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Viele Freunde und Verwandte hatte ich, selbst halb aus Österreich stammend, in der einstigen großen K. u. K. Armee. So saß ich auch einmal unten in Sarajewo im Hotel Europe in der Franz-Joseph-Straße bei einem Glas geeistem Nagetiner – in Bosnien trinken sie in der Sommerhitze den Rotwein halbgefroren – mit dem K. u. K. Hauptmann Franz Kirchlechner zusammen.
Ich kannte den Kirchlechner von Wien her. Dort hatte er im Geniestab gestanden. Aber, um das Morgenland kennen zu lernen, hatte er sich nach dem occupierten Bosnien zu Holzappel-Infanterie transferieren lassen, und trug den blauen Tschako und die blauen Hosen und den grauen Waffenrock und an dessen rotem Kragen die goldenen Distinktionssterne eines Hauptmanns der österreichischen Infanterie. Er sagte:
»Froh darfst sein, daß Du da oben im Hotel noch ein Zimmer gekriegt hast! Mir ist's, wie ich das erstemal hierhergekommen bin, schlimmer ergangen. An meine erste Nacht in Sarajewo – an die werd' ich denken . . .«
»Ach geh! Ein Soldat muß sich behelfen!«
»Wenn's das wäre«, der K. u. K. Hauptmann Kirchlechner zündete sich seine Virginia am langen Strohhalm an. »Nein – mein Lieber: In dieser Nacht ist mir etwas Unerklärliches passiert. Seitdem glaube ich an unbekannte Mächte.«
Nun war der Franz Kirchlechner, wie das schon seine Laufbahn im Geniestab mit sich brachte, ein durchaus klarer, nüchterner Kopf. Eher schon pedantisch, so wie sein ernsthaftes, längliches Gesicht mit dem Kaiser-Franz-Joseph-Backenbart und die steife Haltung seiner hageren Gestalt. Ich frug also:
»Ich nicht allein!«
»Und was hast Du denn in der Nacht gesehen?«
»Ja – da hör' mal zu!«
*
»Ich kam damals spät im Abenddunkel von Bosnisch-Brod her mit meinem Diener auf dem Bahnhof von Sarajewo an«, begann der K. u. K. Hauptmann Franz Kirchlechner. »Der Bahnhof liegt, wie Du weißt, eine halbe deutsche Meile vom Stadtinneren. Wie ich da endlich vor dem Hotel d'Europe hier vorfahre, ist wie gewöhnlich alles besetzt. Der Portier rät:
»In der Ferhadia Ulica, der nächsten Straße, ist vielleicht bei Moise Meir noch etwas frei! Kabiljo – fahrens mit dem Herrn Hauptmann hin!«
Der Kabiljo, ein deutsch sprechender Spaniole, setzte mich nach wenigen hundert Schritten vor einem sehr einfachen und, wie es schien, hauptsächlich von Geschäftsreisenden und bosnischen Handelstreibenden besuchten Gasthof ab. Sein Besitzer, Herr Meir, verhandelte auf meine Frage nach einem Zimmer halblaut mit seiner Frau. Er sprach jiddisch-deutsch mit ihr. Ich verstand deutlich die Nummern 7 und 35. Dann ein merkwürdiges, scheues Achselzucken Moise Meirs. Er führte mich auf Nummer 35. Das war ein elendes Stübchen unter dem Dach. Ich begehrte also Nummer 7 zu sehen. Es gab auf einmal keine Nummer 7! Ich wurde energisch. Nummer 7 sollte auf einmal besetzt sein! Ich hatte deutlich das Gegenteil gehört. Ich war müde. Ich wollte einfach die Tür von Nummer 7 öffnen. Sie war versperrt. Aber, auf meine drohende Bewegung hin, holte Moise Meir den Schlüssel. Bosnien stand damals noch unter Militärverwaltung. Mit einem K. u. K. Hauptmann suchte kein Einheimischer gern Händel.
