständig durchbohrt. Ich muß ein Stückchen der zarten Haut gefaßt und durchstochen haben, denn es sind zwei kleine rote Punkte wie Nadelstiche zu sehen und auf dem Kragen ihres Nachthemdes ist ein Tröpfchen Blut. Als ich mich bei ihr entschuldigte und mir Vorwürfe machte, lachte sie mich aus und verspottete mich und sagte, sie spüre gar nichts davon. Glücklicherweise wird die Wunde keine Narbe hinterlassen, da sie zu unbedeutend ist.
Am gleichen Tage, nachts. – Wir haben einen glücklichen Tag verbracht; die Luft war klar und die Sonne schien freundlich; eine kühle Brise wehte vom Meere herüber. Wir nahmen das Frühstück in Mulgrave Woods; Frau Westenraa fuhr auf der Straße, und ich ging mit Lucy zu Fuß den Strandweg; am Eingangstor trafen wir zusammen. Ich war etwas traurig, denn ich dachte, wie wunderschön es nun wäre, hätte ich Jonathan bei mir. Aber so! Ich muß nur Geduld haben. Am Abend schlenderten wir auf der Kasinoterrasse und lauschten der schönen Musik von Spohr und Mackenzie und gingen dann früh schlafen. Lucy scheint ruhiger geworden zu sein, als sie es bisher war, und fand bald Schlaf. Ich werde die Türe schließen und den Schlüssel in gewohnter Weise zu mir nehmen, obgleich ich für die Nacht nichts Besonderes erwartete.
12. August. – Ich fand mich in meinen Erwartungen getäuscht, denn zweimal in der Nacht wurde ich durch Lucy geweckt, die fortgehen wollte. Sie schien selbst in ihrem Schlafe unwillig zu sein, da sie die Türe verschlossen fand, begab sie sich mit einer Art Protest wieder zu Bette. Ich erwachte mit der Morgendämmerung und hörte die Vögel vor dem Fenster zwitschern. Lucy wachte ebenfalls auf und sah zu meiner Freude frischer aus als am Tage vorher. All ihre Heiterkeit schien zurückgekehrt zu sein; sie kam in mein Bett, schmiegte sich an mich und erzählte mir von Arthur. Ich sagte ihr, wie besorgt ich um Jonathan sei, und sie versuchte mich zu trösten. Sie hatte damit einigen Erfolg, denn wenn Teilnahme auch an den Tatsachen nichts ändern kann, so kann sie doch das Schicksal leichter erträglich machen.
13. August. – Wieder ein ruhiger Tag, ins Bett ging ich aber doch mit dem Schlüssel um den Hals. Wieder erwachte ich in der Nacht und fand Lucy aufrecht im Bette sitzen und, noch im Schlafe, auf das Fenster deuten. Ich stand ruhig auf, schob den Vorhang zurück und sah hinaus. Es war leuchtender Mondschein, und unsagbar schön lag Land und Meer in dem milden Lichte, in großes, geheimnisvolles Schweigen versenkt. Im Mondlicht flatterte eine große Fledermaus, die in weiten, wirbelnden Kreisen immer wieder und wieder kam. Ein oder zweimal kam sie ganz nahe und flog dann quer über den Hafen weg der Abtei zu. Als ich mich vom Fenster wegwandte, hatte sich Lucy schon wieder umgelegt und schlief friedlich. Dann rührte sie sich die ganze Nacht nicht mehr.
