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Es gibt – über das Gesetzbuch hinaus – eine Verjährungsfrist«, sagte der steinalte, kleine Justizrat abends beim Glas Wein in der Museumsgesellschaft zu den anderen Honoratioren, »das ist die Schweigepflicht – oft nur eine moralische Schweigepflicht. Die hört, für einen gewissenhaften Menschen wie mich, erst auf, wenn allen Beteiligten längst kein Zahn mehr weh tut und von den Lebenden keiner mehr erraten kann, wann, wo und zwischen wem sich Anno Tobak irgendein Geheimnis abgespielt hat. Solch ein Fall ist mir gestern, als ich wieder einmal in den Akten meines Lebens geblättert hab', plötzlich aus fernen Jahrzehnten heraus in das helle Heute getreten. Passen Sie auf: ich werde Ihnen mal die Geschichte von dem Bild erzählen.
*
Ich war damals mit Vorliebe als Verteidiger in Kriminalprozessen tätig. Ich hatte bereits einen gewissen Ruf. Daß die Kundschaft sich da nicht gerade aus Landpastoren und Pensionatsvorsteherinnen zusammensetzt – na – das ist klar. Es kommen da zu einem allerhand Kostgänger Gottes. Man wundert sich nach kurzer Zeit über nichts mehr. Es ist eine angenehme Abwechselung, wenn man mal in der Sprechstunde die hereingeschickte Besuchskarte eines polizeilich völlig unbescholtenen Normalmenschen in der Hand hält, wie das der Weinhändler Karl Nägele war. Ich wußte: der Freund Nägele hatte nichts ausgefressen. Der lebte mit Frau und vier Kindern als wohlhabender, fleißiger und geschäftstüchtiger Staatsbürger, Stadtrat und Steuerzahler. Der kam nur mal vorbei um zu fragen, ob nicht in meinem Keller eine Lücke sei. Denn er war als Weinhändler unermüdlich selber auf dem Trab. Als sein eigener Reisender rastlos unterwegs bei seinen Kunden, da und dort in Deutschland, und auf persönlichen Einkaufsreisen nach Bordeaux, ins Tokaierland, ich glaube sogar bis Oporto. Daher hatte es der Mann auch zu etwas gebracht . . .
*
»Nägele – Nägele – du alter Wiedertäufer . . .«, sage ich, als er hereinkommt. »Wasser allein tut's freilich nicht! – das muß man euch Weinhändlern immer wieder predigen! Wie ist's? Hast du einen trinkbaren Tropfen Überrheiner für mich?«
Aber mein Nägele hörte gar nicht zu, sondern setzt sich mir gegenüber, ganz steil aufrecht, die flachen Hände auf den Knien, starrt mich an und sagt nur:
»Also . . . ich werd' verrückt . . .«
»Nur Ruhe! . . . das hat ja noch Zeit!« erwidere ich und besichtige nun mal so den Nägele scharf durch den Zwicker. Äußerlich ein großer, vollsaftiger, blühender Bruder – stramm, mit breiten Schultern – noch jugendlich ausschauend, mit einem unternehmend aufgedrehten Schnurrbärtchen in dem runden, gesunden Gesicht – so, wie man sich eben einen Mann denkt, der mit Weinen zu seinen Kunden kommt und mit Lachen geht. Das war ein Stammwitz von dem Nägele selbst. Erst wenn man ihn näher betrachtete, merkte man, daß sein blondgelockter, fröhlicher Rheinländerkopf an den Schläfen doch schon ein wenig ins Graue schillerte und er doch schon so die erste Hälfte der Vierzig auf dem Buckel hatte. Und dann sah man auch, daß die tiefrosige, anheimelnde Färbung seiner vollen Wangen nicht nur ein Zeichen von Gesundheit war . . .
»Nägele . . .« Ich schüttelte mein bedeutend jüngeres, aber weises Haupt. »›Die Liebe und der Suff –‹ In Punkto Liebe liegt gegen dich vielköpfigen Familienvater nichts in den Strafakten vor. Aber der Suff . . .«
»Das muß ich als Weinhändler . . .«, sagt er und fährt sich wie benommen mit der Hand über die Stirn.
»Der Doktor hat dich neulich erst am Stammtisch vor zu viel Alkohol gewarnt. . . .«
»Das ist nicht der Wein. An den bin ich gewöhnt. Das jetzt – das ist etwas anderes . . . völlig Unerklärliches. . . . Es steht einem der Verstand still. . . . Ich muß mit einem vernünftigen Menschen darüber reden!«
»Also schieß los!«
*
Der hitzköpfige Karl Nägele richtet sich noch straffer empor, blickt mich förmlich herausfordernd an – und dabei gerade sieht man doch die ersten, winzigen Ermüdungsfältchen an den Augen, schattenhafte Krähenfüße an den Schläfen – ein entschieden ein bißchen zu frühes Altern – und erkundigt sich brüsk:
»Hand aufs Herz: Habe ich irgend etwas Merkwürdiges an mir?«
»Nicht das geringste!« versetzte ich aus vollster Überzeugung.
