Theodor Storm
Bötjer Basch
Theodor Storm

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Theodor Storm

Bötjer Basch

Novelle

In der Süderstraße meiner Vaterstadt, dem Gäßchen gegenüber, das nach dem St. Jürgenskirchhof und über diesen an dem Stift entlang nach der Norderstraße führt, stand seit Anfang des 17. Jahrhunderts ein kleines Haus, über dessen Eingangstür sich ein in Sandstein ausgehauenes Bild befand: ein Mann in einem Schifflein, zu dem durch hohe Wellen der Tod geschwommen war und schon den Mann zu sich ins Meer hinabriß; darunter stand: »Up Land un See.« Es hieß, ein Steinhauer habe derzeit sich das Haus gebaut und zum Gedächtnis seines Vaters, der als kleiner Schiffer zwischen den Inseln gefahren war und dabei im Sturme seinen Tod gefunden hatte, dieses Epithaphium angefertigt.

Im dritten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts, nachdem die derzeitige alte Inhaberin gestorben war, sah man mehrfach einen untersetzten Mann, alltags mit einem Schurzfell, sonntags in langem blauen Tuchrock und Stulpstiefeln, davor stehenbleiben und allmählich unter den kleinen Lindenbaum treten, dessen lang und schmal geschorene Krone sich zwischen dem Bilde und dem Giebelfenster streckte. Nachdem seine blaßblauen Augen wieder eines Tages an dem Steinbilde gehaftet hatten, griff er an die Türklinke, um ins Haus zu treten: aber es war verschlossen; durch die Butzenscheiben des Türfensters sah er auf einen langen schmalen Flur und durch einen offenen Eingang am Ende desselben in ein weites leeres Zimmer, in das von der Hofseite her die Mittagssonne schien. Langsam kehrte der Mann sich ab und schritt die Süderstraße hinunter bis auf den Markt, wo er die Steintreppe zum Rathaus hinaufstieg.

Dieser kleine Mann war der Böttcher oder auf plattdeutsch der Bötjer Daniel Basch, eine grüblerische Natur, bei alledem aber kein übler Handwerksmeister. Vier Wochen später hatte er das alte Haus im gerichtlichen Aufgebot gekauft und hielt mit einem alten Gesellen und einer noch älteren Schwester seinen Einzug in dasselbe; bald hingen bunte Zitzgardinen vor dem Fenster der unteren Stube, und zwischen den Geranien- und Resedatöpfen, die auf der Fensterbank standen, schaute das gutmütige Gesicht der alten Jungfer Salome auf die Gasse, wenn an den Markttagen alle die Wagen von den Dörfern in die Stadt hineinfuhren; im Pesel aber – so heißt in den alten Häusern der hintere Saal – war die Böttcherwerkstatt, und draußen vom Hofe klang es Tag für Tag: »Band, halte fest, halt fest!« und die Schlägel klappten, und die leeren Fässer tönten.

So mochte wohl etwa fünf Jahre die alte Schwester in ihrem Schlafstübchen oben von der Wirtschaftsarbeit geruht und in dem Giebelfenster ihre Ableger für das untere Blumenfenster gezogen haben, als sie eines Tages zu ihrem Bruder sprach: »Daniel, du bist erst funfzig; ich aber, euere Älteste, habe bald die Siebenzig; ich kann nicht mehr die schweren Wassereimer schleppen, und das viele Kartoffelschälen vertrag ich auch nicht mehr.«

Daniel Basch, der im Schurzfell vor ihr stand, wurde ganz bestürzt. »Hm«, sagte er, »Wie meinst du? Eine Magd? Es ist schon richtig, etwas wackelig wirst du aussehn!« Und er betrachtete sorgvoll das gute, runzelvolle Angesicht; zugleich aber hob er im stillen an zu rechnen, ob das Handwerk es wohl abwerfen möge, zu der Alten noch eine junge Magd ins Haus zu nehmen.

»Nein, Daniel«, sagte die Schwester lächelnd, »laß nur das Kalkulieren: die alte Frauke Michels in St. Jürgen ist gestorben, ihre Kammer ist leer, und die Herren werden mich wohl hineinnehmen, wenn ich bitte; wir sind ja Meisterkinder aus der Stadt hier.«

