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Brief. Mina Harker an Lucy Westenraa
Budapest, 24.8.
Liebste Lucy!
Ich weiß, du wirst neugierig sein, zu hören, was unterdessen sich ereignet hat, seit wir von Whitby abreisten. Also, meine Liebe, ich kam wohlbehalten nach Hull und bestieg da das Schiff nach Hamburg, von wo aus ich mit der Bahn weiter fuhr. Meine Gedanken waren während der ganzen Fahrt natürlich darauf gerichtet, daß ich Jonathan sehen sollte und daß es gut wäre, recht viel zu schlafen, da es doch in nächster Zeit viel Nachtwachen geben werde … Ich fand meinen Liebsten, ach Gott, so mager und bleich und schwach. All seine Entschlossenheit ist aus seinen lieben Augen entschwunden, und die ruhige Würde, die auf seinem Gesichte lag, wie ich dir doch oft schon erzählte, ist dahin. Er ist nur mehr ein Wrack, und er erinnert sich auf geraume Zeit zurück an gar nichts mehr. Schließlich will er in mir nur diesen Glauben erwecken, und ich werde ihn auch nie darüber befragen. Er hat einen schrecklichen Nervenschock erlitten und ich fürchte, es könnte sein Gehirn wieder in Unordnung bringen, wenn er sich bemüht, die Erinnerungen aufzufrischen. Schwester Agathe, ein gutes Geschöpf und die geborene Pflegerin, sagte mir, daß er von schauerlichen Dingen gesprochen, als er noch im Delirium lag. Ich bat sie, mir einiges davon zu erzählen, aber sie bekreuzigte sich und beteuerte mir, sie würde nie darüber sprechen; die Phantasien Kranker seien heilige Geheimnisse, und die Pflegerinnen, die infolge ihre Berufes solche zu hören bekommen, müßten sie als heilig respektieren. Sie ist eine weiche gute Seele. Als sie am nächsten Tage bemerkte, daß ich mir doch Gedanken machte, kam sie wieder auf das Thema zurück und sagte mir, indem sie noch einmal besonders beteuerte, daß sie niemals von dem sprechen werde, was mein armer Schatz in seinen Fieberträumen sah: »Zur Beruhigung kann ich Ihnen ja das eingestehen, daß es nichts war, wegen dessen er sich zu schämen hätte; und Sie, die sein Weib werden wollen, brauchen sich gar nichts Schlimmes dabei zu denken. Er hat Sie niemals vergessen und das, was er Ihnen schuldig ist. Er hatte Furcht vor schrecklichen Dingen, die keine sterbliche Seele zu ertragen vermöchte.« – Die gute Seele meint scheinbar, ich fürchte, daß mein armer Geliebter in irgend ein anderes Mädchen sich verliebt haben könnte. Eine solche Idee, ich eifersüchtig auf Jonathan! Und doch, Liebe, laß dir eingestehen, es ging mir ein Zucken der Freude durch die Seele, als ich wußte, daß keine andere Frau an seiner Krankheit die Schuld trug. Ich sitze gerade auf seinem Bette und kann ihm ins Gesicht sehen, während er schläft. Eben wacht er auf … Als er wach war, bat er mich um seinen Rock, da er etwas aus der Tasche nehmen wollte; ich sagte es Schwester Agathe, und diese brachte ihm alle seine Sachen. Ich sah darunter auch ein Notizbuch und wollte ihn eben bitten, mich einen Blick hineinwerfen zu lassen – – ich wußte, daß ich dann einen Schlüssel für seine Krankheit gefunden hätte – –, aber er mußte mir wohl meinen Wunsch an den Augen abgelesen haben, denn er schickte mich an das Fenster, indem er mich bat, ihn einen Augenblick allein zu lassen. Auf seinen Ruf kam ich dann wieder zurück; er hielt seine Hand über dem Notizbuch und sagte feierlich zu mir: »Wilhelmine.« – Ich wußte, daß er jetzt im tiefsten Ernste sprechen wollte, denn er hat mich mit diesem Namen nie mehr genannt, seit er um meine Hand bat. – »Du weißt, Liebste, meine Anschauungen über das Vertrauen zwischen Mann und Frau. Es soll kein Geheimnis, kein Versteckspiel geben. Ich habe ein furchtbares Nervenfieber gehabt, und wenn ich daran denke, was ich da alles sah, so beginnt mein Gehirn sich im Kreise zu drehen, und ich weiß nicht mehr, war das, was ich sah, Wahrheit oder die Phantasie eines Irren. Du weißt, ich hatte eine Gehirnhautentzündung, und das ist geeignet, einen wahnsinnig zu machen. Hier ist das Geheimnis, ich wage nicht, es zu wissen. Ich gedenke mein Leben wieder neu aufzunehmen, indem ich dich heirate.« Weißt Du, Liebste, wir hatten nämlich beschlossen zu heiraten, sobald die Formalitäten erfüllt seien. »Nun, Wilhelmine, frage ich dich: bist du gewillt, meine Unwissenheit in dieser Sache mir zu erhalten? Hier ist das Buch. Nimm es und bewahre es auf; lies es auch, wenn du willst, aber lasse mich nie davon wissen. Nur wenn eine heilige Pflicht mich dazu zwingen würde, mir die bitteren Stunden ins Gedächtnis zurückzurufen, über die ich hier, schlafend oder wachend, gesund oder im Irrsinn, geschrieben.« Er sank erschöpft zurück, und ich legte das Buch unter sein Kissen und küßte ihn. Ich habe Schwester Agathe zum Priester gesandt und ihn bitten lassen, daß die Vermählung heute nachmittag stattfinden dürfe, und erwarte seinen Bescheid.