»Äußerlich nicht?«
»Äußerlich bist du ein gut aussehender Mann in den besten Jahren – wenn dir mit dieser Schmeichelei gedient ist! . . . und damit Schluß!«
»Und innerlich? – als Mensch – mein' ich – du kennst mich ja. . . .«
»Na gewiß! Du füllst deinen Platz im Leben aus. Du betreibst mit Schwung das ererbte, väterliche Weingeschäft . . .«
»Nicht ererbt!« unterbricht mich Nägele. »Das war lang vor deiner Zeit! . . . Ich hab' eingeheiratet. Ich mache daraus gar kein Hehl. Ich war einfacher Kommis in einem Kolonialwarengeschäft – Heringsbändiger, wie sie in der Posse sagen – und habe auf einem Vereinsvergnügen meiner jetzigen Frau gefallen. Sie war die einzige Tochter. . . .«
»Na – ererbt oder erheiratet – das ist ja Jacke wie Hose!« sage ich. »Jedenfalls: du sitzt warm! Und was stört nun deine Ruhe?«
»Also neulich schickt mir irgendeine Nichte das Bild ihres Erstgeborenen. Wir wollen es in das Familienalbum stecken. Und als ich nun bei der Gelegenheit in dem Album blättere – da fehlen – nun bitte höre zu! – da fehlen alle meine eigenen Photographien – vom Rekruten bei der Feldartillerie ab und vom unternehmenden jungen Mann und vom Hochzeiter in Frack und weißer Binde bis auf die Gegenwart! Alle anderen sind da! Bloß meine nicht! Irgend jemand hat sie herausgenommen! Was sagst du dazu?«
»Ein dummer Witz von einem deiner Sprößlinge!«
»Glaubst du, ich hätte nicht inquiriert? Der Adolf, der Primaner, macht mir unter dem Zwicker sein hochnäsigstes Gesicht. Der verachtet seinen Vater ja überhaupt im stillen, weil der bloß Weinhändler ist und er, der Adolf, ein achtzehnjähriger Ästhet. Die Emma – die Verlobte – erklärt schnippisch, sie habe schon Ärger genug, daß ich zu wenig Geld für ihre Aussteuer ausgebe. Der Paul heult gleich darauf los und ist ganz verbockt. Er ist doch nun mal ein miserabler Schüler und soll doch um jeden Preis das Einjährige machen. Und das Marthchen – du weißt ja – sie ist taub und ein wenig zurückgeblieben. Die kann so einen Zusammenhang gar nicht begreifen. Erfreulich ist mein Familienleben gerade nicht. . . .«
Nein. Das wußte ich. Der fröhliche Nägele war ein Mann für die Außenwelt. Daheim behandelten sie ihn wirklich schlecht. Es war da eine unerquickliche, unfreundliche Stimmung aller gegen alle. Mir schien: das ging von der Frau aus. Die hatte immer so etwas Spitzes und Säuerliches und Scharfes.
»Merkwürdig!« sage ich.
»Bitte, weiter! Ich fuhr auf eine Geschäftsreise. Als ich zurückkomme – da hängt doch über dem Vertiko eine Photographie von mir in gepunztem, rundem Lederrahmen! Erinnerst du dich?«
»Genau!«
»Also vorgestern früh ist sie weg – einfach weg – Ein leerer, heller Kreis auf der Tapete!«
»Und du hast keinen bestimmten Verdacht?«
»Gott. . . . Es kommt täglich ein Haufen Menschen in Geschäften in meine Wohnung – Lieferanten – Kunden – Geldbriefträger – was weiß ich . . .«
»Aber – nimm es mir nicht übel – wer hätte denn ein Interesse daran. . . .«
»Ja eben! Aber nun kommt das Tollste: Vorhin. Nach Tisch. Meine Frau hat ein Medaillon – innen mit meinem auf Porzellan gemalten Bild – nach einer Photographie – ich hab' es ihr ganz vor kurzem, zu unserem zwanzigjährigen Hochzeitstag, geschenkt – Es lag auf dem Tisch in unserm Schlafzimmer. . . . Am hellen Tag – hui – fort!«
»Nanu?«
»Diesmal glaubt unser Mädchen gerade noch einen kleinen Mann in einem Radmantel gesehen zu haben, der ganz ruhig durch den Flur nach dem Treppenhaus wegging. Sie glaubte, es wäre irgendein Handwerksmeister, den ich zur Besichtigung einer Reparatur in das Schlafzimmer geschickt hätte.«
»Hat sie ihn deutlich gesehen?«
»Nein. Nur unbestimmt. Sie hat weiter keinen Wert darauf gelegt. Es ist bei mir ja den ganzen Tag ein endloses Kommen und Gehen. Der reine Taubenschlag.«
Der Weinhändler Nägele stand unruhig auf. Er war nicht ganz fest auf den Beinen. Nicht, daß er zu stark gefrühstückt hätte – das waren Schwindelanfälle, die von dem Blutandrang nach dem Kopf kamen.
