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Vierzehntes Kapitel.

Mina Harkers Tagebuch

23. September. – Jonathan ist wieder besser nach einer schlecht verbrachten Nacht. Ich bin froh, daß er reichlich viel zu tun hat, denn es lenkt seinen Geist von all den schrecklichen Dingen ab. Besonders glücklich bin ich darüber, daß er sich nun nicht mehr so sehr von der Verantwortlichkeit seiner neuen Stellung niedergedrückt fühlt. Ich wußte ja, daß er sich selbst treu bleiben werde, und bin nun stolz darauf, daß er sich zu der Höhe seiner Leistungsfähigkeit erhoben hat und in jeder Hinsicht den Pflichten gerecht wird, die auf ihm ruhen. Er bleibt alle Tage lange aus und sagte mir, daß er zum Lunch nicht nach Hause kommen könne. Meine Haushaltarbeiten sind getan; ich werde also sein Reisetagebuch nehmen, mich in mein Zimmer einschließen und es lesen.

24. September. – Ich hatte nicht den Mut heute Nacht zu schreiben, so sehr hat mich Jonathans Bericht entsetzt. Armer Mann! Was mußt du gelitten haben; ganz gleich, ob es Wahrheit oder Einbildung war. Ich möchte wissen, ob ein Fünkchen Wahrheit in dem allem ist. Hat er alle diese Dinge erst geschrieben, nachdem ihn das Nervenfieber ergriffen hatte, oder hatte er doch einen Grund dafür? Vermutlich werde ich darüber wohl nie Aufschluß bekommen, denn ich möchte mit ihm doch nicht darüber sprechen … Und nun haben wir diesen Menschen gestern gesehen! Er schien seiner Sache vollkommen gewiß – –. Armer Mann! Wahrscheinlich hat ihn die Beerdigung aufgeregt und seinen Gedanken diese Richtung gegeben – –. Er glaubt selbst alles. Mir fällt da eben ein, wie er an unserem Hochzeitstage sagte: »Nur wenn eine heilige Pflicht mich zwingen sollte, die bitteren Stunden mir wieder zurückzurufen, schlafend oder wachend, gesund oder irre.« – Ich habe das Gefühl, als zöge sich ein Faden des Zusammenhanges durch das Ganze … Dieser entsetzliche Graf kommt nach London … Wenn es sein sollte, daß er nach London käme mit seinen sich drängenden Millionen … Hier ist vielleicht schon die heilige Pflicht, und wenn sie kommt, dürfen wir nicht vor ihr zurückschrecken … Ich bin zu allem bereit. Ich werde meine Schreibmaschine nehmen und sofort beginnen, das Tagebuch aus dem Stenogramm zu übertragen. Dann haben wir es bei Bedarf für die Augen anderer bereit. Wenn das der Fall sein sollte, dann kann ich vielleicht, wenn ich fertig bin, im Namen meines lieben Jonathan sprechen und kann verhindern, daß er sich neuerdings aufregt und über diese Dinge ängstigt und grämt. Wenn später Jonathan seine Nervosität wegen dieser Dinge verliert, dann wird er vielleicht selbst das Bedürfnis haben, mit mir darüber zu sprechen, und ich kann ihn fragen, Verschiedenes erfahren und dann versuchen, ihn zu beruhigen.

 

Brief.
Van Helsing an Frau Harker.

24. September.

Vertraulich.

Sehr verehrte gnädige Frau!

Ich bin Ihnen insofern bekannt, als ich Ihnen seinerzeit die traurige Nachricht vom Tode Fräulein Westenraas sandte, und bitte um Entschuldigung, wenn ich mich heute wieder an Sie wende. Durch die Liebenswürdigkeit Lord Godalmings bin ich in den Stand gesetzt worden, Fräulein Lucys Briefe und Aufzeichnungen zu lesen, und ich bin tief bekümmert über einige Angelegenheiten von einschneidendster Bedeutung. Ich fand unter den Papieren einige Briefe von Ihnen und ersehe daraus, wie Sie mit Lucy befreundet waren und wie lieb Sie sich gehabt haben. Verehrte Frau, um dieser Liebe willen beschwöre ich Sie, helfen Sie mir. Es ist auch um anderer willen, daß ich diese Bitte stelle, um großes Unrecht wieder ungeschehen zu machen und viel und schreckliches Leid zu verhüten; größeres Leid, als Sie sich vorzustellen vermögen. Kann ich Sie persönlich sprechen? Sie dürfen mir vertrauen. Ich bin mit Dr. Seward und Lord Godalming (Lucys Arthur) eng befreundet. Ich muß die Sache aber einstweilen noch geheim halten. Ich würde nach Exeter kommen, sobald Sie mir die Erlaubnis erteilt haben, Sie zu besuchen, und mir Zeit und Ort angeben. Ich bitte nochmals um Entschuldigung, gnädige Frau. Ich habe Ihre Briefe an Fräulein Lucy gelesen und weiß, wie gut Sie sind und wie sehr Ihr Gatte leidet. Ich bitte Sie, wenn es irgend möglich ist, ihn nicht aufzuklären, damit er nicht wieder krank werde. Ich darf auf Ihre Verzeihung rechnen?

Van Helsing.

 

Telegramm.
Frau Harker an Van Helsing.

25. September. – Kommen Sie heute mit dem Zug ein viertel nach zehn Uhr, wenn noch zu erreichen. Bin jederzeit bereit, Sie zu empfangen.

Wilhelmina Harker.

 

Mina Harkers Tagebuch.