Sie ist wieder zurückgekommen und hat mir mitgeteilt, daß nach dem Kaplan der englischen Missionskirche geschickt wurde. Wir sollten in einer Stunde getraut werden oder aber sobald Jonathan erwacht.
Lucy, der Augenblick kam rasch heran. Es war mir sehr feierlich zu Mute, aber ich war glücklich, sehr glücklich. Jonathan erwachte nach einer Stunde, und alles war bereit. Er setzte sich im Bette auf, hinter seinen Rücken hatten wir ihm Kissen gelegt, um ihn zu stützen. Er sagte sein »Ich will« fest und entschieden; ich konnte kaum sprechen, mein Herz war so voll, daß sogar diese zwei einfachen Worte mich zu ersticken schienen. Die Klosterschwestern waren alle so gütig; nie werde ich sie vergessen und den großen Dank, den ich ihnen schulde. Ich muß Dir aber nun von meiner gegenwärtigen Ehe erzählen. Als der Kaplan und die Schwestern mich mit meinem Manne allein gelassen hatten – – o, Lucy, es ist das erste Mal, daß ich schreibe »mein Mann« – – nahm ich das Buch unter seinem Kissen hervor und wickelte es in weißes Papier; dann band ich es mit einem Endchen blauen Bandes, das mein Brauthemd schmückte, siegelte es über dem Knoten und benützte als Petschaft meinen Trauring. Dann küßte ich es, zeigte es meinem Manne und sagte ihm, daß ich es so aufbewahren wolle als äußeres, sichtbares Zeichen unseres gegenseitigen Vertrauens für das ganze Leben; daß ich es nie öffnen wolle, außer, es wäre um seiner selbst willen oder in Erfüllung irgend einer ernsten Pflicht. Dann nahm er meine Hand in die seine und, ach, Lucy, es war das erste Mal, daß er die Hand seiner »Frau« ergriff, und sagte, es wäre das Schönste auf der Welt und er würde dafür gerne noch einmal all das Vergangene durchmachen, wenn es sein müßte.
Nun, Liebste, was konnte ich ihm darauf erwidern? Ich konnte ihm nur versichern, daß ich die glücklichste Frau auf der Welt sei und daß ich ihm weiter nichts zu geben hätte als mein Dasein, meinen Glauben und mich selbst, und daß ihm mein Leben und meine Anhänglichkeit auf immer gehören sollte. Und, Liebste, als er mich dann an sich zog mit seinen schwachen Händen und mich küßte, da war es wie ein feierliches Gelübde zwischen uns.
Liebe Lucy, weißt du, warum ich Dir das alles erzähle? Nicht nur, weil es mir selbst Freude macht, sondern auch weil Du mir so unendlich lieb warst und bist. Ich hatte das große Glück, Dir Freundin und Führerin zu sein seit dem Tage, da Du die Schule verließest, um Dich für das Leben in der großen Welt vorzubereiten. Ich möchte Dich gerne auch jetzt mit den Augen eines glücklichen Weibes sehen; ich wünsche Dir, daß Deine Ehe auch so schön werden möge als die meine. Liebes Kind, ich bitte den Allmächtigen, das Leben möchte Dir alles werden, was es versprach: ein langer Sonnentag ohne allzu rauhe Winde, ohne Pflichtvergessenheit, ohne Mißtrauen. Ich wünsche Dir nicht, daß das Leben Dir gar kein Leid bringe, das ist undenkbar; ich wünsche Dir nur, daß Du immer so glücklich seist, als ich es jetzt bin. Leb wohl, mein Liebling. Ich werde den Brief sofort aufgeben, vielleicht schreibst Du mir bald wieder. Ich muß nun aufhören, denn Jonathan wacht eben auf – …; ich muß meinen Gemahl pflegen.
Stets Deine
Mina Harker.
Brief.
Lucy Westenraa an Mina Harker.
Whitby, 30. August.
Liebste Mina!
Meere von Liebe über Dich und Millionen von Küssen, möchtest Du bald mit Deinem Gemahl in Deinem eigenen Heim Einzug halten. Ich wollte, Ihr kämet so frühzeitig, daß Ihr hier bei uns noch Aufenthalt nehmen könntet; die kräftige Seeluft würde Jonathan sehr wohl tun; sie hat auch mich geheilt. Ich habe Hunger wie ein Kormoran, bin voll Lebenslust und schlafe vorzüglich. Du wirst es sicher gerne hören, wenn ich Dir mitteile, daß ich das Nachtwandeln völlig aufgegeben habe. Ich glaube, es ist schon eine ganze Woche, daß ich bei Nacht aus dem Bette war, d. h. wenn ich mich überhaupt niederlege. Arthur sagt, ich werde fett. Bei dieser Gelegenheit fällt mir ein, daß ich ja beinahe vergessen hätte, Dir zu erzählen, daß Arthur hier ist. Wir machen Spaziergänge und Spazierritte und fahren und rudern und fischen und spielen Tennis zusammen; dabei habe ich ihn lieber als je. Er sagte mir auch, daß er mich noch mehr liebe, aber ich glaube es ihm nicht, denn früher hat er mir wiederholt beteuert, daß seine Liebe keiner Steigerung fähig sei. Doch das ist ja Kinderei. Eben kommt er und ruft nach mir. Also Schluß für heute. Mit herzlichem Gruß
Deine Lucy.