»Vor allem würde ich die Chose humoristisch auffassen, statt mich so furchtbar aufzuregen!« sagte ich. »Ist die Geschichte ja gar nicht wert!«
». . . So – Und wenn ich jetzt verreisen muß? . . . Ich muß heute nacht eine dringende Geschäftsreise für eine Woche und länger antreten! Ich kann sie nicht verschieben. Angenehmes Gefühl, daß inzwischen große Unbekannte, zu Gott weiß welchem Zweck, in meinen vier Wänden herumwirtschaften! . . . Mensch . . . . . . Ich hab' doch Frau und Kinder. . . . Ich kann die doch nicht in meiner Abwesenheit räuberischen Überfällen aussetzen. . . .«
»Na – na – na – So sehr kommt doch ein vernünftiger Mitteleuropäer wegen so was nicht aus dem Häuschen!«
»Ich gebe zu: Ich bin in einer wahnsinnigen Aufregung . . .«
»Dann rege dich jetzt mal ab und geh ruhig nach Hause. Ich werde jetzt mal scharf über die Geschichte nachdenken. Sie ist ja komisch. Gegen Abend komm ich dann einmal bei dir ran!«
Ich dachte scharf nach. Dabei fiel mir nichts ein. Statt dessen kam – schon lange nach Einbruch der Dämmerung – von Karl Nägele ein hastig gekritzelter Zettel in flüchtig geklebtem Umschlag – von einem Dienstmann abgegeben. Die vier Kinder des Hauses waren offenbar zu großartig, um einen Botengang zu tun. In dem Brief stand:
»Jetzt eben ist glücklich auch noch das große, eingerahmte Kompagniebild aus meinem Schreibzimmer verschwunden, wo ich gerade in der Mitte hinter dem Hauptmann stehe! Während ich im Schlafzimmer den Koffer für die Reise packte! Man möchte rein überschnappen! Bitte kommen, so rasch wie möglich!«
»Das ist ja zum Stiefelausziehen!« sagte ich mir. Aber ich zog mir im Gegenteil, sobald mich endlich, spät abends, die Geschäfte freiließen, Stiefel statt der Hausschuhe an und ging hinüber in die Wohnung des Weinhändlers Nägele.
*
Sie hatten, weiß Gott, mit dem Abendessen auf mich gewartet, obwohl es schon gegen zehn Uhr abends war. Das heißt: nur er und seine Frau waren da, die älteren Nachkommen außer Haus, die jüngeren zu Bett. Frau Nägele war so verschnupft und unliebenswürdig wie immer. Das war ihre Art so. Gegen alle. Man mußte sich daran gewöhnen.
Vor der Flurtür hatte ich mich, ehe ich läutete, noch prüfend im Treppenhaus umgesehen, ob da irgend etwas Auffälliges zu bemerken sei. Natürlich nichts. Dagegen vernahm ich durch die Tür von innen den schrillen Diskant der Frau Nägele und zuweilen, selten, seine Stimme. Eine häusliche Zank- und Schrei-, Katz- und Hund-Szene war da in vollem Gange. Ich hörte: ». . . aber so bist du . . . Jetzt, wo einem von der Geschichte die Haare zu Berg stehen, läßt du mich ruhig hier allein in der Wohnung . . .«
»Ihr seid doch zu fünf . . .«
». . . unter Räubern und Mördern . . .«
». . . außerdem kriegst du noch Logierbesuch . . .«
». . . und fährst seelenruhig davon . . .«
»Herrgott – ich muß doch Geld verdienen . . .«
»Wo läßt du's denn – he? Ewig knauserst du! Nie gibst du dem Adolf und der armen Emma genug! Von mir will ich schon gar nicht reden! . . . Oder von den beiden armen kleinen Würmern!«
»Ich racker' mich ab für euch . . . ohne daß es mir einer von euch dankt . . .«
»Du bist nur froh, wenn du wieder auf Reisen gehen kannst . . .«
». . . um mein Geschäft zu betreiben!«
»Dein Geschäft? . . .« Die Frau Nägele zeterte. »Mein Geschäft war es! . . . Mir hat die Weinhandlung gehört! Ich hab' sie in die Ehe gebracht, wie der Papa gestorben ist! Du warst ein armer Schlucker!«
»Und wer hat dann die Weinhandlung fortgeführt und in die Höhe gebracht, wenn nicht ich? Da wäre was Schönes draus geworden ohne mich! Pleite gegangen wärt ihr mit Schuhen und Strümpfen – du und die liebe Schwiegermama – ohne mich . . .«
Inzwischen hatte ich geklingelt. Nun wurde es auf einmal still. Als Karl Nägele öffnete, hatte der Sturm ausgetobt. Ich wurde empfangen, als sei nichts geschehen. Jetzt saß das Ehepaar scheinbar friedlich rechts und links von mir an dem runden Ecktisch. Nägele, die alte Kriegsgurgel, war während der Mahlzeit wieder einmal sein eigener bester Kunde. Er schluckte einen schweren, goldgelben, blumigen Pfälzer, Trockenbeeren-Auslese, hinunter wie Wasser. Sein rundes, joviales Antlitz mit dem aufgedrehten Schnurrbärtchen blühte tiefrosig im alkoholischen Alpenglühen. Aber die kleinen, gutmütigen, blauen Augen dämmerten gedrückt und geistesabwesend über das Rheingold im Römer hinweg ins Leere. Ich bückte mich einmal rasch, um meine Serviette aufzuheben. Dabei sah ich, wie sich seine schlaff herabhängende linke Hand immer wieder unter dem Tischtuch in einem mühsam verhehlten Nervenzittern des ganzen Menschen ausspreizte und ballte.
»Trink nicht so viel, Nägele! Es ist ungesund!« sagte ich. Er kippte zur Antwort wieder ein Glas in die Kehle. Guckte nervös auf die Uhr. Zum zehntenmal in der letzten Viertelstunde.