14. August. – Auf der Ostklippe, den ganzen Tag lesend und schreibend. Lucy scheint das Plätzchen ebenso lieb gewonnen zu haben als ich und ist nur schwer hier wegzubringen, wenn sie zum Lunch oder zum Diner oder zum Tee nach Hause soll. Heute nachmittag machte sie eine sonderbare Bemerkung. Wir waren eben daran, zum Diner nach Hause zu gehen und kamen an die Stufen, die vom Westpier heraufführten; dort blieben wir stehen, um die Aussicht noch einmal zu genießen, wie wir es immer tun. Die untergehende Sonne stand schon tief am Horizont und begann gerade hinter Kettleneß zu versinken; das rote Licht fiel hinüber auf die Ostklippe und die alte Abtei und tauchte alles in warme Tinten. Wir schwiegen lange, plötzlich murmelte Lucy wie im Selbstgespräch: »Wie seine roten Augen! Gerade so!« Diese seltsamen Worte, die ganz ohne jeden Zusammenhang gesprochen wurden, erschreckten mich beinahe. Ich wendete den Kopf nach ihr, aber so, daß es nicht aussah, als wollte ich sie anstarren, und bemerkte, daß sie in einem Zustande des Halbschlafes sich befand; ein eigenartiger Zug lag auf ihrem Antlitz, über den ich mir nicht klar zu werden vermochte. Ich sagte nichts, sondern folgte nur der Richtung ihres Blickes. Sie schien auf unsere Bank hinüberzuschauen, auf der eine einzelne dunkle Gestalt saß. Ich war etwas erschreckt darüber, denn einige Augenblicke lang kam es mir vor, als habe der Fremde große Augen, wie leuchtende Flammen; als ich genauer hinsah, zerfloß das Phantasiegebilde. Das rote Sonnenlicht schien hinter unserem Lieblingssitz auf die Fenster der Marienkirche, und Widerschein und Lichtbrechung erweckten wohl den Eindruck, als bewege sich da drüben etwas. Ich machte Lucy auf diese Erscheinung aufmerksam und sie kam rasch zu sich; aber sie sah sehr traurig aus; vielleicht gedachte sie der unheimlichen Nacht, die sie da droben erlebt. Wir sprechen nie darüber; so vermied ich es denn auch heute, und wir gingen heim zum Diner. Lucy hatte Kopfweh und begab sich bald zur Ruhe. Als ich sie schlafen sah, beschloß ich, allein noch einen kleinen Abendspaziergang zu unternehmen; ich ging nach Westen zu, den Klippen entlang, und war voll liebender Sehnsucht nach Jonathan. Als ich heimkehrte – es war heller Mondschein, so hell, daß selbst die Teile unseres Hauses in Crescent, die im Schatten lagen, noch recht gut gesehen werden konnten – – warf ich einen Blick auf unser Fenster und sah Lucy mit herausgelehntem Kopfe dort sitzen. Ich glaubte, sie warte auf meine Rückkehr, und zog deshalb mein Taschentuch, um ihr zu winken. Sie bemerkte nichts und rührte sich nicht. In diesem Augenblick stahl sich der Mondschein um die Ecke des Gebäudes, und das Licht fiel voll auf das Fenster. Da lag Lucy mit dem Kopf auf dem Fensterbrett und hielt die Augen geschlossen. Sie schlief fest, und auf dem Fenstersims neben ihrem Kopfe saß etwas, das wie ein großer Vogel aussah. Ich fürchtete, sie könne sich erkälten; so rannte ich denn die Treppen hinauf. Als ich in das Zimmer trat, ging sie eben in ihr Bett zurück, im tiefsten Schlafe und schwer atmend. Sie hielt die Hand an den Hals gedrückt, als wolle sie sich vor Kälte schützen.
Ich weckte sie nicht auf, sondern wickelte sie nur gut ein. Ich habe Vorsorge getroffen, daß die Türe geschlossen und das Fenster sicher befestigt ist.
Sie sieht so schön aus im Schlafe; aber sie ist bleicher als gewöhnlich, und es liegt eine tiefe, harte Linie unter ihren Augen, die mir nicht gefällt. Ich fürchte, sie hat irgend einen Kummer. Ich möchte gerne herausbringen, was die Ursache davon ist.