P. S. Mutter sendet ihre besten Grüße; es geht ihr scheinbar jetzt etwas besser, der armen Frau.
P. P. S. Wir machen am 28. September Hochzeit.
Dr. Sewards Tagebuch.
20. August. – Der Fall Renfield wird immer interessanter. Er hat sich nun soweit beruhigt, daß wenigstens Pausen in seinen Tobsuchtsanfällen stattfinden. Die erste Woche nach seinem großen Anfall war er immer gewalttätig. Dann, eines Nachts, als gerade der Mond aufging, wurde er ruhiger und murmelte immer vor sich hin: »Nun kann ich warten, nun kann ich warten.« Der Wärter teilte mir dies mit und ich eilte sofort hinunter, um den Patienten zu sehen. Er war noch in der Zwangsjacke und in der Gummizelle; aber der verstörte Ausdruck war aus seinem Gesichte gewichen und seine Augen hatten wieder ihre bittende, ich möchte fast sagen »kriechende« Sanftmut. Ich war mit seinem gegenwärtigen Zustande recht zufrieden und gab den Auftrag, ihn freizumachen. Die Wärter zögerten, führten dann aber schließlich meinen Befehl ohne Murren aus. Der Patient war merkwürdigerweise so gut gelaunt, daß er ihre Unzufriedenheit bemerkte; er trat nahe an mich heran und sagte, zuweilen verstohlen auf die anderen hinblinzelnd:
»Die da denken, ich könnte Sie verletzen! So was Dummes, ich Sie verletzen! Dumme Teufel!«
Es war immerhin ein angenehmes Gefühl zu wissen, daß er in seinem kranken Gehirn doch einen Unterschied zwischen mir und den Anderen machte; aber trotzdem bin ich nicht imstande seinem Gedankengange zu folgen. Muß ich annehmen, daß wir etwas Gemeinsames haben, das ihn zwingt, zu mir zu halten, oder erwartet er etwas so Wunderbares von mir, daß ihm meine gute Stimmung von Wert erscheint? Ich muß das noch herausbringen. Heute abend will er nicht sprechen. Sogar die Aussicht auf ein Kätzchen oder selbst eine ausgewachsene Katze vermag ihn nicht dazu zu bewegen. Er sagt einfach: »Ich habe keinen Sinn für Katzen. Ich habe jetzt an anderes zu denken, und ich kann warten, ich kann warten.«
Einige Zeit später verließ ich ihn. Der Wärter berichtet mir, daß er ruhig war bis kurz vor Tagesanbruch und daß er, anfangs nur mißgelaunt, später gewalttätig wurde und schließlich in eine Art Tobsucht verfiel, die ihn bis zur Ohnmacht erschöpfte. Drei Nächte immer dieselbe Erscheinung, den Tag über gewalttätig, dann ruhig von Mondaufgang bis Sonnenaufgang. Ich möchte doch wissen, wie dies zugeht. Es macht den Eindruck, als unterläge er einem Einfluß, der bald kommt, bald geht. Glückliche Idee. Wir werden heut Nacht den gesunden Verstand gegen den kranken ausspielen. Das letzte Mal ist er ohne unsere Mithilfe entwichen, diesmal soll es mit ihr geschehen. Wir werden ihm Gelegenheit geben und die Leute bereit halten, ihm zu folgen, falls es nötig werden sollte.
23. August. – »Immer geschieht das Unerwartete.« Wie gut doch Disraeli das Leben kannte! Unser Vogel fand den Käfig offen, wollte aber nicht entfliegen; so wurden denn alle unsere Pläne zu Wasser. Auf alle Fälle aber haben wir eines herausgebracht: nämlich, daß die Perioden der Ruhe ziemlich lange dauern. Wir werden in Zukunft imstande sein, ihm seine Fesseln jeden Tag ein paar Stunden abzunehmen. Ich habe dem Nachtaufseher Befehl gegeben, ihn lediglich eine Stunde vor Sonnenaufgang in die Gummizelle zu sperren, so lange er noch ruhig ist. Der Körper des armen Teufels wird die Erleichterung wohltätig empfinden, wenn auch vielleicht sein Geist sich keine Rechenschaft darüber zu geben vermag. Da! Wieder das Unerwartete! Ich werde gerufen, der Patient ist neuerdings entflohen.