»Wenn mich nur die Nachtdroschke nicht im Stich läßt«, sagte er unruhig. ». . . Daß ich zu rechter Zeit auf den Bahnhof komme! Ich hab's dem Mann auf die Seele gebunden!«
»Ist denn deine Geschäftsreise wirklich so dringend?« fragte ich. Frau Nägele zuckte, ehe er antworten konnte, spöttisch die spitzen Schultern. Sie war vierfache Familienmutter. Aber sie hatte dabei etwas merkwürdig Altjüngferliches. Man konnte sich gar nicht vorstellen, daß sie einmal jung gewesen war. Sie wirkte auch nicht ältlich, sondern eher vertrocknet, hagebuttenhaft. Sie versetzte bitter:
»Dem Karl seine Reisen sind immer dringend, – weil er es nicht erwarten kann, von hier wegzukommen . . .«
Das konnte ich dem fidelen Rheinländer nun eigentlich nicht gerade übelnehmen, wenn man seine bessere Hälfte sah. Die fügte hinzu:
»Wenn's auf die Walze geht – da springt er die Treppe drei Stufen auf einmal hinunter wie ein Schulbub, wenn die Schule aus ist, den Hut im Genick und trällert und schwenkt sein Stöckchen. Daß ich jetzt die Nacht kein Auge zutue vor Angst – das stört ihn nicht!«
»Was hilft's denn, wenn ich dableib'!« schrie der Hausherr gereizt. »Deswegen spukt's doch bei uns weiter. Helfen kann ich da nichts. Ich hab' den Doktor um Hilfe gebeten. Na und? . . . Da sitzt er . . . Der große Jurist weiß genau so viel wie wir – nämlich nischt!«
»Das Ganze ist ein dummer Witz!« sagte ich. »Irgendeine Stammtischwette, um dich zu foppen! . . . Weiter nichts . . .«
»Na – wenn ich den Attentäter mal erwische . . .« Karl Nägele atmete heftig. Er trocknete sich die Stirne mit dem Sacktuch, obwohl es gar nicht heiß im Zimmer war. Der Wein? . . . Na – der Bacchus macht doch lachen! Aber ich sah, trotz des sorgenbrechenden Rebensaftes, einen merkwürdigen, unerklärlichen Ausdruck von Angst in Nägeles Gesicht. Er schaute zornmütig auf und wies auf ein lebensgroßes Brustbild in Öl an der Wand des Eßzimmers. Das stellte ihn selbst dar. Handwerksmäßig hingepinselt – aber vielleicht gerade deswegen ähnlich. So wie Karl Nägele nach außen war: unbesoldeter Stadtrat – Schriftführer des Gesangvereins »Männerbrust« – rheinischer Komiker auf Herrenabenden – gepfefferter Anekdoten-Onkel nach der dritten Buddel im Hinterzimmer – Vorsitzender des Brennmaterialienausschusses für verschämte Arme – kurz: Leben und Lebenlassen! Eine gutmütige, fidele Haut.
»Dies Bild da von mir an der Wand – das ist jetzt der letzte Mohikaner!« sagte Karl Nägele und trommelte erbittert mit den Fingern auf dem Tischtuch. »Alle andern futschikato! Und das da wäre womöglich auch schon spurlos weg, wenn meine Frau nicht den ganzen Nachmittag hier im Zimmer Möbel geruckt und die Emma drüben überm Flur ausquartiert hätte, um ihr Zimmer als Gastzimmer für morgen früh herzurichten! Na, komm, wir wollen uns nebenan 'ne Importe in die Physiognomie stecken!«
Als wir nun im Salon auf dem erschrecklichen Troddel-Sofa mit Paneel-Umbau saßen und rauchten, riet ich:
»Also vor allem eines: Es müssen morgen in aller Frühe die Schlösser am Vordereingang und an der Küchentür hinten geändert werden! . . . Denn es ist ganz klar, daß sich jemand mit einem Nachschlüssel einschleicht . . .«
Eine Handbewegung des Hausherrn unterbrach mich. Er flüsterte, mit plötzlich atemlos gespanntem Antlitz, wie ein Jäger auf dem Anstand. »Es ist jemand in der Wohnung! . . . Ich habe eben ein Geräusch wie von ganz leisen Fußtritten gehört! . . .«
»Deine Kinder?«
»Die schellen vorn zweimal! Die haben keinen Schlüssel!«
»Das Mädchen?«
»Schläft längst in ihrer Kammer!« sprach die Frau Nägele leise. »Die beiden Kleinen auch.«
Ich lauschte. Ich vernahm nichts. Der Freund Nägele furchte jäh die Stirne.
»Jetzt wieder . . . so wie wenn jemand aus Versehen an einen Stuhl stößt . . .«
Nun war mir wirklich halb und halb auch so, als hätte ich etwas gehört. Die Nebenzimmer waren alle dunkel. Elektrisches Licht, das man mit einem Handgriff anknipsen konnte, gab es damals noch nicht. Das Anzünden der Gaskronen mit einem Streichhölzchen, auf den Fußspitzen, war eine umständliche Sache. Karl Nägele brannte lieber die eine Kerze an – nahm den Leuchter in die Linke – holte mit der Rechten einen sechsschläferigen Revolver heraus, den er wahrhaftig bereits für alle Fälle in der Tasche bei sich trug, und schlich nach der Schwelle. Ich neben ihm. Wir drangen ein. Nirgends etwas Ungewöhnliches. Wir kehrten in die gute Stube zurück. Wir wußten nicht recht, was wir reden sollten. Ich saß neben der Frau Nägele auf dem Sofa. Ich sagte endlich zu ihr:
»Auf alle Fälle – wenn Ihr Gatte jetzt abreist – ich stehe jederzeit zur Verfügung! Sie brauchen mich nur rufen zu lassen!«
Sie dankte für meine Bereitwilligkeit nur mit einem frostigen Zucken des spitzen Kinns. Sie war eine merkwürdig schroffe Person. Wieder flog ein Engel durchs Zimmer. Karl Nägele war aufgestanden. Er lehnte am Fenster und starrte auf die dunkle Straße hinunter.