Daniel nickte; das Stift war nur durch ein kurzes Gäßchen von seinem Hause getrennt, es gab gute Kost dort, besser als in den gewöhnlichen Bürgerhäusern. Er drückte seiner alten Salome die Hand: »Halt, Schwester!« rief er. »Sprich nicht mehr! Sprich nicht mehr! Ich muß einen Gang tun« – ein Strahl wie von unglaublicher Glückeshoffnung flog durch seine blaßblauen Augen – »ei, sei so gut und hol mir meinen Tuchrock und die Stulpstiefel!« Er fühlte mit der Hand nach seinem Kinn; der Bart stand schon drei Tage; er nickte wieder, Meister Daniel wußte, was er wollte. Nun half seine Schwester ihm in den langen blauen Staatsrock; die Stiefel hatte er schon angezogen; nur noch den hohen Seidenhut und das Bambusrohr zur Hand, dann schritt er zuerst schrägüber zum Meister Bartscher und, als er bald glattrasiert herauskam, mit etwas langsameren Schritten durch die Krämerstraße nach der Schiffbrücke und dort in das Haus des alten Hafenmeisters Peters, mit dessen jüngerem Bruder er einst, wie gebräuchlich, die unterste Klasse der Gelehrtenschule besucht hatte. Als er in das Zimmer trat – die Nachmittagssonne schien herein, und der Kanarienvogel, der unter den Blumen am Fenster stand, sang eben aus allen Kräften –, erhoben sich drei Jungfrauen mit ihrem Nähzeug von den Stühlen; das waren die Töchter des Hafenmeisters: Mine, Stine und Line, von vierzig, neununddreißig und siebenunddreißig Jahren; sie waren alle brave Mädchen, aber die braune Line war doch die bravste: sanft, wirtschaftlich und von gutem Menschenverstande, dabei ein wenig schelmisch. Und der Meister Daniel schaute sie an, und die Braune lächelte dabei recht hübsch; »Mamsell Linchen«, sagte Daniel, »könnte ich ein Wort mit Ihrem Vater reden?« Und Linchen wurde dunkelrot und schoß hinaus, um ihren Vater aufzusuchen.

Eine Stunde später – im Böttcherhause hatte der Gesell die Jungfer Salome schon zweimal nach dem Meister gefragt – trat dieser durch die Haustür, als die Jungfer Salome eben aus der Küche in den Flur kam. Er winkte ihr schweigend mit gekrümmtem Finger in die Wohnstube. Als sie dort waren, hob der kleine Meister seinen hohen Hut vom Haupte: »So«, sagte er, »Schwester, nun sprich nur, sprich nur weiter!«

Aber die Schwester sah ihn ganz verwundert an: »Was hast du, Daniel?« frug sie; »an jedem Haar hängt dir ein Schweißtropf', und ist doch kalt Novemberwetter; und deine Augen – – warum freust du dich so? Haben wir das Große Los gewonnen?«

»Ja, Salome, so etwas von der Art; oder vielleicht, ich gewinne es noch später, denn Line Peters ist, denk ich, eine sichere Nummer!«

»Was hast du mit Line Peters, Daniel?«

»Ruf erst den Gesellen!« sagte Daniel.

Und als der Gesell gekommen, da wurde es in der Familie offenbart, Meister Daniel und Line Peters wollten ein Ehepaar werden; und die beiden alten Geschwister fielen sich um den Hals und weinten vor Freuden über den jungen Bräutigam. »Und nun sprich nur weiter, Salome!« sagte dieser.

»Ich hab ja weiter nichts zu sprechen, Daniel«, erwiderte die Alte lachend; »ich will ins Stift; setz dich nun hin und schreib mir die Bittschrift an die Vorsteher! Du bist nun gut beraten!« – – Und noch war es nicht Weihnachten, da saß die alte Schwester in Frauke Michels Stube in St. Jürgen und Line Peters als Frau Meisterin hinter den Blumentöpfen in dem Böttcherhause. Die erste Tat aber, welche Meister Daniel als junger Ehemann in den Flitterwochen vollbrachte, war, daß er mit einem Eimer voll Mörtel, die Kelle in der Hand, auf einer Leiter zu dem Totenbild über seiner Haustür hinanstieg und eine glatte Mörtelfläche sanft darüberlegte. »Das paßt nicht mehr!« sagte er bei sich selber; »nein, es paßt nicht mehr!« und damit machte er den letzten Strich daran. Dann stieg er von seiner Leiter; und nach acht Tagen, da es wohl getrocknet war, mußte der Gesell den alten Maler Hermes holen, der die schönen Nelken und Vergißmeinnicht für die Stammbücher machte; nun stieg dieser auf die Leiter und malte die schönste rote Provinzrose mit zwei grünen Blättern auf die graue Fläche. »Schön«, sagte Meister Daniel, der betrachtend in seinem Schurzfell neben der Leiter stand; »dann nun noch ein kleines Knöspchen dabei, aber nicht zu groß!« Und als auch das geschehen war, da trabte er in das Haus und holte seine kleine, schmucke Frau. »Nun guck einmal!« sagte er und wies auf das neue Kunstwerk, »und weißt du, wie die Rose heißt?« Das wußte die junge Frau nicht; da sprach er: »Die Rose heißt Line Basch!« – »Ach was!« rief sie und lief ganz rot ins Haus zurück, und Meister Daniel freute sich und lief ihr nach.