Später. – Wiederum ein nächtliches Intermezzo. Renfield wartete schlauer Weise die Inspizierung des Nachtaufsehers ab. Dann huschte er hinter ihm hinaus und rannte den Gang hinunter. Ich gab den Wärtern Auftrag, ihm zu folgen. Wieder stieg er in den verlassenen Garten und wieder fanden wir ihn am alten Platze, dicht an die Kapellentür gepreßt. Als er mich erblickte, wurde er rasend und hätte mich unfehlbar getötet, wenn nicht die Wärter rechtzeitig zur Hand gewesen wären. Nachdem es uns gelungen war, ihn festzuhalten, geschah etwas Unerklärliches. Erst verdoppelte er seine Anstrengungen und beruhigte sich dann sehr rasch. Ich sah unwillkürlich herum, konnte aber nichts wahrnehmen. Dann folgte ich der Richtung des Blickes meines Patienten, bemerkte aber nichts, als daß er einer im Mondlicht flatternden großen Fledermaus nachstarrte, die schweigend gespenstisch gegen Westen flog. Fledermäuse pflegen in der Regel zu flattern und zu schwirren, diese aber zog gerade ihres Weges, als wenn sie einem besonderen Ziele zustrebe und irgend eine bestimmte Absicht verfolge. Der Patient wurde immer stiller und sagte schließlich:
»Sie brauchen mich nicht zu fesseln; ich gehe ruhig mit.« Ohne Störung gelangten wir nach Hause zurück. Ich fühle, daß etwas Ominöses in seiner Ruhe liegt, und werde diese Nacht nie vergessen.
Lucy Westenraas Tagebuch.
Hillingham, 24. August. – Ich muß Mina nachahmen und versuchen, Aufzeichnungen zu machen. Dann haben wir Stoff genug zum Plaudern, wenn wir uns wiedersehen. Ich wollte, sie wäre bei mir, denn ich fühle mich so unglücklich. Letzte Nacht war es mir, als hätte ich denselben Traum, wie ich ihn in Whitby gehabt habe. Vielleicht ist der Luftwechsel oder die Freude der Heimkehr daran schuld. Alles ist dunkel und schreckhaft in mir; ich kann mich an gar nichts erinnern, aber ich bin voll unbestimmter Angst und fühle mich so schwach und erschöpft. Als Arthur zum Lunch kam und mich erblickte, sah er sehr bekümmert aus, und ich hatte gar nicht den Mut, vergnügt zu sein. Vielleicht kann ich heute Nacht bei der Mutter im Zimmer schlafen; ich werde schon einen Vorwand finden.
25. August. – Wieder eine schlechte Nacht. Mutter war nicht geneigt, auf meinen Wunsch einzugehen. Sie fühlte sich selbst nicht recht wohl und fürchtete ohne Zweifel mir Sorge zu machen. Ich machte den Versuch, wach zu bleiben, und eine Zeit lang war es mir auch möglich. Als es zwölf Uhr schlug, erwachte ich aus einem leichten Schlummer, ich mußte also doch eingeschlafen sein. Ich hörte ein Kratzen und Flattern am Fenster, aber ich machte mir nichts daraus, und da ich mich an nichts weiteres erinnern kann, muß ich annehmen, daß ich neuerdings in Schlummer gefallen bin. Wieder hatte ich so häßliche Träume. Wenn ich mich ihrer nur entsinnen könnte! Heute früh war ich sehr schwach. Mein Gesicht ist geisterhaft bleich und meine Kehle schmerzt mich. Es muß an meinen Lungen etwas nicht in Ordnung sein, denn es fällt mir so schwer, genügend Luft zu schöpfen. Ich will versuchen heiterer zu sein, wenn Arthur kommt, sonst wird er sehr unglücklich sein, mich so zu sehen, das weiß ich.
Brief.
Arthur Holmwood an Dr. Seward.
Albemarle Hotel, 31. August.
Lieber Jack!
Ich bitte dich, erweise mir einen Gefallen. Lucy ist krank, d. h. sie hat kein besonderes Leiden, aber sie sieht entsetzlich schlecht aus und wird von Tag zu Tag elender. Ich habe sie gefragt, ob das irgend einen Grund habe; ich wagte es nicht, ihre Mutter um Rat zu bitten, denn es wäre gefährlich, die arme Frau in ihrem jetzigen Zustande auch noch mit Lucys Krankheit zu ängstigen. Frau Westenraa hat mir gestanden, daß ihr Todesurteil schon gesprochen sei – – Herzleiden – –, wovon die gute Lucy jedoch nichts weiß. Ich bin überzeugt, daß irgend etwas das Gemüt meines lieben Mädchens bedrückt. Ich bin ganz außer mir, wenn ich an sie denke, und es tut mir weh, wenn ich sie nur ansehe. Ich sagte ihr, ich würde dich bitten, sie zu untersuchen; sie machte erst Einwendungen – – ich weiß schon warum, alter Freund – –, gab aber dann doch ihre Zustimmung. Es ist eine schreckliche Aufgabe für Dich, das weiß ich wohl, alter Junge, aber es geschieht um ihretwillen, und ich zögere nicht Dich zu bitten, wie Du nicht zögern darfst zu handeln. Du kommst morgen um zwei Uhr zum Lunch nach Hillingham, damit Frau Westenraa keinen Argwohn faßt; nach dem Lunch wird Dir Lucy Gelegenheit geben, sie allein zu sprechen. Ich komme dann zum Tee, und wir können zusammen weggehen. Ich bin von Todesangst erfüllt und möchte Dich sobald als möglich, wenn Du sie untersucht, konsultieren. Laß mich nicht im Stich.
Arthur.
Telegramm.
Arthur Holmwood an Dr. Seward.
1. September.
Bin zu meinem Vater gerufen worden, der wieder schlechter wurde. Ich schreibe. Gib mir ausführlich Bericht mit der Abendpost nach Ring. Wenn nötig, telegraphiere.
Brief von Dr. Seward an Arthur Holmwood.
2. September.
Lieber alter Freund!