»Da kommt endlich der Wagen!« meldete er, aufgeregt wie ein Bankdefraudant. Man hörte das Rasseln der vorfahrenden Droschke auf dem Pflaster. Der Kutscher knallte mit der Peitsche. Freund Nägele drehte sich vom Fenster weg.
»Ich komme gerade noch zurecht zum Zug«, murmelte er fieberig und eilte unsicher, den Leuchter in der Hand, fast im Laufschritt, in die dunkle Zimmerflucht nebenan, um aus dem Schlafzimmer seinen fertig gepackten Reisesack zu holen. Wir hörten seine schnellen, sich entfernenden Tritte. Ich sagte kopfschüttelnd zu seiner Frau:
»Der gute Karl muß was für seine Gesundheit tun . . . Sanatorium oder so was . . . Ich fürchte – das sind bei ihm nicht bloß die Nerven, sondern das zu dicke Geblüt . . .«
In diesem Augenblick kracht ein Schuß – hinten in der Wohnung . . . Die Frau Nägele kreischt wild auf. Ich entwickele meinen damals schon fetten, kleinen Korpus, so rasch ich kann, aus dem Sofa hinter dem Tisch vor. Es fährt mir durch den Kopf: Der Unglücksmensch wird sich doch nicht erschossen haben – in seiner rabiaten Verfassung, in der er sich heute den ganzen Tag befindet – gottlob – nein: da knallt der Schießkolben noch einmal . . . diesmal deutlich von der Küche her. Ich laufe durch die dunklen Zimmer. Ich kriege auf dem Flur bitteren Pulvergeruch in die Nase. Ich sehe mitten in der Küche kriegerisch den Nägele stehen, die Kerze in der einen, den dünstenden Revolver in der anderen Hand. Mit dem hat er, durch die weit offene Hintertür, die Hoftreppe hinuntergeknallt.
»Schade, daß ich den Kerl wieder nicht getroffen hab'«, keucht er. »Er wischte wie 'ne Ratte um die Ecke! Der kleine Kerl im Radmantel – wie ihn die Minna gesehen hat! Diesmal hab' ich ihn deutlich erkannt . . .«
»Wo ist er hin?«
»Die Treppe hinunter . . . in den Hof.« Karl Nägele stürmte ihm in langen Sprüngen nach. Mich hielt jemand von hinten fest. Seine Frau. Sie keifte sogar jetzt in ihrer Angst: »Um Gottes willen – bleiben Sie bei mir! Ich fürcht' mich ja zu Tode!« Die Kinder kamen erschrocken in ihren Hemden aus den Zimmern. Das Mädchen steckte seinen Wuschellopf schlaftrunken aus der Kammer. Zum Glück war im Erdgeschoß nur das nachts unbewohnte Hauptkontor und der Einzelflaschenverkauf der Weinhandlung Nägele und hauste zwei Treppen hoch eine stocktaube alte Dame. So hatte kaum jemand die Schüsse gehört. Oder höchstens, in der Nachbarschaft, für das Peitschengeknall des Kutschers gehalten, der wieder von der Straße mahnte.
Also ich blieb oben bei Frau Nägele. Nach einer Weile stapfte er, der Karl, stufenweise, schwerfällig die Treppe hinauf. Er hielt sich am Geländer fest und blieb stehn, um einen Schwindelanfall zu unterdrücken. Sein Gesicht war ganz vergeistert und verfallen und flößte mir jetzt, als es unheimlich wachsbleich geworden war, noch mehr Besorgnis ein als vorher in seiner ungesunden Röte.
»Der Kerl ist über die niedere Hofmauer weg auf die Straße und davon«, sagte Karl Nägele mit keuchendem, kurzem Atem. »Du hast ganz recht: Er hat mit einem Nachschlüssel die Küchentür aufgemacht – der richtige Schlüssel hängt ja da am Nagel . . . und hat sich in die Wohnung eingeschlichen Das hatte ich vorhin schon gehört.«
»Da sind wir doch durch alle Zimmer gegangen!«
»Und der Kunde hat sich eben versteckt gehalten – unter dem Tisch – oder hinter dem Ofen – oder hinter der Portiere – Kunststück: bei dem unsicheren Geflacker von so 'ner Stearinfunzel.«
»Dann wäre er die ganze Zeit in der Wohnung gewesen?«
»Na natürlich.«
»Und was hat er da gemacht?«
Von derselben Ahnung getrieben, liefen wir in das Eßzimmer. Karl Nägele hob den Leuchter gegen die Wand. Die Stelle, wo da eben noch sein Bild gehangen hatte, war leer . . .