15. August. – Stand später auf als gewöhnlich. Lucy war erschöpft und müde und schlief deshalb noch weiter. Beim Frühstück ward uns eine hübsche Überraschung zu Teil. Arthurs Vater fühlt sich gegenwärtig wohler und wünscht, daß die Hochzeit recht bald stattfindet. Lucy ist voll stillen Glückes und ihre Mutter ist froh und besorgt zugleich. Etwas später erzählte sie mir den Grund. Sie ist betrübt, daß sie Lucy, ihre einzige, verlieren soll, und aber doch erfreut, daß sie so früh schon einen Beschützer gefunden hat. Arme, liebe, gute Frau! Sie vertraute mir an, daß schon das Todesurteil über sie gesprochen sei. Sie hat Lucy noch nichts davon gesagt und bat mich um Stillschweigen; ihr Arzt hat ihr eröffnet, daß sie innerhalb weniger Monate werde sterben müssen, da ihr Herz immer schwächer werde. Jederzeit, auch jetzt, würde ein plötzlicher Schrecken im Stande sein, sie zu töten. O, waren wir klug, ihr das schreckensvolle Abenteuer der schlafwandelnden Lucy zu verheimlichen.
17. August. – Zwei ganze Tage lang kein Eintrag in mein Tagebuch. Ich habe mich gefürchtet zu schreiben. Wie ein düsterer Mantel zieht sich irgend ein furchtbares Unglück um uns zusammen. Keine Nachrichten von Jonathan, und Lucy wird immer schwächer, während die Stunden ihrer Mutter gezählt sind. Ich begreife nur nicht, warum Lucy so dahinsiecht. Sie ißt gut, schläft gut und freut sich der guten Luft; aber dabei schwinden die Rosen von ihren Wangen und sie wird jeden Tag schwächer und schlaffer; in der Nacht höre ich sie oft röcheln, als wolle sie ersticken. Ich hielt den Schlüssel jede Nacht fest an mich, aber sie steht auf, geht im Zimmer umher und setzt sich dann an das offene Fenster. Heute Nacht wachte ich auf und fand sie wieder dort hinausgelehnt; sie zu wecken, war mir unmöglich, denn sie lag in Ohnmacht. Als es mir gelungen war, sie wieder ins Leben zurückzurufen, war sie furchtbar schwach und weinte leise zwischen langen, schrecklichen Kämpfen um Atem. Auf meine Frage, wie sie denn dazu käme, am offenen Fenster zu sitzen, schüttelte sie ihr Köpfchen und wandte sich ab. Ich hoffe, ihr Unwohlsein kommt nicht von dem Stich mit der Sicherheitsnadel. Ich untersuchte ihre Kehle, als sie schlief, und bemerkte, daß die kleinen Wunden noch nicht geheilt waren. Sie sind noch offen und größer wie bisher; die Ränder sind weißlich gefärbt. Sie sind wie kleine Kreise mit rotem Zentrum. Wenn sie nicht bis morgen oder übermorgen geheilt sind, werde ich darauf bestehen, daß ein Arzt sich der Sache annimmt.
Brief.
Samuel F. Billington & Sohn, Sachwalter, Whitby,
an Herren Carter, Paterson & Co., London.
17. August.
Meine Herren!
Anliegend empfangen Sie einen Frachtbrief über einen Gütertransport der Great Northern Railway. Die Güter sind, unmittelbar nach Ausladung am Güterbahnhof Kings Croß, in Carfax nächst Purfleet, abzuliefern. Das Haus ist gegenwärtig leer; anliegend finden Sie die Schlüssel, alle mit Zetteln versehen.