Betreffs Fräulein Westenraas Befinden beeile ich mich Dir mitzuteilen, daß nach meiner Ansicht keine funktionelle Störung oder irgend eine mir bekannte Krankheit nachzuweisen ist. Allerdings bin ich mit ihrem Aussehen keineswegs zufrieden; sie hat sich außerordentlich verändert, seit ich sie zum letzten Male sah. Jedenfalls bitte ich Dich zu bedenken, daß ich nicht die volle Freiheit zu meiner Untersuchung gehabt habe, wie ich sie bedurft hätte; unsere innige Freundschaft legt uns eben Schranken auf, die ärztliche Wissenschaft und ärztlicher Brauch nicht zu durchbrechen vermögen. Ich werde Dir also besser den ganzen Hergang der Untersuchung schildern und überlasse es Dir, Deine eigenen Schlüsse zu ziehen. Ich sage Dir, was ich tat und was ich Dir zu tun rate:
Ich fand Fräulein Westenraa in scheinbar recht aufgeräumter Stimmung. Ihre Mutter war auch anwesend, und nach wenigen Minuten war es mir klar, daß sie alles tat, um ihren Zustand vor der alten Dame zu verbergen und zu verhindern, daß diese ängstlich werde. Ich zweifle nicht daran, sie fühlt es, wenn sie es auch nicht weiß, daß Vorsicht am Platze ist. Wir frühstückten allein, und da wir uns alle erdenkliche Mühe gaben, fröhlich zu sein, gelang es uns, wie zur Belohnung für unser Bemühen, auch wirklich in heitere Stimmung zu kommen. Dann ging Frau Westenraa weg, um sich etwas niederzulegen, und wir blieben allein, Lucy und ich. Wir gingen in ihr Zimmer, und bis wir eingetreten waren, hielt ihre Fröhlichkeit an, denn die Zofe ging ab und zu. Kaum hatten wir aber die Türe geschlossen, da fiel die Maske von ihrem Antlitz; sie sank mit einem leichten Seufzer in ihren Stuhl und bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen. Als ich sah, daß ihr froher Mut dahin war, wollte ich diesen Umstand benützen, um mir sofort eine Diagnose zu stellen. Sie sagte sehr sanft zu mir:
»Ich kann Ihnen nicht sagen, wie sehr ich es hasse, von mir zu sprechen.« Ich sagte ihr, daß uns Ärzten doch Geheimnisse heilig seien und daß Du Dich in schrecklicher Angst um sie befändest. Daraufhin fügte sie sich meinen Wünschen und sagte: »Erzählen Sie Arthur alles, was Sie als wissenswert für ihn erachten. Es ist mir ja nicht um mich, sondern allein um ihn.« So bin ich also völlig frei.
Ich konnte ohne Mühe bemerken, daß sie etwas blutleer ist, aber ich konnte die gewöhnlichen Anzeichen der Anämie nicht entdecken. Ein Zufall gab mir sogar die Möglichkeit, die Qualität ihres Blutes zu prüfen, denn als sie das Fenster öffnete, zerbrach eine Scheibe, und ein Glassplitter verletzte sie leicht an der Hand. Die Sache war an sich unbedeutend, aber es traf sich gerade gut; ich nahm ein paar Blutstropfen mit und analysierte sie. Die Zusammensetzung des Blutes war eine vollkommen normale und bewies, für sich allein betrachtet, einen vorzüglichen Gesundheitszustand. Andere physiologische Beobachtungen geben mir die Gewißheit, daß in dieser Richtung ein Grund zu Befürchtungen nicht besteht. Da aber doch nichts auf Erden ohne Ursache geschieht, kam mir die Idee, daß diese Ursache vielleicht auf seelischem Gebiete zu suchen sein könnte. Sie beklagt sich über zeitweilige Atembeschwerden und über tiefe lethargische Schlafzustände mit quälenden Träumen, deren sie sich aber beim Erwachen nicht mehr erinnert. Sie erzählte mir auch, daß sie als Kind genachtwandelt und daß diese Gewohnheit in Whitby wiedergekehrt sei. Sie sei einmal in der Nacht bis zum Ostcliff gegangen, wo dann Fräulein Murray sie gefunden habe; sie versichert mir aber, daß seit dem letzten Male eine längere Zeit vergangen sei. Ich habe meine Bedenken, und so tat ich das Beste, was ich in dieser Lage zu tun vermag; ich schrieb an meinen alten Freund und Lehrer Van Helsing in Amsterdam, der mehr von unklaren Krankheitsbildern versteht wie sonst jemand im Lande. Ich habe ihn ersucht, hierher zu kommen, und da Du mir mitteiltest, Du wollest alles auf Deine eigene Rechnung nehmen, habe ich ihm auch mitgeteilt, wer Du bist und in welchem Verhältnis Du zu Fräulein Westenraa stehst. Dies, mein lieber Freund, geschah lediglich in Erfüllung Deiner Wünsche, und ich bin glücklich und stolz, daß es mir vergönnt ist, etwas für Dich zu tun. Ich weiß, daß Van Helsing aus persönlicher Neigung gerne alles für mich tun wird. So müssen wir denn, aus welchem Grunde er auch kommen mag, seinen Anordnungen Gehör geben. Er ist ein sehr eigenwilliger Herr, aber nur deshalb, weil er das, was er anordnet, besser versteht als alle anderen. Er ist Philosoph und Metaphysiker und einer der vorgeschrittensten Wissenschaftler der Jetztzeit, dabei ist er von absolut offener Gesinnung. Das und seine Nerven von Stahl, ein eisiges Temperament, unbeugsame Entschlossenheit, Selbstbeherrschung und Toleranz, die bei ihm nicht Tugenden, sondern Gaben sind, und das gütigste, treueste Herz, das je schlug – – das bildet das Rüstzeug für das edle Werk, das er im Dienste der Menschheit verrichtet – – ein Werk des Wortes und der Tat, denn seine Einsicht ist so tief, als seine Menschenliebe groß. Ich sage Dir das alles, damit Du begreifst, warum ich solches Vertrauen zu ihm hege. Ich habe ihn gebeten, sofort zu kommen. Ich werde Fräulein Lucy morgen wieder besuchen. Sie wird mit mir in einem Geschäft zusammentreffen, damit ihre Mutter nicht erschrickt, wenn ich meine Visite zu rasch wiederhole.