»Dazu hat der Kerl den Radmantel«, versetzte der arme, gute Karl erschöpft nach einer Weile, in der wir beide geschwiegen. »Mir war doch so, als hielte er auf der Flucht etwas unter dem linken Ellenbogen.«
Ich sagte nichts. Aber ich nahm mir vor, morgen einmal Nägeles dicken Stammtischbrüdern ernstlich auf den Zahn zu fühlen und, falls die gottlose Bande da irgendwie die Hand im Spiel hatte, sie als ein Mensch von forensischer Bildung ernstlich auf die Folgen ihres Tuns hinzuweisen. Denn wenn das ein Ulk sein sollte, ging er nachgerade zu weit . . .
Draußen schrillte die Flurglocke. Frau Nägele schreckte hysterisch zusammen und krallte sich wieder an meinem Arm fest. Sie zwickte mich in ihrer Angst empfindlich mit ihren dünnen Fingern.
Aber es war nur der Kutscher. Wenn man jetzt nicht auf der Stelle abgondele, sei keine Hoffnung mehr, den Zug zu erreichen . . .
»Ich bin ja fix und fertig!« schrie Karl Nägele und drängte sich, den Nachtsack in der Hand, an seiner Eheliebsten vorbei. Die zeterte auf:
»Jetzt willst du fort?«
»Ich muß doch – gerechter Strohsack! – ich muß!«
»Und wir bleiben schutzlos hier zurück?«
»Jetzt passiert doch nichts mehr«, brüllte der sonst so umgängliche Weinonkel, der Karl, in blinder Wut. »Jetzt ist ja alles gestohlen, was an Bildern von mir zu stehlen war – in meinen verfluchten vier Wänden hier! Dich stiehlt keiner. . . . oder er bringt dich morgen wieder!« Er war schon auf der Treppe. Der Kutscher polterte unbeholfen hinter ihm her. »Ich kann's erwarten! . . . Gott befohlen . . . 'n Abend Doktor!«
Das Haustor dröhnte. Die Droschke rasselte. Stille Mitternacht. Ich reichte der Frau des Hauses die Hand zum Abschied.
»Eigentlich hat der Karl ja ganz recht!« sagte ich. »Jetzt ist die Stätte ja leergeplündert! Die unbekannten Mächte haben sämtliche Bilder Ihres Mannes! Und Sie können ruhig schlafen! Also auf morgen!«
*
In aller Herrgottsfrühe – es ist kaum sieben Uhr – werde ich aus dem Schlaf geweckt! Vor meinem Bett steht atemlos und verstört ein langer, schmalschulteriger Jüngling, mit genialem Haarbusch, den Zwicker schief vor den kurzsichtigen Augen. Ich blinzele ihn erst geistesabwesend aus den Kissen an. Dann erkenne ich ihn: Das ist der Adolf, der Primaner – Karl Nägeles Ältester . . .
»Na . . .« Ich gähne. »Was bringen Sie denn Schönes?«
»Der Papa ist tot!«
»Was?« Ich setze mich auf. Der junge Mann stottert keuchend weiter.
»Der Papa kam im letzten Augenblick auf dem Bahnhof an und lief, so rasch er konnte, die Treppe hinauf auf den Bahnsteig, wo der Zug eben einfuhr. Dabei geriet er ganz außer Atem und fiel plötzlich, gerade wie er einsteigen wollte, hin . . . und es war aus.«
»Um Gottes willen . . .«
»Ein Schlaganfall – sagt der Arzt im Heiligkreuz-Spital neben dem Bahnhof. Dorthin haben sie die Leiche gebracht!«
»Ja – warum denn nicht nach Hause?«
»Es wußte nachts niemand auf der Bahn, wer er war.«
»Aber Ihr Vater muß doch Papiere bei sich gehabt haben?«
»Nein – das ist das Merkwürdige. Man fand bei ihm nichts mit seinem Namen und seiner Adresse! Nicht einmal eine Visitenkarte in der Brieftasche. Erst heute früh dämmerte es zufällig einem jungen Assistenzarzt, es könne wohl der Papa sein.«
»Sonderbar . . .«
»Auf der Straße habe ich Papas Geschäftsfreund – den Hotelier Krause – getroffen! Der war so früh auf, weil er immer selber in die Großmarkthalle einkaufen geht! Der ist jetzt gleich ins Spital, um die Leiche vom Papa freizubekommen! Und ich bin unterdessen zu Ihnen!«
»Sagen Sie Ihrer armen Frau Mutter, ich käme gleich!«
*
Die Frau Nägele saß, als ich erschien, in dem als Gastzimmer hergerichteten Stübchen ihrer Ältesten steif auf einem Stuhl. Diese Frau war so hart, daß sie nicht einmal jetzt richtig weinte. Sie tupfte sich nur manchmal mit dem Taschentuchzipfel anstandshalber die Augenwinkel. Sie hatte ein ganz versteinertes Gesicht. Ich drücke ihr die Hand und sage ihr, nur um etwas zu sagen:
»Mein Gott. . . . daß das so rasch kommen mußte . . .«
Und sie, immer nur so ein wenig tränenschluckend:
»Es war der reine Zufall, daß ich heute so früh schon auf war. Ich legte gerade die letzte Hand an das Logierzimmer . . .«
»Das ist noch ein Glück, daß jetzt gerade Ihre Frau Mutter kommt und Ihnen zur Seite steht!«
»Nein. Die Mama ist es diesmal nicht! Sondern eine Dame, die ich diesen Sommer zufällig bei der Kur in Kissingen kennengelernt hab' . . .«
»Die können Sie doch jetzt nicht brauchen.«
»Und jetzt kommt sie ja gleich an . . .«
»Sie muß eben ins Hotel!«
»Ach ja – bitte – sagen Sie ihr das doch!«
»Das wird sie schon von selber tun, wenn sie sieht, was hier . . .«
»Sie war so nett zu mir, als ich damals in Kissingen krank war. Da hab' ich sie eingeladen, bei uns abzusteigen, weil sie irgendeine Erbschaftssache hier vor Gericht hat . . . Ach – da kommt der Herr Krause . . .«
*
Der Hotelier, der seine Weine von Karl Nägele zu beziehen pflegte, trat langsam und leise ein. Er nickte mit einem feierlichen Leichenbittergesicht der Witwe zu.