Sie werden höflichst ersucht, die im Frachtbrief bezeichneten Kisten (50 Stück) in dem etwas baufälligen Teil des Hauses, der auf beigegebener Skizze mit A bezeichnet ist, abladen zu lassen. Ihr Bevollmächtigter wird den Platz leicht finden, da es die ehemalige Kapelle des Hauses ist. Die Güter gehen mit dem Zuge um 9 Uhr 30 heute Abend ab und treffen morgen nachmittags 4 Uhr 30 in Kings Croß ein. Da unser Klient die Ablieferung so bald als möglich wünscht, wären wir Ihnen sehr verbunden, wenn Sie zu genannter Zeit Fuhrwerke am Bahnhofe von Kings Croß bereitstellen und die Güter sofort an ihren Bestimmungsort bringen lassen wollten. Um allen Verzögerungen vorzubeugen, die durch Anfragen betreffs Bezahlung entstehen könnten, fügen wie einen Check über zehn Pfund (£strl. 10) bei und bitten uns den Empfang zu bestätigen. Sollte die Rechnung diese Höhe nicht erreichen, so bitten wir um Rücksendung des überschießenden Betrages; sollte sie höher sein, so werden wir auf Ihre Benachrichtigung hin Ihnen sofort per Check den Fehlbetrag überweisen. Wenn Sie das Haus verlassen, so wollen Sie die Schlüssel auf dem großen Flur zurücklassen, wo sie dem Besitzer mittels Nachschlüssel zugänglich sind.
Wir bitten Sie, es uns nicht als Verletzung der geschäftlichen Höflichkeit auszulegen, wenn wir die Bitte um äußerste Beschleunigung der Angelegenheit wiederholen.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Samuel Billington & Sohn.
Brief.
Herren Carter, Paterson & Co., London,
an Herren Billington &: Co., Whitby.
21. August.
Sehr geehrte Herren!
Wir bestätigen Ihnen dankend den Empfang von £strl. 10 und senden Ihnen Check über £strl. 1 17 sh. 9. d., laut anliegender Rechnung Mehrbetrag Ihrer Zahlung, zurück. Die Güter sind vollkommen Ihrer Anweisung gemäß abgeliefert und die Schlüssel in einem Paket in dem großen Flur zurückgelassen worden.
Hochachtungsvoll
Carter, Paterson & Co.
Mina Murrays Tagebuch.
18. August. – Ich bin heute sehr glücklich und schreibe auf der Friedhofsbank sitzend. Lucy befindet sich um vieles besser. Letzte Nacht schlief sie sehr gut und störte mich nicht ein einziges Mal. Die Rosen scheinen auf ihre Wangen zurückzukehren, obgleich sie immer noch elend, blaß und krank aussieht. Wenn sie blutarm wäre, so könnte ich die Sache ja begreifen; aber das ist sie nicht. Sie ist heiteren Sinnes und voll von Leben und Frohsinn. All die krankhafte Zurückhaltung ist von ihr gewichen und sie hat mir sogar selbst jene Nacht – – als ob ich daran erinnert werden müßte – – ins Gedächtnis zurückgerufen und daß es diese Bank hier gewesen sei, auf der ich sie schlafend angetroffen habe. Während sie so sprach, klopfte sie mit den Hacken ihrer Stiefelchen gedankenvoll auf den Grabstein und sagte:
»Meine kleinen Füße haben damals keinen großen Lärm gemacht. Der alte Herr Swales hätte sicher gesagt, ich hätte eben nicht gerne Georgie aufgeweckt.« Da sie einmal in einer solchen mitteilsamen Stimmung war, fragte ich sie, ob sie denn in jener Nacht überhaupt geträumt hätte. Ehe sie antwortete, trat der süße, verlegene Zug auf ihr Gesichtchen, den Arthur – – ich nenne ihn nach ihrer Gewohnheit so – – wie er sagte, so gerne hat. Und das ist in der Tat nicht zu verwundern. Dann fuhr sie halb im Traume fort, gleichsam als besinne sie sich auf sich selbst:
»Ich träumte nicht ganz, alles schien Wirklichkeit zu sein. Ich hatte nur den Wunsch, hier auf diesem Platze zu sein, warum, weiß ich nicht; ich fürchtete mich vor etwas, weiß aber nicht vor was. Ich erinnere mich, obgleich ich wahrscheinlich im Schlafe war, daß ich durch die Straßen und über die Brücke gelaufen bin. Ein Fisch sprang gerade hoch, als ich vorbeikam, und ich lehnte mich über das Geländer, um nach ihm zu sehen; dann hörte ich eine Menge Hunde heulen – – die ganze Stadt schien voll heulender Hunde zu sein – – als ich die Treppe betrat. Ich erinnere mich dunkel an etwas Langes, Schwarzes mit roten Augen, die ich neulich beim Sonnenuntergang wieder zu erkennen vermeinte, und wie etwas Süßes und zugleich unendlich Bitteres kam es über mich. Dann meinte ich, in tiefes, grünes Wasser zu versinken und hörte ein Singen in meinen Ohren, wie es die Ertrinkenden vernehmen sollen; und dann hatte ich das Gefühl, als ginge etwas von mir weg, meine Seele schien den Körper zu verlassen und davonzufliegen. Ich glaube mich zu erinnern, daß ich plötzlich den Westleuchtturm unter mir sah und daß ich eine Todesangst empfand, als sei ich bei einem Erdbeben dabei; dann kam ich zu mir und erkannte, daß du mich schütteltest. Ich sah es dich tun, ehe ich es fühlte.«
Dann begann sie zu lachen. Es war mir nicht recht behaglich, und ich hörte ihrer Erzählung atemlos zu. Ich hielt es für besser, ihren Geist nicht bei diesem Thema festzuhalten; so gingen wir denn zu anderen Gesprächen über und Lucy war wieder ganz sie selbst. Als wir heimkamen, hatte die frische Brise günstig auf sie eingewirkt und ihre Wangen schienen in der Tat wieder rosiger. Ihre Mutter war glücklich, sie so zu sehen, und wir verbrachten zusammen einen sehr frohen Abend.
19. August. – Freude, Freude, Freude! Und doch nicht nur Freude. Mein Jonathan ist krank gewesen, darum schrieb er nicht. Das kann ich nun sicher sagen, da ich jetzt den Sachverhalt kenne. Herr Hawkins hat mir den Brief gesandt und schrieb selbst einige, ach so gütige Worte dazu. Ich werde morgen abreisen, zu Jonathan gehen und mich an seiner Pflege beteiligen, wenn es nötig ist, und ihn dann nach Hause bringen. Herr Hawkins meint, es wäre das beste, wir ließen uns gleich dort trauen. Ich mußte über den Brief der Krankenschwester dermaßen weinen, daß er ganz naß ist; ich fühle es an meiner Brust, wo ich ihn trage. Wie Jonathan in meinem Herzen ist, so soll sein Brief zunächst meinem Herzen sein. Meine Reise ist schon festgelegt und das Gepäck bereit. Ich nehme vorerst nur noch ein Kleid zum Wechseln mit; Lucy wird meinen Koffer mit nach London nehmen und ihn mir solange aufbewahren, bis ich darum schreibe, denn es kann sein … Ich darf nicht weiter schreiben; ich darf es erst Jonathan sagen, meinem Gemahl. Der Brief, den er gesehen und berührt, wird mich einstweilen trösten, bis ich bei ihm bin.
Brief.
Schwester Agathe, Joseph- und Marien-Hospital, Budapest,
an Fräulein Mina Murray.
12. August.
Wertes Fräulein!