»Die Nummer is sonst nix bewohnt!« versetzte Herr Meir beklommen. »Wann es Euer Gnaden befehlen – ich kann nix hindern!«
Dieses Zimmer war immerhin bequemer als das andere und sorgfältig in Ordnung. Nur die dumpfe Luft eines lange nicht bewohnten Raumes brütete darin. Ich jagte den Meir und seinen Troß zur Türe hinaus. Ich riegelte die Türe ab. Dann wollte ich den Vorhang vor dem einzigen Fenster der Stube herunterlassen. Auf halber Höhe hing die blaukattune Rolle. Aber sie war nicht zu bewegen. Die dicke Schnur, an der man sie zu ziehen hatte, war abgerissen. Ihr zerfasertes Ende baumelte hoch oben in der Luft. Also ging ich in Gottes Namen im Dunkel zu Bett und schlief sofort ein.
*
Mitten in der Nacht wachte ich auf, so als ob mich jemand plötzlich geweckt hätte. Ich setzte mich empor und schaute um mich. Das Zimmer war jetzt beinahe taghell – erfüllt von dem bläulichen Licht des Vollmonds, der durch das halb gardinenfreie Fenster hereinschien und dessen unteres Holzkreuz als schwarzer Schatten auf den Bodendielen widerspiegelte.
Gerade auf diesem Holzkreuz – mitten im Zimmer – von Mondschein umflossen, stand ein alter Türke. Mein erster Gedanke war: Wie kommt der Kerl hier herein? Ich habe doch die Tür von innen zugeriegelt! Aber seltsam: Ich wunderte mich eigentlich nicht, daß er da war.
Ich musterte ihn. Es war ein alter Türke, wie man sie zu Hunderten in den Kramgewölben der Tscharschia, des Basars hier nebenan, sieht – graubärtig, mit einem ernsten, faltigen Gesicht.
Ich rieb mir die Augen. Nein: der Türke blieb. Greifbar deutlich. Ich unterschied bis in die Einzelheiten seine Kleidung: den roten Turban, die blaue Jacke, die rote Leibbinde, die weißen Hosen, die safrangelben Pantoffeln.
Bisher hatte sich der alte Türke nicht gerührt, sondern mich nur unverwandt angeblickt. Jetzt machte er eine Bewegung mit der Hand nach der Gardinenschnur hoch über ihm und lächelte dazu. Und dieses eindringliche Lächeln sagte mir – ich wußte selbst nicht warum – ganz klar: »Hänge Dich auf!«
Ich saß im Bett aufrecht. Er winkte. Willenlos stieg ich aus dem Bett.
Ich stand im Zimmer. Er winkte. Willenlos ging ich zu dem Fenster.
Ich stand unter der Gardinenschnur. Er winkte. Willenlos streckte ich die Hand nach ihr aus.
Und konnte sie nicht fassen. Sie war ja abgerissen. Ihr Ende hing viel zu hoch.
Der alte Türke sah mich streng an. In diesem Augenblick wußte ich: Ich mußte ihm gehorchen. Ich mußte die Schnur in die Hand bekommen, um mich aufzuhängen.
Ich kletterte auf das Fensterbrett. Dort stellte ich mich auf die Fußspitzen und beugte mich seitlings vor und fingerte in der Luft nach dem abgerissenen Stück dort oben. Nur noch ein Zoll Luft trennte meine Fingerspitzen von der Schnur. Da – ich hatte meinen Schwerpunkt zu weit nach der Seite verlegt – ich verlor das Gleichgewicht. Ich stürzte rücklings in das Zimmer zurück und lag auf dem Boden.
Die Dielen dröhnten von meinem Sturz. Das Fenster zitterte. Das Waschgeschirr klirrte. Schritte trabten den Gang entlang. Es pochte leise, angstvoll an meine Türe. Ich stand auf und öffnete. Draußen, im Dunkeln, sah ich, im Schein einer Laterne, die er in der Hand hielt, das verstörte, braune, schnurrbärtige Gesicht des Nachtpförtners, eines deutsch sprechenden Serben. Ich hatte plötzlich einen Zorn.
»Wie kommt denn der Türke in mein Zimmer?« rief ich rauh.
Der Mann mit der Laterne starrte mich aus weit aufgerissenen Augen an. Plötzlich drehte er sich um und rannte davon, was er konnte.