Stets Dein
John Seward.
Brief.
Abraham Van Helsing, Dr. med., Dr. phil., Dr. lit. etc.,
an Dr. Seward.
2. September.
Mein lieber Freund!
Ich habe Ihren Brief erhalten und mache mich sofort auf den Weg zu Ihnen. Glücklicherweise kann ich jetzt gerade fort, ohne jemand zu benachteiligen, der sich mir anvertraut hat. Wäre es anders, so stünde es freilich übel um die, die sich mir anvertraut, denn zu einem Freunde komme ich, sobald er mich ruft, und helfe denen, die er lieb hat. Sagen Sie Ihrem Freund, der meiner Hilfe bedarf, daß er mein Kommen mehr dem zu verdanken hat, daß Sie für ihn bitten, als seinem Gelde. Es macht mir doppelte Freude, ihm, Ihrem Freunde, zu helfen; aber Sie sind es, zu dem ich komme. Belegen Sie mir also Zimmer im Great Eastern Hotel, so daß ich gleich bei der Hand bin, und richten Sie es so ein, daß ich die junge Dame nicht allzuspät am Morgen sprechen kann; denn es ist sehr wahrscheinlich, daß ich abends wieder hierher zurückkehren muß. Wenn es aber notwendig werden sollte, bin ich in drei Tagen wieder dort und bleibe dann bei Bedarf länger. Bis dahin leben Sie wohl, mein Freund John.
Brief.
Dr. Seward
an Herrn Arthur Holmwood.
3. September.
Mein lieber Artur!
Van Helsing ist gekommen und schon wieder fort. Er ging mit mir nach Hillingham. Lucy hatte es so eingerichtet, daß ihre Mutter ihr Lunch auswärts nahm, es war uns dadurch möglich, mit ihr allein zu sein. Van Helsing nahm eine sorgfältige Untersuchung der Patientin vor. Er berichtet mir, und ich soll es Dir mitteilen, denn natürlich war ich nicht bei der ganzen Untersuchung anwesend. Er ist, fürchte ich, sehr bekümmert und sagte, er müsse nachdenken. Als ich ihm von unserer Freundschaft erzählte und ihm sagte, wie sehr Du in der Angelegenheit auf meine Hülfe bautest, sagte er: »Teilen Sie ihm alles mit, was Sie von der Sache denken. Wenn Sie es erraten können und es wollen, so sagen Sie ihm auch, was ich denke. Nein, nein, ich scherze nicht; es geht um Leben und Tod, vielleicht mehr.« Ich fragte ihn, was er damit sagen wolle, da er so ernst war. Dies geschah, als wir zur Stadt zurückgekehrt waren und er noch vor seiner Rückreise nach Amsterdam eine Tasse Tee trank. Er wollte mir keine weitere Aufklärung zuteil werden lassen. Du darfst es ihm nicht verübeln, seine Zurückhaltung verrät, daß sein ganzes Gehirn in Lucys Interesse arbeitet. Er wird, glaube mir, offen sprechen, wenn die Zeit gekommen ist. So sagte ich ihm denn, ich wolle Dir lediglich einen Bericht machen, als wenn ich einen Artikel für den Daily Telegraph zu verfassen hätte. Er schien es nicht zu hören, sondern sagte, der Schmutz in London sei heute nicht mehr so schlimm wie damals, als er hier studierte. Ich werde seinen Bericht morgen erhalten, wenn er es möglich machen kann. Auf jeden Fall bekomme ich einen Brief.