25. September. – Ich kann mich einer gewissen Erregung nicht erwehren, da die Zeit immer näher heranrückt, zu der Van Helsing mich besuchen wird. Ich habe das unbestimmte Gefühl, als ob dadurch auch etwas Licht auf Jonathans traurige Erlebnisse fallen würde; und da er Lucy in ihrer letzten Krankheit behandelt hat, so wird er mir viel von ihr berichten können. Deshalb kommt er ja; es handelt sich um Lucy und ihr Nachtwandeln, und nicht um Jonathan. So soll ich denn also die Wahrheit niemals erfahren! Wie töricht ich bin. Dieses entsetzliche Tagebuch hat meine ganze Phantasie in Bann geschlagen und verleiht allem etwas von seinem düstern Kolorit. Zweifellos kommt er wegen Lucy. Das liebe Mädchen verfiel wieder in jene Gewohnheit, die schreckliche Nacht auf dem Cliff muß es krank gemacht haben. Ich hatte im Drange meiner eigenen Angelegenheiten vergessen, wie übel sie in letzter Zeit daran war. Sie muß ihm von ihrem somnambulen Abenteuer auf dem Cliff erzählt haben und daß ich die ganze Sache kenne; und nun möchte er, daß ich ihm Aufschluß darüber erteile, um etwas Licht in das Dunkel zu bringen. Ich hoffe, ich habe recht daran getan, daß ich Frau Westenraa die Angelegenheit verschwiegen habe; ich könnte es mir nie verzeihen, wenn eine meiner Handlungen oder Unterlassungen der armen Lucy irgend einen Schaden zugefügt hätte. Ich hoffe zuversichtlich, daß Van Helsing mich nicht tadeln wird; ich habe in letzter Zeit so viel Sorgen und Angst gehabt, daß ich – ich fühle es – jetzt augenblicklich nicht imstande wäre, mehr zu ertragen.

Ich denke, ein bißchen Weinen tut uns allen von Zeit zu Zeit recht gut, es erfrischt die Nerven, wie es jeder Regen tut. Vielleicht hat mich das Lesen des Tagebuches gestern Abend so aufgeregt, dann fuhr auch Jonathan heute Morgen weg mit der Absicht, den ganzen Tag und die Nacht auszubleiben. Es ist das erste Mal, daß wir getrennt sind, seit wir verheiratet sind. Hoffentlich gibt Jonathan recht gut acht auf sich; ich wünsche, daß ihm jede Aufregung fernbleibe. Es ist zwei Uhr und der Doktor wird bald hier sein. Ich werde ihm von Jonathans Tagebuch nichts erzählen, außer er fragt danach. Ich bin so froh, daß ich mein eigenes Tagebuch mit der Maschine ins Reine geschrieben habe; ich kann es ihm dann, wenn er etwas von Lucy wissen will, aushändigen. Es wird imstande sein, manche Frage zu beantworten.

Später. – Er ist also gekommen und schon wieder fort. Was war das für ein seltsames Zusammentreffen; mir wirbelt noch immer der Kopf! Mir ist es als wie ein Traum. Kann denn das alles möglich sein oder auch nur ein Teil davon? Hätte ich nicht vorher Jonathans Tagebuch gelesen, ich hätte sogar die geringste Möglichkeit in Abrede gestellt. Armer, lieber Jonathan! Was mußt du gelitten haben! Wenn es Gott gefällt, so soll ihn all das nie mehr aufregen. Ich werde mein Äußerstes tun, ihn davon fernzuhalten. Aber es könnte ihm unter Umständen auch Trost und Sicherheit gewähren – so schreckliche Konsequenzen es auch haben könnte – sicher zu wissen, daß seine Augen, seine Ohren und seine Phantasie ihm keinen Streich gespielt haben und daß alles wahr ist. Es kann ja auch sein, daß es der Zweifel ist, der ihn so quält; daß, wenn der Zweifel beseitigt ist, ganz gleich, wie ihm die Wahrheit des Erlebten oder Erträumten bewiesen wird, er wieder zufriedener sein wird und stärker, um die Erschütterung auszuhalten. Dr. Van Helsing muß ein guter und ein kluger Mann sein, wenn er Arthurs und Sewards Freund ist und wenn man ihn von Holland herberufen hat, um Lucy zu behandeln. Seit ich ihn kennen gelernt, weiß ich, daß er gut, freundlich und eine vornehme Natur ist. Wenn er morgen wiederkommt, werde ich ihn wegen Jonathan befragen, und dann, so Gott will, wird all diese Sorge und Angst doch noch ein gutes Ende nehmen. Ich wollte mich immer schon daran gewöhnen, dem Brauche der Interviewer zu folgen. Jonathans Freund, ein Mitarbeiter der »Exeter News«, erzählte ihm, daß das Gedächtnis in solchen Dingen die Hauptrolle spiele, daß man imstande sein müsse, fast wörtlich alles Gehörte niederzuschreiben, selbst wenn man hinterher einiges daran zu verbessern hätte. Ich hatte ein solches Interview; ich will versuchen, es wörtlich wiederzugeben.

Es war halb drei Uhr, als es klopfte. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und wartete. Nach wenigen Augenblicken öffnete Mary die Türe und meldete Dr. Van Helsing.

Er trat näher; ein Mann mittlerer Größe, kräftig gebaut. Auf einem breiten, gewölbten Brustkasten saß ein schlanker Hals, und auf diesem ein fein geformter Kopf. Der Kopf scheint schwer; es ist dies ein Zeichen von Gedankenfülle und -tiefe; der Kopf ist edel und kräftig. Das glattrasierte Gesicht zeigt ein energisches, eckiges Kinn, einen breiten, entschlossenen, beweglichen Mund, eine schöne, ziemlich gerade Nase mit fein vibrierenden Nüstern, die sich aufzublähen scheinen, wenn die buschigen Brauen sich herabsenken und der Mund sich zusammenpreßt. Die Stirn ist breit und weiß; sie steigt erst steil an und fällt dann nach rückwärts über zwei weit auseinanderstehende Höcker; sie ist so mächtig, daß das rötliche Haar nicht über sie, sondern über die Schläfen und den Hinterkopf herniederfällt. Große blaue Augen, die weit auseinanderstehen, wechseln rasch ihren Ausdruck, je nachdem der Mann freundlich oder ernst aussieht. Er sagte zu mir:

»Bin ich richtig, Frau Harker?« Ich nickte zustimmend.

»Sie hießen früher Mina Murray?« Wieder nickte ich.