Ich schloß hinter ihm die Türe. Ich trat wieder in das Zimmer zurück. Der alte Türke war nicht mehr da. Der Lärm meines Falls vom Fensterbrett, das Nahen des Hausdieners, hatten ihn offenbar verscheucht.
Ich holte meine Steyr-Pistole aus meinem Gepäck. Ich setzte mich, die Waffe in der Rechten, auf das Bett. Ich wartete. Aber es ereignete sich nichts mehr. Und schließlich, im ersten Dämmergrauen durch das Fenster, fiel ich in die Kissen zurück und schlief in den Morgen hinein.
*
Als ich zum Frühstück herunterkam, stand da beklommen und doch, wie mir schien, erleichtert Moise Meir, der Wirt, und berichtete stockend:
»Eben ist ein gutes Zimmer frei geworden. Werd' ich dem Herrn Hauptmann gleich geben!«
Das geschah denn auch. Ich siedelte um, und Nummer 7 wurde, wie ich merkte, sofort wieder sorgfältig verschlossen. Ich meldete mich im Lauf des Vormittags beim 15. Corpskommando und saß des Mittags mit einem Adjutanten vom Militär-Territorial-Kommando zusammen und erzählte ihm beim Gulasch und Gespritzten die Geschichte dieser Nacht und schloß:
»Das ist nun auch das erstemal in meinem Leben, daß ich im Schlaf einen Albdruck gekriegt habe!«
»Albdruck?« sprach der Kamerad mir gegenüber sehr nachdenklich. »Weißt: in dem Meir seiner Herberge hat sich wirklich vor einiger Zeit ein alter Türke aufgehängt. Fragen wir den Meir selber! Wart'! Ich komm' mit Dir!«
*
Moise Meir, der Gastwirt, wollte nicht mit der Sprache heraus. Er drehte und wand sich. Er zuckte mit den Schultern. Er fuchtelte mit den Händen. Endlich bequemte er sich.
»Nu – warum soll ich nix reden? Euer Gnaden wissen es ja doch! Kann ich dafür, daß sich des Nachts der Kaufmann Faik bei mir umgebracht hat? Wie? Ein türkischer Teppichhändler, Euer Gnaden! Er hatte seine Bude drüben im Basar, in der Tscharschia. Gewohnt hat er steil da oben in der Vorstadt, in der Ploca Ulica, bei der Gelben Bastion!«
»Ein Türke, der Selbstmord begeht? Das ist ja etwas ganz Unerhörtes! Warum denn?«
»Weiß ich, Euer Gnaden?«
Mein Kamerad sah den Herbergswirt scharf an.
»Der Türk hat sich aufg'hängt – gut! Aber warum will er jetzt, daß sich auch die Christen in dem Zimmer aufhängen?«
»Aber Herr Major . . .«
»Wann a Türk tot is, is er tot! Aus is! Dann soll er die Christen auf Nummer 7 net mehr sekieren! Dös is an Unfug – verstehen's!«
»Nix versteh' ich!«
»So! Wie war denn das mit dem amerikanischen Touristen, der am Morgen käsweiß aus Nummer 7 gekommen und schnurstracks davongefahren is?«
»Der Amerikaner hat nur englisch gesprochen. Das hat kein Mensch verstanden!«
»Und der Geschäftsreisende in echt orientalischen Fessen aus Strakowitz in Böhmen – der Herr Wenzeslaus Krpan? Wir haben doch den Akt von dem Vorfall hier bei der Militärpolizei gehabt! Ich hab' ihn selbst behandelt und an das Bezirksgericht nach der Alexanderbrücke hinübergegeben!«
»Meiner Seel' . . .!«
»Deine Seele ist so schwarz wie Deine Nägel!« schrie der Major. »Hat man nicht nachts aus Nummer 7 Lärm gehört, und wie man eingedrungen ist – hat da nicht selbiger Böhm – der Krpan – am Boden gelegen – die Gardinenschnur um den Hals . . .?«
»Freilich, Herr Major . . .«
»Die Gardinenschnur, mit der er sich hat aufhängen wollen! Zum Glück ist sie zerrissen, und der Wenzel is 'runterg'plumpst und in aller Eile früh morgens abgereist, um dem polizeilichen Verhör aus dem Weg zu gehen!«
Der Moise Meir hob beschwörend die Schultern.