Nun also zum Besuch. Lucy war viel heiterer als am ersten Tage, da ich sie antraf, und sah ohne Zweifel besser aus. Sie hatte etwas von dem gespenstischen Aussehen verloren, das Dich so entsetzte, und ihr Atem war normal. Sie war so lieb zu dem Professor (sie ist es ja immer) und suchte ihm die Sache möglichst zu erleichtern: dennoch merkte ich, daß das liebe Mädchen einen harten Kampf mit sich selbst ausfocht. Ich glaube, Van Helsing bemerkte dies auch, denn ich sah seinen raschen Blick unter den buschigen Brauen hervorschießen, den ich seit langem kenne. Dann begann er von allem Erdenklichen zu plaudern, außer von uns selbst und von Krankheiten; dies geschah mit solcher Gewandtheit, daß Lucys bisher vorgespiegelte Fröhlichkeit sich in eine echte verwandelte. Dann, ohne scheinbar der Angelegenheit Bedeutung beizulegen, kam er auf unsere Visite zu sprechen und sagte in liebenswürdigem Tone: »Liebes junges Fräulein, es macht mir eine hohe Freude, Sie kennen zu lernen, da Sie so beliebt sind. Man erzählte mir, daß Sie in sehr niedergedrückter Stimmung und von geisterhafter Blässe seien.« Dazu sage ich »Pah«, er schlug ein Schnippchen und fuhr fort: »Aber Sie und ich, wir wollen ihnen zeigen, daß sie im Unrecht sind. Wie kann der« – – er deutete auf mich mit demselben Blick und derselben Geberde, mit der er einmal in seinem Kolleg auf mich gedeutet hatte und später noch einmal bei einer anderen Gelegenheit, an die er mich stets erinnerte – – »etwas von jungen Mädchen wissen? Er hat es immer mit seinen Irren zu tun und soll sie wieder dem Glück und den ihrigen zurückgeben. Da hat er viel zu schaffen, und es ist ja ohne Zweifel eine große Genugtuung, solch Glück zu spenden. Aber junge Mädchen! Er hat weder Frau noch Tochter, und die Jungen sprechen zu den Jungen ganz anders als zu den Alten, die so viel Elend und seine Ursachen kennen gelernt haben. Deshalb, mein Kind, schicken wir ihn weg, damit er im Garten seine Zigarette rauchen kann; unterdessen werden wir beide ein wenig zusammen plaudern.« Ich begriff den Wink und zog mich zurück; bald kam er an das Fenster und rief mich hinein. Er sah sehr besorgt aus und sagte: »Ich habe eine genaue Untersuchung vorgenommen, von einer Funktionsstörung konnte ich aber nichts bemerken. Ich stimme mit Ihnen darin überein, daß sie viel, sehr viel Blut verloren haben muß; es war da, ist aber nicht mehr da. Aber ihre ganze Konstitution ist in keiner Weise anämisch. Ich habe sie noch gebeten, mir ihr Mädchen zu schicken, an das ich eine oder zwei Fragen zu richten habe, damit nichts in der Reihe unserer Beobachtungen fehle. Ich kann mir ja denken, was sie aussagen wird. Und doch ist irgend eine Ursache vorhanden; alles hat seine Ursache. Ich muß heimfahren und nachdenken. Sie werden mir jeden Tag telegraphieren, und wenn es nötig ist, komme ich wieder. Die Krankheit – – wenn man nicht ganz wohl ist, so ist es eben eine Krankheit – – interessiert mich, und das süße, junge Ding interessiert mich auch. Sie hat mein ganzes Herz gewonnen, und ihr zu Liebe, wenn nicht Ihretwegen oder aus Interesse an dem Falle, will ich wiederkommen.«
Als wir dann wieder allein waren, sagte Lucy kein Wort weiter, und so, Arthur, weißt Du alles, was ich weiß. Ich werde getreue Wacht halten. Ich hoffe, daß Dein lieber Vater sich wieder auf dem Wege der Besserung befindet. Es muß etwas Furchtbares für Dich sein, mein lieber Junge, in einer solchen Lage sich zu befinden, zwischen zwei Menschen, die man lieb hat. Ich weiß, wie sehr Du an Deinem Vater hängst, und ich kann es nur gut heißen; aber wenn es sein müßte, werde ich Dich doch bitten, sogleich zu Lucy zu kommen. Ängstige Dich also nicht allzusehr, denn ich werde Dich auf dem Laufenden halten.
Dr. Sewards Tagebuch.
4. September. – Der Zoophagus läßt unser Interesse an ihm nicht erkalten. Er hatte nur einen Anfall, und zwar gestern zu einer ganz ungewöhnlichen Zeit. Gerade ehe es Mittag schlug, wurde er unruhig. Der Wärter kannte die Symptome und verlangte plötzlich Hilfe. Zum Glück waren die Leute rasch bei der Hand und kamen gerade recht; denn mit dem zwölften Glockenschlag wurde der Patient dermaßen ungeberdig, daß sie Mühe hatten ihn zu halten. Nach etwa fünf Minuten jedoch wurde er ruhiger und immer ruhiger und versank schließlich in eine Art Melancholie, in welchem Zustande er sich jetzt noch befindet. Der Wärter erzählte mir, daß seine Wutschreie wirklich entsetzenerregend seien. Ich habe alle Hände voll zu tun, denn einige andere Patienten hat die Angst vor ihm krank gemacht. Ich kann diese Wirkung gut begreifen, denn das Gebrüll störte selbst mich, der ich doch in ziemlicher Entfernung davon wohne. Gerade ist die Essenszeit im Asyl vorbei, und noch sitzt mein Patient brütend in einer Ecke, mit einem verstörten, düsteren, wehmütigen Ausdruck im Gesicht, der eher etwas anzudeuten als zu zeigen schien. Ich kann ihn immer noch nicht verstehen.