»Es ist Mina Murray, die Freundin der teuren Lucy Westenraa, mit der ich zu sprechen gekommen bin. Frau Mina, ich komme wegen der Toten.«

»Herr Doktor«, sagte ich, »eine bessere Empfehlung könnten Sie gar nicht haben, als daß Sie der Freund und Helfer Lucy Westenraas waren.« Ich hielt ihm die Hand hin. Er ergriff sie und sagte freundlich:

»Frau Mina, daß die Freundin des guten, reinen Mädchens gut sein muß, wußte ich schon; aber ich erkenne – – –.« Er schloß mit einer höflichen Verbeugung. Ich fragte ihn, weshalb er mich zu sprechen wünsche, und er antwortete:

»Ich habe Ihre Briefe an Fräulein Lucy gelesen. Verzeihen Sie mir dies, aber ich mußte meine Erkundigungen bei irgend jemand beginnen, und ich wüßte nicht, an wen ich mich sonst zuerst hätte wenden sollen. Ich weiß, daß Sie mit ihr in Whitby waren. Sie führte zeitweise ein Tagebuch. Sie brauchen nicht zu erstaunen, Frau Mina; es wurde erst begonnen, nachdem Sie fort waren, und war nur eine Nachahmung des Ihrigen. In diesem Tagebuch schildert sie gewisse Einflüsse, die sie zum Schlafwandeln brachten, und sie erzählt auch, daß sie einmal bei einer solchen Gelegenheit von Ihnen gerettet worden sei. In großer Bestürzung komme ich also zu Ihnen und bitte, Sie möchten mir in Ihrer großen Güte alles berichten, was Ihnen erinnerlich ist.«

»Ich darf wohl behaupten, Herr Dr. Van Helsing, daß ich Ihnen alles erzählen kann.«

»Ah, dann haben Sie also ein gutes Gedächtnis für Erlebnisse, für Details? Man findet das nicht sehr häufig bei jungen Frauen.«

»Nein, Herr Doktor, aber ich habe seinerzeit alles aufgeschrieben. Ich kann es Ihnen zeigen, wenn Sie wünschen.«

»Ich werde Ihnen sehr dankbar sein, Sie erweisen mir einen großen Gefallen.« Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, ihn erst ein wenig zappeln zu lassen – wahrscheinlich ist dies noch ein Überrest von jener Geschichte mit dem Apfel im Paradies, das uns Frauen anhängt – und gab ihm das stenographierte Tagebuch. Er nahm es mit dankender Verbeugung und sagte:

»Darf ich es lesen?«

»Wenn Sie wünschen, ja«, antwortete ich so unbefangen als möglich. Er öffnete es, und sein Gesicht wurde lang. Dann stand er auf und verbeugte sich.

»O, Sie kluge Frau!« sagte er. »Ich weiß schon längst, daß Herr Jonathan ein sehr tüchtiger Mann ist; aber seine Frau hat alle erdenklichen guten Seiten. Wollen Sie mir nicht die Freude machen, es vorzulesen? Leider kann ich nicht stenographieren.« Da war mein kleiner Scherz zu Ende und ich schämte mich fast darüber. Ich nahm also die mit der Maschine geschriebene Kopie aus meinem Arbeitskörbchen und übergab sie ihm.

»Verzeihen Sie«, sagte ich, »ich konnte nicht anders; aber ich dachte mir, daß Sie wohl der armen Lucy wegen kämen, und so habe ich, damit Sie keine Zeit verlieren – nicht meinetwegen, sondern weil ich weiß, daß Ihre Zeit kostbar ist – alles mit der Maschine für Sie umgeschrieben.«

Er nahm das Schriftstück, und seine Augen glänzten. »Sie sind so gut«, sagte er. »Darf ich es jetzt lesen? Ich möchte Sie einige Dinge fragen, wenn ich gelesen habe.«

»Sehr gern«, sagte ich, »lesen Sie es, während ich den Lunch anordne; dann können Sie mich fragen, und wir essen dabei.« Er verbeugte sich und setzte sich in einen Stuhl, mit dem Rücken gegen das Licht, und vertiefte sich in die Lektüre, während ich hinausging, um nach dem Lunch zu sehen, hauptsächlich aber, um ihn nicht zu stören. Als ich zurückkehrte, fand ich ihn rasch auf- und abgehend; sein Gesicht war von Erregung gerötet. Er eilte auf mich zu und ergriff meine beiden Hände.

»O, Frau Mina«, sagte er, »wie kann ich Ihnen sagen, was ich Ihnen zu danken habe? Diese Schrift ist wie heller Sonnenschein für mich. Sie öffnet mir das Gitter. Ich bin betäubt und geblendet von so viel Licht, und nun versinken die dunklen Wolken vor all dem Licht. Aber das verstehen Sie nicht, können Sie nicht verstehen. Wie bin ich Ihnen dankbar, Sie kluge, gute Frau. Gnädige Frau«, sagte er, auf einmal feierlich werdend, »wenn je Abraham Van Helsing etwas für Sie oder die Ihrigen tun kann, dann weiß ich, daß Sie es mir mitteilen werden. Es wird mir eine Freude und ein Vergnügen sein, wenn ich Ihnen als Freund zur Seite stehen kann; alles, was ich gelernt habe, alles, was ich tun kann, soll geschehen für Sie und für die, die Ihnen teuer sind. Es gibt Lichter im Leben, aber es gibt auch Schatten; Sie sind eines von den Lichtern. Sie werden ein glückliches, schönes Leben haben, und Ihr Gatte wird mit Ihnen gesegnet sein.«