»Er ist's . . .« sprach er gedämpft. »Ich habe ihn rekognosziert. Wir bringen dann den Seligen hierher. Sie wollen nur vorher, der Form wegen, im Spital seine Ausweispapiere!«
»Hat man denn gar nichts in seinen Taschen gefunden?«
»Aber auch nichts! Denken Sie nur: nicht mal ein Zeichen in der Wäsche!«
»Zeichen in der Wäsche hat er nie leiden mögen!« schluchzte die Frau Nägele. »Das war auch so 'ne Marotte von ihm!«
»Aber den Schlüssel zu seinem Kassenschrank hatte er bei sich. In dem Schrank wird er ja jedenfalls seine polizeilichen Urkunden drin liegen haben. Ich habe den Schlüssel mitgenommen. Wenn Sie erlauben, Frau Nägele, dann gehen wir in sein Arbeitszimmer hinüber, und ich sperre auf.«
*
Die schwere Tür des großen Panzerschranks im Kontor des toten Karl Nägele drehte sich lautlos unter dem Handgriff des Hoteliers. Tageslicht fiel in das Innere – oben drei Einzelfächer mit Hauptbüchern und Schriftstücken untereinander – die untere Hälfte ein umfangreicher, kastenartiger, freier Raum. In den schauten wir hinein – Frau Nägele und ich – und prallten im nächsten Augenblick zurück und standen sprachlos, mit offenem Mund . . .
Der Hotelbesitzer Krause war nicht derart vor den Kopf gehauen wie wir. Aber verdutzt war er auch. Er kniete vor dem offenen Safe und fragte über die Schulter zurück, indem er in das Innere des Schranks deutete:
»Was heißt denn das nur – daß der Selige da alle seine eigenen Bilder gehamstert hat?«
Wahrhaftig – da lag alles, was angeblich der sagenhafte kleine Mann im Radmantel in den letzten Wochen aus der Wohnung hatte mitgehen heißen: Karl Nägele als Rekrut – Karl Nägele als junger Handlungsbeflissener – Karl Nägele als Hochzeiter – Karl Nägele als frischgebackener Weinhändler – Karl Nägele als vierfacher Familienvater – Karl Nägele als wohlbestallter Stadtrat. Das große Kompagniebild mit Karl Nägele hinter dem Hauptmann. Karl Nägele en miniature auf dem Medaillon. Karl Nägele auf dem heute um Mitternacht weggekommenen lebensgroßen Brustbild in Öl.
»Das war natürlich 'ne Sache von 'ner Sekunde, wie er nach dem Schlafzimmer hinüberging . . .« sagte ich unwillkürlich zu der Witwe, »da unterwegs rasch das Ölbild vom Nägel zu reißen und nebenan in den Kassenschrank zu werfen! Und dann stellt er sich in der Küche hin und veranstaltet die Schießerei . . .«
»Ja – aber warum denn nur . . .?«
»Wegen des Bildes war er offenbar den ganzen Abend so wahnsinnig aufgeregt: Er mußte durchaus das Bild noch beiseite haben, ehe er wegfuhr, und den ganzen Nachmittag konnte er nicht ran, weil Sie wegen des Logierbesuchs im Eßzimmer kramten!«
»Da hätte er doch schließlich einen Tag später reisen können!«
»Er mußte aber um jeden Preis weg! Der Boden brannte ihm unter den Füßen! Man hat's ihm ja angesehen!«
»Was hat das alles, um Gottes willen, zu bedeuten, Herr Doktor?«
»Liebe – verehrte Frau – da fragen Sie mich zuviel!«
*
»Das war wohl ein kleines Mißverständnis mit meiner Ankunftszeit, liebe Frau Nägele!« sagte halb lachend eine helle Stimme von der Tür her. Wir hatten in der Aufregung das Klingeln draußen und das Öffnen des Mädchens überhört. Jetzt stand da eine zarte, mittelgroße, blonde Frau um die Mitte dreißig im Reisekleid auf der Schwelle, ein Täschchen in der Hand. Sie hatte ein rundes, sanftes Gesicht mit freundlichen Augen und einem weichen Mund. Sie ging freundschaftlich auf die Hausfrau zu und bot ihr die Hand.