 

Und es dauerte gar nicht so lange, da hatte Meister Daniel zu der Rose auch schon die Rosenknospe unter seinem Dach, und das war ein kleiner Bube, der immer größer wurde und aus dem allmählich ein ganz verteufelter Junge aufstand. Noch hatte er seinen sechsten Geburtstag nicht gefeiert, als Fritz Basch schon in der ganzen Straße bekannt war; so gern seine Mutter ihn hochdeutsch aufziehen wollte, am liebsten sprach er doch plattdeutsch, vorzüglich mit den Tieren, die er alle in ihren schönen alten Versen anzusingen wußte. Fand er im Sommer eine von den hübschen bunten Gartenschnecken, so guckte er sie mit seinen großen braunen Augen an und sang:

»Tinkeltut,
Komm herut,
Stäk din Fi-fat-Hörens ut!«

Streckte der Schneck dann aber seine zarten Fühler ihm entgegen, so tippte er mit seinem kleinen Finger darauf und rief: »Lat di nich narren, Dummbart; bliev to Huus!« und warf das Tierchen in den Zaun. Flog dann ein gelber Zitronenfalter oder gar ein Pfauenauge durch den Garten, dann flog er hintendrein:

»Sommervagel sett di!
Näs un Ohren blött di!«

und je länger er hinter dem Schmetterling laufen mußte, desto lauter und zorniger wurde sein Gesang; schrie er seinen Sommervagelspruch gar zu arg, dann flog wohl auch die Mutter in den Garten: »Fritze, um Gottes willen, was gibt es denn?« Dann ließ er die Ärmchen hängen und sah halb verschämt, halb schelmisch zu ihr auf: »De Dummbart wull sick ock nich eenmal setten!« und dabei wies er auf den Schmetterling, der eben nach dem Nachbargarten hinübergaukelte. Die Mutter faßte ihrem Jungen lachend in seinen braunen Haarpull und küßte ihn ab; dann lief sie mit ihm nach dem Weidenzaun unten im Garten und schnitt mit dem Küchenmesser, das sie beim Herauslaufen in der Hand behalten hatte, ein paar frische Zweige ab: »Da hast du ein ander Spielwerk! Nun mach dir eine Wiechelflöte!« Sie putzte und kerbte ihm noch das Weidenstöcklein, und nun saß Fritz wieder lustig auf der Bank unter dem großen Birnbaum, klopfte wacker mit dem Messerstiel darauf, damit er das innere weiße Stöcklein aus der Rinde ziehen könne, und sang:

»Fabian, Sebastian!
Lat de Saft ut Holt rut gan!«

und das so lange, bis die Flöte fertig war.

Aber er machte auch selber Verse: eines Sonntagnachmittags kam die alte Jungfer Basch aus ihrem Stifte zum Kaffee auf Besuch, und auf ihrem grauen Scheitel saß eine schimmernd weiße Haube mit Rosataffetbändern. Die stach dem Jungen so in die Augen, daß er nur immer auf die Haube guckte. »Sag Tante Salome doch guten Tag!« ermahnte ihn Frau Line. »Tag, Tante!« sagte er und sah immer nur nach der weißen Haube mit den roten Bändern, auch als er danach auf einem Schemel in der Ecke saß, während Vater und Mutter sich mit der Schwester am Kaffeetisch vergnügten. Bald aber fing er an zu murmeln, und seine lustigen Augen lachten wie über einen Schelmenstreich. »Wat hett de Jung?« sagte die Alte, die auch gern plattdeutsch sprach.

»Was hast du, mein Junge?« übersetzte Frau Line, indem sie sich zu ihm wandte.

»Dörf ick nich segg'n«, erwiderte Fritz.

»Warum nich, min Kind?« sagte die Tante, »ick gäv di Verlöv.«

Da sah der Junge die Alte ganz spitzbübisch an und sagte:

»Ros' in Snee! Ros' in Snee!
Dat is Tante Salome!«

»Sieh so!« rief Meister Daniel, »nu hest du't!«

Die gute Alte aber drohte dem Jungen halb ärgerlich mit dem Finger: »Is awer doch 'n näskloken Slüngel, jüm Fritz!« sagte sie dann und tauchte ihre Nase in die Kaffeetasse.

»Hm!« machte Meister Daniel und griff mit der Hand in seinen schon ergrauenden Haarpull. Als aber Fritz zu seinen Kameraden auf die Gasse gelaufen war, blickte er wieder auf. »Line! Mutter!« sagte er.

»Was denn, Daniel?«

»Akkurat so wie ich«, erwiderte Daniel und schüttelte behaglich lachend seinen Kopf.