»Aber, Herr Professor, Sie loben mich so sehr und kennen mich gar nicht.«

»Ich Sie nicht kennen, ich, der alt ist und sein Leben lang Männlein und Weiblein studiert habe; ich, der zu seinem Lebensstudium das menschliche Gehirn gewählt hat und alles, was mit diesem zusammenhängt und was aus ihm gefolgert werden kann! Ich habe doch das Tagebuch gelesen, das Sie in Ihrer großen Güte für mich abgeschrieben haben und das in jeder Zeile Wahrheit atmet. Ich, der Ihre lieben Briefe an Lucy gelesen hat, die von Ihrem Lieben und Ihrem Hoffen erzählen, ich sollte Sie nicht kennen! Frau Mina, gute Frauen erzählen all ihr Leben lang, jeden Tag, jede Stunde, jede Minute, aber nur solche Dinge, die Engel lesen können. Und wir Männer, die das zu erkennen imstande sind, haben etwas von Engelsaugen an uns. Ihr Gatte ist eine vornehme Natur, und auch Sie sind vornehm, denn Sie vertrauen; vertrauen können aber nur Naturen, die über das Mittelmaß hinausragen. Und Ihr Gatte? Erzählen Sie mir doch von ihm. Ist er ganz gesund? Ist das Fieber vollkommen geheilt, und ist er stark und munter?« Ich sah hier eine Möglichkeit, ihn über Jonathan zu befragen und sagte:

»Er war ziemlich hergestellt, aber der Tod des Herrn Hawkins hat ihn wieder sehr aufgeregt.« Er unterbrach mich:

»Ja, ja, ich weiß. Ich habe Ihre zwei letzten Briefe auch gelesen.« Ich fuhr dann fort:

»Ich nehme es an, denn als wir letzten Donnerstag in der Stadt waren, hatte er einen Anfall.«

»Was, einen Anfall? So bald nach einem Nervenfieber? Das ist kein gutes Zeichen. Wie war denn der Anfall?«

»Er glaubte jemand wieder zu erkennen, der eine schreckliche Erinnerung in ihm wachrief, der irgendwie mit seinem Nervenfieber im Zusammenhang stand.« Und es kam über mich wie ein Sturm. Das Mitleid mit Jonathan, der Schrecken, der ihn packte, das ganze furchtbare Geheimnis seines Tagebuches und die Sorge, die seit jener Zeit brütend auf mir gelastet hatte, alles kam über mich. Ich glaube, ich war hysterisch, denn ich warf mich vor ihm auf die Knie, erhob meine Hände zu ihm und flehte ihn an, meinen Mann wieder gesund zu machen. Er ergriff meine Hände, hob mich auf und bat mich, auf dem Sofa Platz zu nehmen. Er setzte sich neben mich, hielt meine Hände in den seinen und sagte mit großer Güte in der Stimme:

»Mein Leben ist kahl und einsam und so voll Arbeit, daß mir für Freundschaften wenig Zeit bleibt. Aber seit ich von meinem Freund John Seward hierher berufen wurde, habe ich so prächtige Menschen kennen gelernt und so viel Seelenadel gesehen, daß ich mehr als je – es ist mit meinem vorschreitenden Alter immer ärger geworden – die Einsamkeit meines Lebens empfinde. Glauben Sie mir, ich kam hierher voll Ehrfurcht vor Ihnen, und Sie haben mir die Überzeugung gegeben nicht nur, daß ich das finden werde, wonach ich suchte, sondern die Überzeugung, daß es noch gute Frauen gibt, die das Leben zu einem glücklichen zu machen vermögen; gute Frauen, deren Leben, deren Wirken ein herrliches Beispiel für die Kinder ist, die einst sein werden. Ich bin so froh, daß ich Ihnen einen Gefallen erweisen kann; denn wenn Ihr Gatte leidet, so liegt sein Leiden im Bereich meiner Studien und Erfahrungen. Ich verspreche Ihnen, daß ich von Herzen gern alles für ihn tun will, was ich kann, alles, um sein Leben wieder stark und mannhaft zu gestalten, und das Ihre glücklich zu machen. Aber nun wollen wir essen. Sie sind überarbeitet und vielleicht überängstlich. Jonathan würde es ebenfalls nicht gern sehen, daß Sie so bleich sind, und es ist nicht gut für ihn, wenn ihm an seiner Frau etwas nicht gefällt. Seinetwegen müssen Sie sich zum Essen zwingen. Sie haben mir alles von Lucy erzählt, nun wollen wir nicht weiter darüber sprechen, damit wir nicht zu traurig werden. Ich werde heute Nacht in Exeter bleiben, denn ich habe viel nachzudenken über das, was Sie mir gesagt haben; und wenn ich genügend nachgedacht, dann werde ich noch einige Fragen an Sie stellen, wenn Sie gestatten. Dann können Sie mir auch von Jonathans Leiden erzählen, aber nicht jetzt. Erst müssen Sie essen, dann können Sie berichten, so viel Sie wollen.«

Als wir nach dem Lunch uns wieder im Wohnzimmer befanden, sagte er:

»So, nun erzählen Sie mir von ihm, was Sie wissen.«

Als ich nun zu dem gelehrten Manne sprechen sollte, fürchtete ich fast, er könne mich für eine furchtsame Törin und Jonathan für einen Narren halten – das Tagebuch ist so merkwürdig – und wagte nicht zu reden. Aber er war so gut und freundlich und hatte mir versprochen zu helfen; so schenkte ich ihm mein Vertrauen und sprach:

»Dr. Van Helsing, das, was ich Ihnen zu sagen habe, ist so tolles Zeug, daß ich Sie bitten muß, nicht über mich oder meinen Gatten zu lachen. Seit gestern bin ich in einem geradezu fieberhaften Zweifel. Sie müssen Nachsicht mit mir haben und mich nicht für irrsinnig halten, daß ich einige der seltsamen Dinge auch nur zur Hälfte für wahr halten konnte.« Seine Mienen beruhigten mich ebenso wie seine Worte:

»Verehrte Frau, wenn Sie eine Ahnung hätten, wie seltsam die Sache ist, wegen der ich zu Ihnen komme, wäre das Lachen an Ihnen. Ich habe mir angewöhnt, nie über eines anderen Glauben zu lachen, möge er auch noch so befremdend sein. Ich habe mich stets bemüht, meinen Verstand klar zu erhalten. Die gewöhnlichen Vorkommnisse des Lebens vermögen ihn ja nicht zu verwirren, aber die seltsamen, außerordentlichen Dinge, die einen in Zweifel setzen, ob man bei Sinnen oder irre ist.«