Ich schreibe Ihnen auf Wunsch des Herrn Jonathan Harker, der selbst noch nicht kräftig genug dazu ist, obgleich seine Heilung Fortschritte macht; wollen wir Gott und dem Hl. Joseph und der Hl. Maria dafür danken. Er befindet sich seit etwa sechs Wochen in unserer Pflege; er litt an einem heftigen Nervenfieber. Er bittet mich, Ihnen seine Grüße zu senden und Ihnen mitzuteilen, daß er mit gleicher Post einen durch mich geschriebenen Brief an Herrn Hawkins, Exeter, gerichtet habe, worin er ihn unter dem Ausdruck seiner Ergebenheit um Entschuldigung für sein langes Ausbleiben bittet und ihm mitteilt, daß der Auftrag ausgeführt ist. Er ersucht noch um einige Wochen Urlaub, um sich in unserem Bergsanatorium völlig erholen zu können, und verspricht dann zurückzukehren. Er hat mich auch gebeten, Ihnen mitzuteilen, daß er nicht genügend Geld bei sich habe und gerne seinen hiesigen Aufenthalt bezahlen möchte, um nicht andere, die der Hilfe dringend bedürfen, zu verkürzen. Ich bin mit Grüßen und warmen Segenswünschen
Ihre
Schwester Agathe.
P. S. Mein Patient schläft, deshalb öffne ich den Brief noch einmal, um einiges beizufügen. Er hat mir viel von Ihnen erzählt und daß Sie in Kürze die Seine werden sollen. Alles Gute über Sie beide! Er hatte ein furchtbares Nervenfieber – wie unser Doktor meint, und seine Fieberphantasien waren gräßlich; von Wölfen und Gift und Blut; von Gespenstern und Dämonen. Ich fürchte mich zu sagen, von was noch allem. Seien Sie immer lieb mit ihm und hüten Sie ihn vor jeder Aufregung; die Spuren einer solchen Krankheit, wie sie ihn erfaßt, verwischen sich nicht so leicht. Wir hätten gerne schon eher geschrieben, aber wir wußten ja nicht an wen, denn er hatte gar nichts bei sich, was uns auch nur den geringsten Anhaltspunkt geboten hätte. Er kam mit dem Zug von Klausenburg, und der Stationsmeister hat dem Pförtner erzählt, daß er in den Bahnhof gerannt sei und laut nach einem Billet nach Hause geschrieen habe. Nach seinem gewalttätigen Auftreten hielt man ihn für einen Engländer und gab ihm ein Billet, soweit der Zug ging.
Seien Sie überzeugt, daß er in guten Händen ist. Er hat alle Herzen durch seine Güte und Vornehmheit gewonnen. Es geht ihm tatsächlich besser, und ich habe keine Zweifel, daß er in einigen Wochen genesen sein wird. Aber der Sicherheit halber bitte ich Sie vorsichtig zu sein. Ich bitte Gott, St. Joseph und die Hl. Maria, daß Ihnen beiden noch recht viele, viele glückliche Jahre beschieden sein möchten.
Dr. Sewards Tagebuch.
19. August. – Eine seltsame, plötzliche Änderung an Renfield letzte Nacht. Gegen acht Uhr begann er zu toben und umherzuschnüffeln, wie ein Hund auf der Spur. Der Wärter war von seinem Gebahren überrascht und munterte ihn auf zu sprechen, da er mein Interesse für den Fall kannte. Der Patient ist gewöhnlich höflich gegen den Wärter, manchmal sogar unterwürfig, aber diese Nacht, sagte mir der Mann, war er überaus anmaßend. Er ließ sich überhaupt nicht herbei, mit ihm zu sprechen. Alles, was er sagte, war:
»Ich wünsche nicht mit Ihnen zu verkehren. Wer sind Sie denn eigentlich? Der Meister ist nahe.«
Der Wärter glaubte, es sei eine plötzliche religiöse Wahnidee, die ihn ergriffen habe. Wenn es so ist, dürfen wir uns auf etwas gefaßt machen; denn ein starker Mensch mit Mordmanie und religiösem Wahnsinn zugleich ist sicher gefährlich. Diese Kombination ist wirklich unheimlich. Um neun Uhr besuchte ich ihn persönlich. Er benahm sich gegen mich wie gegen den Wärter. In seinem Größenwahn kam ihm der Unterschied zwischen mir und dem Bediensteten gar nicht zum Bewußtsein. Seine Idee macht den Eindruck religiösen Größenwahns, und bald wird er sich einbilden, Gott zu sein. Für ein allmächtiges Wesen, wie er es zu sein vermeint, ist der Unterschied zwischen Mensch und Mensch ein zu geringfügiger. Der wahre Gott hält seine schützende Hand auch über den Sperling; der Gott aber, den menschliche Eitelkeit schuf, kennt keinen Unterschied zwischen Adler und Sperling. O, wenn die Menschen nur wüßten!