»Was ist akkurat so wie du?« frug Frau Line.

»Was? – Das mit dem Jungen! Ich saß auch einmal in seinem Alter so auf dem Schemel – es ist noch just derselbige –, da trat eine alte dicke Ostenfelderin zu meinem Vater in die Stube, und da es die Bauervögtin war, so sagte er: ›Jung, steh auf und sag schmuck guten Tag!‹ Aber ihre rot und gelb und blaue Staatsuniform und der weiße Lappen auf dem Kopf, ich hatte so viel daran zu sehen und konnte nicht mit mir einig werden, ob sie doch nicht vielleicht ein Türke wäre – bis daß ich endlich, ehe ich noch ein Wort hervorbrachte, von meinem hitzigen Vater einen hahnebüchenen Backenstreich erhielt.«

Tante Salome nickte, sie kannte die Geschichte; Frau Line Basch lachte: »Ich meinte, du hättest auch Verse gemacht, Daniel!«

Der Alte schüttelte den Kopf: »Nein, Linchen, das ist es eben: ich bekomme meinen Backenstreich und falle vom Schemel; der Fritz macht seinen Vers und läuft zur Tür hinaus.« Daniel sah seine Frau recht freundlich an: »Mutterwitz!« sagte er schelmisch. Und Frau Line nickte.

 

Glückes genug war in Meister Daniels Hause; aber wer, der seine Zeit gelebt hat, wüßte es nicht, daß, wie das Leben, so noch mehr das Glück auf leichten Flügeln geht.

Es war um die Frühlingszeit, und im Garten wurden die Stachelbeerbüsche grün, und die Störche kamen nach der langen Winterszeit wieder aus dem Süden, um auf den Schornsteinen der Stadt ihre alten Nester zu beziehen oder hie und da ein neues sich zu bauen. Fritz lag vor seinem Gartenstück auf den Knien und setzte seine Primeln und Veilchen schon zum dritten Mal an eine neue Stelle, da flog ein Schatten über ihm weg, und als er aufblickte, sah er einen großen Storch nach seines Vaters Dach fliegen und sich dort mit seinen langen Beinen niederlassen. »Hallo!« rief er:

»Adebare Esther,
Bring mi 'n lütje Schwester!«

Und der Storch warf den Kopf in den Nacken und klapperte schallend in die helle Frühlingsluft hinaus; der lange rote Schnabel glänzte in der Sonne.

Da warf Fritz den kleinen Spaten hin und klatschte fröhlich in seine Hände und rief:

»Adebar, swart un witt,
Bring mi ock en Kringel mit!«

Die Erfüllung war näher, als er dachte; aber der Adebar kam statt mit der Windel mit einem schwarzen Flor geflogen, und von Kringeln war bald eine ganze Fülle im Hause, aber es waren Totenkringel, und Fritz saß auf der Bodentreppe und aß sie unter strömenden Tränen. Das Schwesterlein war zwar dagewesen, ein kleines rotes Dings, das Fritz nur ganz von ferne anzusehen wagte; die Mutter sah so bleich aus, sie reichte ihm aus ihrem Bett die Hand und frug: »Magst du sie leiden, Fritz?« Aber Fritz schüttelte stumm den Kopf, dann lief er aus dem beklommenen Stübchen in die frische Maienluft hinaus.

Drei Tage später stand er mit seinem Vater an einem Sarge; darin lag seine bleiche Mutter, die gute schelmische Frau Line; sie regte sich gar nicht, und ihre Augen waren ganz geschlossen; in ihrem linken Arme lag ein sehr kleines Kind, das war auch totenbleich. Wie vor einem fremden schauerlichen Wunder stand der Knabe mit verhaltenem Atem; er war eben erst sechs Jahre alt geworden.

Tante Salome, die mit ihnen dastand, drückte ihrem Bruder die Hand: »Ja, Daniel«, sagte sie, »dat Kind hett di din Fru mit wegnamen!«

Daniel nickte stumm und sah, wie keines Gedankens mächtig, auf seine Toten; aber des Knaben Gehirn war durch das Wort der Alten aufgestört: »Mitnamen, Vatter?« frug er leise. »Warum? Warum doch?«

Meister Daniel blickte auf seinen Jungen, der mit erwartenden Augen zu ihm aufsah: »Das weiß nur der liebe Gott!- sagte er, und seine Lippen zitterten, »vielleicht... das arme kleine Ding, es hat wohl so allein nicht in die weite dunkle Ewigkeit hineingekonnt.« Dann hob er plötzlich den Knaben auf seinen Arm und legte die andre Hand auf die kalte Stirn der Toten: »Fritz – se kummt nimmer wedder, vergitt är nich!«


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