»Dank, tausend Dank! Sie haben mir eine Zentnerlast vom Herzen genommen. Wenn Sie wollen, gebe ich Ihnen etwas zu lesen. Es ist lang, aber ich habe es mit der Maschine geschrieben. Es wird Ihnen von meinem und Jonathans Leid erzählen. Es ist eine Kopie seines Reisetagebuches, und alles das hat sich ereignet. Ich wage nicht zu sagen, einiges davon; Sie werden selbst lesen und sich Ihr Urteil bilden. Wenn ich Sie später wiedersehe, sind Sie vielleicht so gütig mir zu sagen, was Sie davon halten.«

»Ich verspreche es Ihnen«, sagte er, als ich ihm die Papiere einhändigte, »ich komme morgen, so bald ich kann, um Sie und wenn möglich Ihren Gatten zu sehen.«

»Jonathan wird um halb zwölf hier sein; Sie kommen zu uns zum Lunch und werden ihn dabei kennen lernen. Sie können dann vielleicht noch den Schnellzug 3.34 erreichen, der Sie noch vor 8 Uhr nach Paddington bringt.«

Er schien überrascht, daß ich die Züge auswendig wußte; er weiß eben nicht, daß ich mir alle Züge von und nach Exeter eingeprägt habe, damit ich meinem Jonathan helfen kann, wenn er Eile hat.

Er nahm die Papiere an sich und ging, und ich sitze hier, denke nach und weiß nicht worüber.

 

Brief.
Van Helsing an Frau Harker.

25. September, 6 Uhr p. m.

Sehr verehrte Frau Mina!

Ich habe mit Interesse das merkwürdige Tagebuch Ihres Gemahls gelesen. Sie können in Ruhe schlafen. Seltsam und schrecklich, wie es ist, ist es doch wahr! Ich setze meinen Kopf dafür zum Pfande. Es mag für andere ja schlimm aussehen, für Sie und ihn hat es keine Schrecken. Er ist ein vornehmer Charakter. Ich kann Ihnen auf Grund meiner Menschenkenntnis sagen, daß jemand, der, wie er, diese Mauer hinunterstieg und jenes Zimmer betrat – zweimal betrat – nicht auf die Dauer das Opfer einer Nervenkrankheit bleiben kann. Sein Kopf und sein Herz sind in Ordnung, das schwöre ich Ihnen, noch ehe ich ihn gesehen habe. Also seien Sie beruhigt. Ich werde ihn viel über verschiedene Dinge zu fragen haben. Ich schätze mich glücklich, daß ich Sie heute noch sehen soll, denn ich hoffe so viel Neues zu erfahren, daß ich ganz verwirrt werde, verwirrter als je, und nachdenken muß.

Ihr ganz ergebenster

Abraham Van Helsing.

 

Brief.
Frau Harker an Van Helsing.

25. September, 6.30 p. m.

Verehrter Herr Professor!

Vielen Dank für Ihren gütigen Brief, der mir eine Zentnerlast von der Seele genommen hat. Was gibt es, wenn die Aufzeichnungen der Wahrheit entsprechen, für entsetzliche Dinge auf der Welt; und was das Entsetzlichste ist, dieser Mann, dieses Scheusal soll leibhaftig in London weilen! Ich fürchte mich daran zu denken. Soeben erhielt ich von Jonathan ein Telegramm, daß er mit dem Zug um 6.25 abends von Launceston abfährt und 10.18 hier sein wird, sodaß ich für die Nacht keine Angst zu haben brauche. Wollen Sie deshalb, anstatt mit uns den Lunch einzunehmen, schon zum ersten Frühstück um 8 Uhr kommen, wenn es Ihnen nicht allzu früh ist? Sie können, wenn Sie Eile haben, mit dem Zuge um 10.30 abfahren, mit dem Sie dann um 2.35 in Paddington ankommen werden. Eine Antwort auf diesen Brief ist nicht nötig; wenn ich nichts weiter von Ihnen höre, nehme ich an, daß Sie zum Frühstück eintreffen. Ich verbleibe

Ihre ergebene und dankbare Freundin

Mina Harker.

 

Jonathan Harkers Tagebuch.

26. September. – Ich hätte nie gedacht, daß ich wieder in dieses Tagebuch schreiben würde, aber die Zeit ist gekommen. Als ich gestern Nacht heimkam, hatte Mina das Essen fertig, und als wir gespeist hatten, erzählte sie mir von Van Helsings bevorstehendem Besuch, daß sie ihm die zwei umgeschriebenen Tagebücher gegeben hätte und welche Angst sie um mich ausgestanden habe. Sie zeigte mir aus des Professors Brief, daß alles, was ich niedergeschrieben, auf Wahrheit beruht. Es hat scheinbar einen neuen Menschen aus mir gemacht. Es war der Zweifel an der Möglichkeit des Erlebten, was mich so niederdrückte. Ich fühlte mich vollkommen machtlos, tappte im Dunkeln und hatte jedes Selbstvertrauen verloren. Nun aber, da ich alles weiß, fürchte ich nichts mehr, nicht einmal den Grafen. Es ist ihm also allem Anschein nach gelungen, seiner Absicht nach nach London zu kommen, und er war es, den ich sah. Er ist jünger geworden, aber auf welche Weise? Van Helsing ist der Mann dazu, ihn zu entlarven und zu vertreiben, wenn er einigermaßen der Beschreibung entspricht, die Mina mir von ihm gegeben hat. Wir blieben lange zusammen sitzen und besprachen alles. Mina kleidet sich jetzt an, und ich werde in einigen Minuten in seinem Hotel vorsprechen und ihn herüber holen.