Eine halbe Stunde oder länger steigerte sich die Erregung Renfields immer mehr und mehr. Ich wollte mir nicht den Anschein geben, als überwache ich ihn, aber ich paßte doch scharf auf. Plötzlich kam der verschmitzte Zug in sein Gesicht, den man immer bemerkt, wenn ein Irrer auf eine Idee kommt. Kopf und Hals zeigten die charakteristische Haltung, die alle Irrenwärter so genau kennen. Er wurde ganz ruhig, ging weg, setzte sich dann in tiefer Ergebung auf den Bettrand und starrte mit glanzlosen Augen ins Leere. Ich hätte gerne gewußt, ob seine Apathie echt oder nur verstellt war; ich versuchte deshalb, ihn in ein Gespräch über seine Ideen zu verwickeln, ein Thema, das nie verfehlt hatte, seine lebhafte Aufmerksamkeit zu erregen. Zuerst antwortete er gar nicht, dann sagte er schließlich mürrisch:
»Zum Henker mit dem allen! Was kümmere ich mich um das Zeug?«
»Was«, sagte ich, »Sie werden mir doch nicht weiß machen wollen, daß Sie sich nicht mehr um Ihre Spinnen kümmern?« (Spinnen sind gegenwärtig sein Steckenpferd, und das Notizbuch füllt sich mit Kolonnen kleiner Zahlen.) Darauf antwortete er die rätselhaften Worte:
»Wenn die Braut den Bräutigam erwartet, glänzen ihre Augen; wenn aber der Bräutigam nahe ist, dann sieht sie nichts mehr, weil in ihren Augen die Tränen stehen.«
Eine Aufklärung wollte er mir nicht geben, und blieb eigensinnig die ganze Zeit, die ich noch bei ihm blieb, auf dem Bettrande sitzen.
Ich bin müde heute Abend und tief verstimmt. Ich muß immer an Lucy denken und was wohl mit ihr sein mag. Wenn der Schlaf nicht bald kommt, dann gibt es Chloral, den modernen Morpheus C 2HCl 3OH 2O! Ich muß nur vorsichtig sein, daß es nicht zur Gewohnheit wird. Nein, ich nehme heute keines! Ich habe an Lucy gedacht und will diesen Gedanken nicht entweihen. Wenn es sein muß, dann gibt es eben eine schlaflose Nacht.
Froh faßte ich den Entschluß; froher noch bin ich, daß ich ihn gehalten habe. Ich hatte unruhig dagelegen und die Glocke nur zweimal schlagen hören. Da kam der Nachtwächter und meldete mir im Auftrage des Aufsehers, daß Renfield entflohen sei. Ich fuhr in meine Kleider und eilte sofort hinunter; mein Patient ist eine zu gefährliche Persönlichkeit, um ihn allein umherstreifen zu lassen. Seine Größenwahnideen könnten anderen gegenüber gefährlich werden. Der Aufseher wartete auf mich. Er sagte, er hätte ihn vor nicht zehn Minuten, als er durch den Türschlitz hineinschaute, wie schlafend liegen sehen. Seine Aufmerksamkeit sei durch das Aufreißen eines Fensters erregt worden. Er rannte zurück in das Zimmer und sah gerade noch die Füße des Patienten im Fenster verschwinden; dann schickte er sofort zu mir. Der Flüchtling war nur mit dem Nachthemd bekleidet und konnte nicht allzuweit weg sein. Der Aufseher meinte, es sei zweckmäßiger, hier vom Fenster aus Renfield zu beobachten und die Richtung seiner Flucht festzustellen, anstatt ihn durch Benützung des Torausganges aus den Augen zu verlieren. Er ist ein plumper Mann und hätte nicht durch das Fenster hinausgekonnt. Ich bin mager und kam mit seiner