»Als ich aus dem Zug stieg und Sie auf dem Bahnhof nicht traf, habe ich mir eine Droschke genommen und bin hierhergefahren!« sagte sie. »Hoffentlich war es so recht!«
Der Hotelier Krause hatte, während ich mit Karl Nägeles Witwe gesprochen, die Bilder ihres Mannes aus dem Geldschrank genommen und auf dem Teppich ausgebreitet. Da lagen sie jetzt nebeneinander – wie in Parade – der Lebenslauf meines Freundes Karl vom Altar bis jetzt zur Bahre. Die fremde Dame hatte darauf noch nicht geachtet. Sie sagte, während sie die Handschuhe abstreifte und den Schleier losknüpfte, liebenswürdig zu Frau Nägele:
»Lange falle ich Ihnen nicht zur Last! Mein Gerichtstermin ist schon morgen vormittag um zehn, und übermorgen früh fahre ich wieder! Es ist eine ganze Ecke bis zu unserem Nest in Böhmen, wo ich . . .«
Plötzlich brach sie ab. Sie hatte die Galerie Karl Nägele am Boden gesehen. Sie starrte sprachlos auf sie hinunter. Ihre warmherzigen Augen weiteten sich in einem maßlosen, ungläubigen Staunen. Sie hob unwillkürlich die Hände und faltete sie in jäher Betroffenheit vor der Brust. »Ja . . . aber . . . um Gottes willen – Frau Nägele . . .« sagte sie langsam, »wo haben Sie denn all die Bilder von meinem Mann her?«
»Von . . . wem?« fragte ich.
»Soviel hab' ich ja selber kaum . . . Das da – in dem Hochzeitsfrack mit dem Blumenstrauß – kenn' ich gar nicht.«
»Von . . . Ihrem Mann?« wiederholte ich. Die Frau Nägele konnte gar nicht reden. Die kleine, sanfte, blonde Dame wendete sich an sie – ganz verwundert. »Ich hab' Ihnen doch oft genug in Kissingen von meinem Mann erzählt.«
»Was haben Sie erzählt . . .? Ich bin Jurist . . . Sprechen Sie.«
»Erzählen Sie mir lieber, wie da plötzlich seine Bilder . . .«
»Wie heißt Ihr Gatte?«
»Mein Gott – Kuno Schmidt . . .«
»Wann haben Sie ihn geheiratet – wo . . .?«
»Das hab' ich doch alles in Kissingen Frau Nägele erzählt. Daß ich ihn vor acht Jahren zufällig als Gouvernante im Eisenbahnabteil getroffen hab' und daß wir uns bald darauf schon in London geheiratet haben.«
»Wo leben Sie?«
»Das weiß doch Frau Nägele alles: In Nordböhmen. Und daß wir sehr glücklich sind – auch ohne Kinder.«
»Was hat Ihr Gatte für einen Beruf?«
»Frau Nägele, ist der Herr hier vom Gericht?« Die sanfte, kleine Frau wurde ein bißchen ungehalten. Aber dann sagte sie doch in höflichem Ton: »Mein Mann braucht sich wirklich nicht zu schämen, daß er Inspektor bei einer Lebensversicherungsgesellschaft ist!«
»Und als solcher wahrscheinlich das halbe Jahr auf Reisen?«
»Mehr als das halbe Jahr. Daran bin ich schon gewöhnt. Aber jetzt erklären Sie mir – statt dieses sonderbaren Verhörs – lieber, wie alle diese Bilder meines Mannes hierhergekommen sind? Mir verbietet mein Mann immer, auch nur eine Photographie von ihm irgendwo auf die Reise mitzunehmen!«
»Es ist – wahrscheinlich – nur eine lächerliche Ähnlichkeit . . .« sagte ich. Aber ich glaubte es selber nicht . . .
Und in diesem Augenblick dröhnten schwere Tritte von acht Männerstiefeln auf der Treppe. Karl Nägele kam als stiller Mann in sein Heim zurück. Es hatten inzwischen so viele Leute im Spital seine Persönlichkeit festgestellt, daß man dort auf die Beibringung der Papiere verzichtete. Die Männer setzten den schlichten, vorläufigen Sarg in die gute Stube, wo wir vor wenigen Stunden noch gesessen, und öffneten den Deckel.
Und nun war kein Zweifel mehr: Rechts vom Sarg stand die Witwe des Weinhändlers Karl Nägele – links das stille Glück im Leben des Versicherungsinspektors Kuno Schmidt, das der lebenslustige, fröhliche, liebevolle, vielgeplagte Mann drüben bei seiner ersten Frau und seinen Kindern nicht gefunden hatte . . .
*
»Und nun, meine Herren«, sagte der kleine, alte Justizrat zu seinen Zuhörern, »führt das Schicksal die beiden Frauen in Kissingen zusammen. Die eine beschließt die andere zu besuchen. Karl Nägele kann es nicht hindern. Er weiß keinen andern Rat: Er muß seine eigenen Bilder aus der Wohnung beseitigen, damit sie ihn nicht verraten, und selbst für die Dauer des Besuchs auf seine letzte Geschäftsreise auf Erden gehen.«
»Und die beiden Frauen?«
»Ich habe sie dazu gebracht: Sie haben sich getrennt und niemals zu einem Menschen von der Sache gesprochen. Zwei Witwen haben still auf der Welt gelebt – fern voneinander, ohne sich je wieder zu sehen oder zu schreiben – die Witwe eines Weinhändlers und die eines Versicherungsinspektors. Und nun hat der liebe Gott sie beide auch schon lange zu sich genommen . . .«