Er war scheinbar überrascht, mich zu sehen. Als ich in das Zimmer trat, das er bewohnte, und mich ihm vorstellte, nahm er mich bei der Schulter, drehte mich mit dem Gesicht gegen das Fenster und sagte, nachdem er mich scharf prüfend angesehen:

»Frau Mina hat mir doch erzählt, daß Sie krank seien, daß Sie einen Nervenschock erlitten hätten.« Es war so drollig, meine Frau von diesem gütig, aber energisch aussehenden alten Herrn »Frau Mina« nennen zu hören. Ich lächelte und sagte: »Ich war krank, ich hatte einen Nervenschock, aber Sie haben mich bereits geheilt.«

»Wieso?«

»Durch Ihren gestern Abend an meine Frau geschriebenen Brief. Ich war voller Zweifel, alles hatte damals den Schein der Unwirklichkeit; ich wagte nicht, mich auf irgend etwas, selbst nicht auf meine eigenen Sinne zu verlassen. Und da ich nicht wußte, worauf mich verlassen, wußte ich auch nicht, was ich tun sollte. So lebte ich denn arbeitend mein Leben in gewohnter Weise dahin. Mit diesem Dahindämmern aber kam es, daß alle Erfolge ausblieben, und so verlor ich schließlich das Vertrauen zu mir selbst. Herr Professor! Sie ahnen ja nicht, was es heißt, an allem, sogar an der eigenen Kraft zu zweifeln. Nein, das kennen Sie nicht; Sie, ein Mann mit solch energischen Augenbrauen.« Dies schien ihm zu gefallen und er sagte lachend:

»So, Sie sind also Physiognomiker. Mit jeder Stunde erfahre ich hier Neues. Es wird mir eine große Freude bereiten, das Frühstück mit Ihnen einzunehmen. Und dann, mein Herr, nehmen Sie einem alten Manne das Lob nicht übel, aber Ihre Frau ist wirklich ein Engel.« Ich hätte ihm einen Tag lang zuhören können, wie er meine Mina lobte; ich nickte nur mit dem Kopfe und stand schweigend da.

»Sie ist eine der von Gott gesandten, aus seiner eigenen Hand hervorgegangenen Frauen, die uns Männern und anderen Frauen zeigen sollen, daß es ein Himmelreich gibt, in das wir schon hienieden auf Erden gelangen können. Sie ist so treu, zärtlich, edel und so selbstlos, das will viel bedeuten in unserem skeptischen, egoistischen Zeitalter. Und Sie, mein Herr, ich habe all die Briefe an Fräulein Lucy gelesen, einige davon handeln auch von Ihnen; ich kenne Sie also schon mehrere Tage aus den Beschreibungen, die andere von Ihnen gaben. Ihre wahre Persönlichkeit kenne ich aber erst seit heute Nacht. Geben Sie mir Ihre Hand, wollen Sie? Wir wollen Freunde sein unser Leben lang.«

Wir drückten uns die Hände. Van Helsing war so ernst und gütig, daß mir ganz warm ums Herz wurde.

»Und nun«, sagte er, »darf ich Sie bitten mir zu helfen? Ich habe eine große Aufgabe vor mir und möchte gleich zu Beginn wissen, ob ich auf Sie rechnen darf. Sie können mir viel helfen. Können Sie mir sagen, was Ihrer Reise nach Transsylvanien vorausging? Späterhin werde ich größere und andersgeartete Mithilfe von Ihnen erbitten. Für jetzt mag das genügen.«

»Verzeihen Sie, Herr Professor«, erwiderte ich, »betrifft das, was Sie vorhaben, den Grafen?«

»Es betrifft ihn«, antwortete er feierlich.

»Dann gehöre ich Ihnen mit Leib und Seele. Da Sie mit dem Zug um 10.30 fahren, werden Sie keine Zeit mehr haben, das Bündel Papiere zu lesen, das ich Ihnen übergebe. Sie können es aber mitnehmen und auf der Reise lesen.«

Nach dem Frühstück begleitete ich ihn zum Bahnhof. Als wir uns verabschiedeten, sagte er noch:

»Vielleicht kommen Sie zu mir in die Stadt, wenn ich Sie darum bitten werde, und bringen auch Ihre Gattin mit?«

»Wir werden kommen, wann Sie es wünschen.«

Ich übergab ihm die Morgenzeitung sowie die Londoner Blätter vom Abend vorher, und während wir am Coupeefenster plaudernd auf die Abfahrt des Zuges warteten, überflog er sie rasch. Plötzlich schien sein Auge wie erstarrt auf etwas fest zu haften – es war die »Westminster Gazette«, ich kannte sie an der Farbe – und sein Gesicht wurde aschfahl. Er las aufmerksam weiter, indem er vor sich hinmurmelte: »Mein Gott, mein Gott! So früh, so früh!« Ich glaube, er hatte mich in diesem Augenblick völlig vergessen. Da ertönte die Dampfpfeife, und der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Das brachte ihn zum Bewußtsein, wo er sich befand; er lehnte sich aus dem Fenster, winkte mir noch mit der Hand zu und rief: »Grüßen Sie Frau Mina; ich werde schreiben, sobald ich irgend kann.«

 

Dr. Sewards Tagebuch.

26. September. – Nicht einmal das Ende ist sicher: noch keine Woche ist es her, daß ich »Finis« sagte, und heute schon beginne ich von neuem, oder vielmehr ich fahre in meiner Chronik fort. Bis heute Nachmittag hatte ich keine Gelegenheit, über das nachzudenken, was geschehen ist. Renfield war in jeder Hinsicht vernünftiger geworden als je. Er war mit seinem Fliegenfang schon ziemlich weit vorgeschritten und ging nun zum Spinnenfang über; so hatte er mir kein Kopfzerbrechen verursacht. Von Arthur hatte ich einen Brief erhalten, von Sonntag datiert, und entnehme ihm, daß sein Befinden sich bedeutend bessert. Quincey Morris ist bei ihm. Das ist sehr viel wert, denn er ist wie ein ewig sprudelnder Quell guten Humors. Quincey hatte einige Zeilen beigefügt, in denen er mir mitteilt, daß Arthur schon wieder ein gut Teil seiner alten Spannkraft zurückgewonnen habe. Was also diese beiden betrifft, bin ich außer Sorge. Und ich selbst, ich ging doch ans Werk mit dem Enthusiasmus, den ich ja immer dafür zu haben pflegte. So konnte ich ehrlich behaupten, daß die Wunde, welche mir das Schicksal der armen Lucy geschlagen hatte, zu vernarben beginnt. Nun sind die Wunden wieder aufgerissen, und wie das noch enden soll, weiß Gott allein. Ich vermute, daß Van Helsing meint, es auch zu wissen; er sagt aber nur immer soviel davon, als genügt, um die Neugier zu reizen. Gestern fuhr er nach Exeter und blieb dort die ganze Nacht. Heute kam er zurück und begab sich sofort, etwa um halb sechs Uhr, in das Zimmer und schob mir die gestrige Abendausgabe der »Westminster Gazette« in die Hand.