Hilfe hinaus, und zwar mit den Füßen voran und landete, da nur ein paar Fuß bis zur Erde waren, unversehrt. Der Aufseher rief mir noch nach, daß der Patient nach links sich entfernt habe und in gerader Linie weiter gelaufen sei; dann rannte ich, so schnell ich konnte, in der angegebenen Richtung davon. Als ich den Baumgarten passiert hatte, sah ich eine weiße Gestalt die Mauer überklettern, die mein Besitztum von dem verlassenen Grundstück da drüben trennt. Ich eilte sofort zurück und befahl dem Aufseher, gleich drei oder vier Mann mobil zu machen, um nach Carfax hinüberzukommen für den Fall, daß unser Freund gewalttätig werden würde. Ich selbst ergriff eine Leiter, stieg auf die Mauer und sprang dann auf der anderen Seite hinunter. Ich sah Renfields Gestalt gerade um die Hausecke biegen und eilte hinter ihm her. Auf der andern Seite des Hauses sah ich ihn dann, wie er sich an die alte, eisenbeschlagene Tür der Kapelle preßte. Er sprach offenbar mit irgend jemand, aber ich wagte es doch nicht, so nahe heranzugehen, daß ich den Wortlaut hätte verstehen können. Ich hätte ihn am Ende erschreckt, und er wäre davongelaufen. Ein Volk schwärmender Bienen einzufangen ist eine Kleinigkeit gegen die Verfolgung eines nackten Narren, den der Wunsch beseelt, zu entkommen. Bald merkte ich jedoch, daß er von seiner Umgebung gar keine Notiz nahm, und so riskierte ich es denn, näher heranzugehen, umsomehr als schon meine Leute die Mauer überstiegen hatten und nahe bei der Hand waren. Ich hörte, wie er sagte:
»Ich bin zu Eurem Befehl, Herr. Ich bin Euer Sklave und Ihr werdet mich belohnen, denn ich werde treu sein. Ich habe Euch verehrt seit langem und aus der Ferne … Nun Ihr nahe seid, erwarte ich Eure Befehle, und Ihr werdet mich nicht übergehen, nicht wahr, Herr, teurer Meister, wenn Ihr gute Dinge verteilt?«
Er ist ein egoistischer alter Bettler. Trotz seiner hohen Meinung von sich denkt er an seinen Profit. Seine Wahnideen sind fürwahr eine seltsame Kombination. Als wir ihn festnahmen, wehrte er sich wie ein Tiger. Er ist unbändig stark und gleicht eher einer wilden Bestie als einem Menschen. Ich habe noch nie bei einem Irren einen solchen Paroxysmus der Wut gesehen und habe auch gar keine Lust danach, so etwas öfter zu sehen. Es ist gut, daß wir rechtzeitig seine Stärke und Gefährlichkeit erkannt haben. Mit seiner Kraft und Entschlossenheit hätte er genug Schlimmes anrichten können, bis er wieder eingefangen worden wäre. Aber von der Zwangsjacke, die wir ihm anlegten, hätte sich sogar Jack Sheppard nicht befreien können. Er ist nun mit einer Kette in der Gummizelle festgelegt. Sein Gebrüll ist schreckenerregend, aber die darauf folgenden Pausen sind noch entsetzlicher; in jeder seiner Bewegungen spricht sich die Mordlust aus.
Eben jetzt spricht er zum ersten Male zusammenhängende Worte aus:
»Ich will mich gedulden, Meister. Es kommt, es kommt, es kommt!«
Das ließ ich mir gesagt sein. Ich war zu erregt zum Schlafen, aber mein Tagebuch hat mich beruhigt; ich fühle, daß ich heute Nacht etwas Schlaf finden werde.