Später. – Wieder eine Veränderung an meinem Patienten. Um 5 Uhr sah ich nach ihm und fand ihn so glücklich und vergnügt, wie er sonst zu sein pflegte. Er fing Fliegen und aß sie, indem er die Resultate seines Fanges durch Nägelmarken an den Türpfosten zwischen der Polsterung aufzeichnete. Als er mich erblickte, entschuldigte er sich wegen seines schlechten Verhaltens und bat mich mit demütiger, schmeichelnder Gebärde, ihn in sein Zimmer zurückbringen zu lassen und ihm sein Notizbuch wiederzugeben. Ich hielt es für nützlich, ihn in gute Laune zu versetzen; er ist in seinem alten Zimmer, die Fenster sind geöffnet. Er hat seine für den Tee bestimmte Zuckerportion auf dem Fensterbrett ausgestreut und erbeutet damit eine große Anzahl Fliegen. Es ißt sie jetzt nicht mehr, sondern sammelt sie wie ehedem in eine Schachtel und späht bereits in allen Winkeln herum, um eine Spinne ausfindig zu machen. Ich versuche einiges über die letzten paar Tage aus ihm herauszubringen, da irgend ein Anhaltspunkt bezüglich seiner Ideen mir von großem Nutzen gewesen wäre; er war aber nicht zum Sprechen zu bringen. Ein paar Augenblicke sah er sehr betrübt aus, dann sagte er mit tonloser leiser Stimme, als spräche er mehr zu sich selbst als zu mir:
»Alles vorbei! Alles vorbei! Er hat mich im Stich gelassen. Keine Hoffnung mehr für mich, wenn ich es nicht für mich selbst tue!« Dann wandte er sich plötzlich in entschlossenem Tone an mich, indem er sagte: »Herr Doktor, wollen Sie recht gut mit mir sein und mir etwas mehr Zucker verschaffen? Ich glaube, dies würde recht gut für mich sein.«
»Und die Fliegen«, sagte ich.
»Ja! Die Fliegen lieben ihn, und ich liebe die Fliegen; deshalb möchte ich gerne welche haben.« Und da gibt es Menschen, die so wenig verstehen um zu behaupten, Irrsinnige könnten nicht logisch sprechen. Ich versprach ihm eine doppelte Ration, und ich glaube, ich habe ihn zum glücklichsten Menschen der Welt gemacht. Ich wollte, ich könnte seinen Geist ergründen.
Mitternacht. – Wieder eine Änderung an ihm. Ich war eben von einem Besuch bei Fräulein Westenraa zurückgekehrt, die ich bedeutend wohler angetroffen hatte, und betrachtete mir noch, am Eingangsgitter stehend, den Sonnenuntergang, als ich ihn auf einmal brüllen hörte. Da sein Zimmer auf dieser Seite des Hauses liegt, konnte ich es besser hören als am Morgen. Es tat mir leid, mich von der wunderbaren, dunstigen Schönheit eines Sonnenunterganges über London losreißen zu müssen, von den gespenstischen Lichtern und tintenschwarzen Schatten und all den herrlichen Farben, wie sie nur über schlechter Luft oder über schlechtem Wasser sich zeigen. Ich mußte zurück in den finsteren Ernst meines kalten, steinernen Hauses, mit seiner Atmosphäre von brütendem Elend und der Verzweiflung in der Brust, die mir alles noch viel trauriger erscheinen ließ. Ich trat bei ihm ein, gerade als die Sonne unterging, und durch sein Fenster sah ich den blutroten Ball versinken. Je tiefer die Sonne hinunterstieg, desto mehr ließ sein Anfall nach, und als sie verschwand, entglitt er, eine träge Masse, den ihn haltenden Händen und fiel zu Boden. Es ist jedenfalls merkwürdig, wie rasch sich Irre von derartigen Anfällen erholen, denn nach einigen Minuten stand er ruhig auf und sah umher. Ich gab den Wärtern ein Zeichen, ihn nicht zu halten, denn ich war aufs äußerste gespannt zu sehen, was er tun würde. Er ging auf das Fenster zu und wischte die Zuckerstückchen weg; dann nahm er seine Fliegenschachtel, schüttete sie aus und warf sie fort; endlich schloß er sein Fenster und setzte sich mit überschlagenen Beinen auf das Bett. Alles das überraschte mich höchlich und ich fragte ihn: »Wollen Sie denn keine Fliegen mehr fangen?«
»Nein«, antwortete er, »ich habe diesen Plunder satt.«
Auf jeden Fall ist er ein sehr interessantes Studienobjekt. Ich wollte, ich könnte nur einen kleinen Einblick in sein Geistesleben gewinnen oder wenigstens die Ursache seiner plötzlichen Anfälle ausfindig machen. Halt; vielleicht ist das ein Anhaltspunkt, wenn wir herausbekommen können, warum heute sein Paroxysmus am hellen Mittag und dann bei Sonnenuntergang ausbrach. Wäre es möglich, daß die Sonnenphasen einen schlechten Einfluß auf gewisse Personen ausüben, wie es ja auch die Mondphasen zuweilen tun? Wir wollen sehen!
Telegramm.
Dr. Seward, London,
an Van Helsing, Amsterdam.
für Telegramme 4. September. – – Patientin heute noch besser.
Telegramm
Dr. Seward, London,
an Van Helsing, Amsterdam.
5. September. – Großartige Fortschritte der Patientin. Appetit gut; Schlaf regelmäßig; gute Laune: Farbe kehrt zurück.
Telegramm.
Dr. Seward, London,
an Van Helsing, Amsterdam.
6. September. – Schrecklicher Umschwung zum Schlechteren. Kommen Sie sofort; verlieren Sie keine Stunde. An Holmwood telegraphiere ich erst, wenn ich Sie gesprochen.