»Was halten Sie von dem da?« fragte er, indem er zurücktrat und die Arme kreuzte.

Ich ließ die Blicke über das Papier schweifen, denn ich begriff wirklich nicht, was seine Worte bedeuten sollten. Er griff nach dem Blatt und deutete mit dem Finger auf einen Artikel, der die Entführung mehrerer Kinder aus Hampstead behandelte. Es ließ mich sehr kalt, bis ich an eine Stelle kam, wo kleiner, punktförmiger Wunden an den Kehlen der Kinder Erwähnung getan wurde. Eine Idee schoß mir durch den Kopf und ich blickte auf. »Nun?« fragte er.

»Es ist ähnlich wie bei Lucy.«

»Und was halten Sie davon?«

»Einfach, daß alle diese Fälle auf die gleiche Ursache zurückzuführen sind. Dasselbe, was Lucy verletzt hat, hat auch die Kleinen verletzt.« Ich verstand nicht ganz den Sinn seiner Antwort:

»Das trifft indirekt, aber nicht direkt zu.«

»Wie meinen Sie das, Professor?« fragte ich. Ich war etwas geneigt, seinen Ernst leicht zu nehmen, denn nach all dem Ausgestandenen waren vier Tage der Ruhe und Freiheit von der brennenden und herzzerreißenden Angst wohl imstande, wieder etwas froheren Mut aufkommen zu lassen. Aber als ich sein Gesicht sah, wurde ich nachdenklich. Nie, nicht einmal in der tiefsten Verzweiflung um Lucy, hatte er ernster ausgesehen.

»Sprechen Sie doch!« bat ich. »Ich kann mir keine Meinung von dieser Sache bilden. Ich weiß nicht, was ich denken soll, und ich habe auch keine Anhaltspunkte, auf denen ich eine Vermutung aufbauen könnte.«

»Wollen Sie damit sagen, Freund John, daß Sie keine Ahnung haben, woran Lucy gestorben ist? Nach all den Andeutungen, die ich und auch die Ereignisse Ihnen gegeben haben?«

»An nervöser Erschöpfung infolge großen Blutverlustes oder Blutzersetzung.«

»Und was ist an der Blutzersetzung oder dem großen Blutverlust schuld gewesen?« Ich schüttelte den Kopf. Er kam zu mir heran, setzte sich neben mich und fuhr fort:

»Sie sind ein heller Kopf, Sie denken richtig und Ihr Verstand ist scharf, aber Sie stecken zu tief in Vorurteilen. Sie lassen Ihre Augen nicht sehen und Ihre Ohren nicht hören, und was außerhalb Ihres täglichen Lebens liegt, ist für Sie nicht von Bedeutung. Sind Sie denn nicht der Ansicht, daß es Dinge gibt, die Sie nicht begreifen, und was für Dinge? Daß viele Leute Dinge sehen, die Anderen verborgen bleiben? Ach, es ist der Fehler unserer Wissenschaft, daß sie alles zu erklären wünscht; und wenn es ihr nicht gelingt, dann sagt sie, es sei nichts daran zu erklären. So sehen wir jeden Tag neue Richtungen um uns entstehen, die sich selbst für neu halten, sie sind aber alt und geben nur vor, jung zu sein, wie die schönen Frauen auf der Bühne. Ich vermute, Sie glauben nicht an Doppelgängerei. Nein? Oder an Materialisation. Nein? Oder an Astralkörper. Oder an Gedankenlesen. Auch nicht? Oder an Hypnotismus?«

»Ja«, sagte ich, »Charcot hat ihn zur Genüge bewiesen.« »Sie sind also fest davon überzeugt?« fuhr er lächelnd fort. »Ja? Dann wissen Sie also auch ohne Zweifel, was er zu leisten vermag, und sind imstande, den Gedanken des großen Charcot zu folgen. Schade, daß er nicht mehr lebt, um in der tiefsten Seele derer zu lesen, die seinem Einfluß unterworfen sind. Nein? Dann, lieber Freund, muß ich annehmen, daß Sie ihn einfach als Tatsache hingenommen und sich damit zufrieden gegeben haben, obgleich zwischen der Prämisse und der Schlußfolgerung eine ungeheuere Lücke klafft. Nicht? Dann sagen Sie mir – ich beschäftige mich doch mit der Wissenschaft vom Gehirn – wie Sie den Hypnotismus anerkennen und die Gedankenübertragung ableugnen können. Lassen Sie sich sagen, die Elektro-Wissenschaft vollbringt heute Dinge, die von den Erfindern der Elektrizität selbst als Gotteslästerung verdammt worden wären, um derentwillen man vor nicht allzu langer Zeit als Hexenmeister den Scheiterhaufen hätte besteigen müssen. Geheimnisse gibt es immer im Leben. Methusalem lebte 900 Jahre und ›Old Parr‹ 196 Jahre. Warum konnte die liebe Lucy mit dem Blut von vier starken Männern in den Adern nicht noch einen Tag länger leben? Weil wir sie hätten retten können, wenn sie einen Tag länger gelebt hätte. Kennen Sie den Zusammenhang der vergleichenden Anatomie, und können Sie mir sagen, warum in einem Menschen tierische Eigenschaften ruhen und im andern nicht? Können Sie mir erklären, warum, während einzelne Spinnen frühzeitig und klein sterben müssen, jene eine große Spinne im Turm einer alten spanischen Kirche jahrhundertelang lebte, wuchs und wuchs, bis sie, an ihrem Faden sich herunterlassend, das Öl der ewigen Lichter austrinken konnte. Können Sie mir sagen, warum es in den Pampas und anderswo Fledermäuse gibt, die zur Nachtzeit über Rinder und Pferde herfallen und ihnen das Blut bis zum letzten Tropfen aus den Adern saugen; warum es auf einigen Inseln des Stillen Ozeans Fledermäuse gibt, die den ganzen Tag über, nach Beobachtungen von Reisenden, wie ungeheure Nüsse oder Früchte an den Bäumen hängen und zur Nachtzeit, wenn die Matrosen wegen der Hitze auf Deck schlafen, auf diese herniederflattern, die man dann am andren Morgen als Leichen vorfindet, weiß und blutleer wie Fräulein Lucy?«

»Großer Gott, Herr Professor«, sagte ich erschreckt auffahrend, »wollen Sie damit sagen, daß Lucy das Opfer einer solchen Fledermaus wurde und daß ein solches Wesen im neunzehnten Jahrhundert hier in London vorkommen kann?« Er gebot mir durch einen Wink mit der Hand Stillschweigen und fuhr fort:

»Können Sie mir sagen, warum die Schildkröte Generationen von Menschen überlebt, warum der Elefant ganze Dynastien in das Grab steigen sieht und warum der Papagei nie anders stirbt als durch den Biß eines Hundes oder einer Katze oder an ähnlichen Zufälligkeiten? Können Sie mir sagen, warum zu allen Zeiten und in allen Erdteilen die Menschen glaubten, daß es Einzelne gibt, die immer weiter leben, wenn man es ihnen nicht unmöglich macht; daß Männer und Frauen existieren, die nicht sterben können? Wir alle wissen – denn die Wissenschaft verbürgt sich für die Tatsache – daß Kröten Tausende von Jahren eingeschlossen in Höhlungen, die gerade groß genug für sie waren, seit der Jugendzeit der Erde gelebt haben. Können Sie mir sagen, wie es die indischen Fakire machen, daß sie sterben und begraben werden, daß man dann ihr Grab versiegelt und Getreide darauf sät, das reift und geschnitten wird, und wieder neues sät und, wenn reif, geschnitten wird, und wenn dann Leute kommen und das unverletzte Siegel abnehmen, der indische Fakir daliegt, keineswegs tot, sondern aufsteht und wieder unter ihnen wandelt wie zuvor?« Hier unterbrach ich ihn, ich war ganz verwirrt. Er überhäufte meinen Verstand dermaßen mit Naturexzentrizitäten und möglichen Unmöglichkeiten, daß meine Phantasie Feuer zu fangen begann. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, daß er mir da eben eine Lektion erteilte wie vor Zeiten in seinem Hörsaal; jedoch damals pflegte er die Dinge so zu erklären, daß man das Objekt immer im Gedächtnis hatte. Aber heute war ich ohne dieses Hilfsmittel. Da ich jedoch seinen Ausführungen zu folgen wünschte, sagte ich:

»Herr Professor lassen Sie mich wieder Ihren Lieblingsstudenten sein. Sagen Sie mir die Thesis, damit ich Ihre fortschreitenden Folgerungen verstehe. Gegenwärtig gehe ich in meinem Verstande im Zickzack, so wie ein Narr, aber nicht ein Vernünftiger, eine Idee verfolgt. Ich fühle mich wie einer, der sich zum ersten Mal im Nebel in einen Sumpf verlaufen hat, und springe von einem Binsenbüschel zum anderen, lediglich in dem blinden Bestreben, vorwärts zu kommen, ohne aber zu wissen wohin.«

»Das ist ein guter Vergleich«, sagte er. »Nun gut, ich will es Ihnen sagen. Meine Thesis ist: Sie sollen glauben.«

»Woran glauben?«

»An Dinge, an die Sie nicht glauben können. Lassen Sie mich die Sache illustrieren. Ich hörte einmal einen Amerikaner den Glauben folgendermaßen definieren: ›Glaube ist das, was uns befähigt, Dinge für wahr zu halten, von denen wir wissen, daß sie unwahr sind.‹ Ich meinerseits gebe dem Mann recht. Er will sagen, daß wir unseren Verstand offen halten und nicht ein kleines Stückchen Wahrheit den Ansturm einer großen Wahrheit aufhalten lassen sollen, wie ein kleiner Stein einen Eisenbahnzug zum Entgleisen bringen kann. Wir nehmen eine kleine Wahrheit zuerst hin. Wir halten sie fest und schätzen sie; aber trotzdem dürfen wir nicht glauben, daß wir damit alle Weisheit der Welt besäßen.«

»Dann wünschen Sie also, daß nicht ein vorgefaßtes Urteil die Aufnahmefähigkeit meines Verstandes in Bezug auf einige sonderbare Erscheinungen beschränke. Habe ich Ihre Lektion richtig aufgefaßt?«

»Sie sind doch immer mein begabtester Schüler. Sie sind es wirklich wert, daß man Sie unterrichtet. Nicht nur, daß Sie den guten Willen haben, zu verstehen, Sie haben auch schon den ersten Schritt zum Verständnis getan. Sie sind also der Ansicht, daß die winzigen Wunden an den Kehlen der Kinder von demselben Wesen herrühren wie die an Lucys Kehle?«

»Ich denke.« Er stand auf und sagte in feierlichem Tone:

»Fehlgeschossen! Ich wollte, es wäre so! Aber nein, leider ist es nicht der Fall. Es ist schlimmer, viel, viel schlimmer.«

»Um Gottes Willen, Herr Professor, was soll das heißen?« rief ich.

Er warf sich mit einer verzweifelten Miene in einen Stuhl und sagte, indem er seine Ellbogen auf den Tisch stützte und das Gesicht in den Händen verbarg:

»Lucy war es, die sie hervorbrachte.«


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