»Seitdem hab' ich die Gardinenschnur auch nicht mehr erneuert, Euer Gnaden! Sie hängt jetzt noch so abgerissen hoch oben, wie damals, im Zimmer. Ich geb' das Zimmer ja auch nix mehr an Gäste! . . . Bloß, weil der Herr Hauptmann gestern abend durchaus gewollt haben! . . . Aber es soll mir eine Lehre sein!«
»Hoffentlich!« sagte der Major vom Territorial-Kommando. »Komm, Hauptmann! Wir fahren jetzt 'raus in das Defensionslager.«
*
»Das Defensionslager«, der K. u. K. Hauptmann Franz Kirchlechner, der mir in Sarajewo diese Geschichte erzählte, hatte eine Pause gemacht, um sich einen neuen Virginia-Stengel anzubrennen, »das war damals genau so wie heute. Weit draußen vor der Stadt, in der flachen Ebene und drinnen in den Kasernen an die dreitausend Mann Garnison: Bosniaken, Feldjägerbataillone, Honveds, Gebirgstrain-Escadrons, Dragoner – na – Du weißt ja . . . Wir fuhren an der Tabakfabrik und dem Militärspital und den Stallbaracken vorbei und kamen in das Uniformgewimmel und Hörnergetute und Getrommel und Kommandogeschrei des großen Defensionslagers und saßen da am Abend mit einem Dutzend anderer Hauptleute und Leutnants und Fähnriche und Kadetten von Holzappel-Infanterie zusammen.
Mich beschäftigte immer noch der Vorfall von heute nacht. Ich konnte an nichts anderes denken. Und als mich mein Nachbar zur Linken, ein Oberleutnant, frug: »Bist Du immer so schweigsam wie heut', Herr Hauptmann?« – da hielt ich nicht mehr an mich und erzählte meinen neuen Kameraden von dem alten Türken – und was das wohl für ein Traum gewesen – und warum drei einander wildfremde Menschen hintereinander in demselben Zimmer dasselbe träumten . . .
Das machte auch die andern nachdenklich, und das Gespräch drehte sich nicht wie sonst, wenn K. u. K. Militär beisammen war, um Mädel und Säbelduelle und Pferde, sondern um allerhand Dinge zwischen Himmel und Erde, und wurde immer ernster und leiser . . .
*
»Na – Ihr sitzt's ja da, wie die Leichenbitter!«
Der da lachend herangeschlendert kam und das sagte, war ein mittelgroßer, junger Mensch mit der unwahrscheinlichen, unter der Knopfreihe womöglich noch geschnürten Wespentaille und den fadendünnen Hüften eines richtigen österreichischen Leutnants und mit einem hübschen, leichtsinnigen und unzuverlässigen Gesicht.
Er trug den kaffeebraunen Waffenrock, die blauen Kniehosen und den schwarzen Tschako eines Offiziers der Gebirgsartillerie. Er sprach das langsame, pedantische, eindringliche K. u. K. Armeedeutsch. Aber man merkte sofort, daß Deutsch nicht seine Muttersprache war. Ein slawischer Unterton klang mit. Und undeutsch war auch das krause, dunkle Haar zu beiden Seiten des Tschakos und das verwegen aufgedrehte, schwarze Schnurrbärtchen.
»Servus, Kasimierz!«
»Setz' Dich nieder, Koschko!«
Der Leutnant Kasimir Koschko nahm im Kreis der Infanteristen Platz. Er war noch sehr jung – erst Anfang der Zwanzig – aber er hatte schon etwas verlebte Züge. Und neben mir, abseits von ihm, sagte halblaut der Adjutant vom Territorial-Kommando, mit gerunzelter Stirne:
»Mir is der Polack da z'wider! Nix wie Ärger haben wir da oben mit dem Früchtl!«
»Wieso denn?«
»Wenn er's bloß mit den Weibern halten tät' und Trinken und Spielen! Aber was das Fadste is: er treibt sich mit den Söhnen von den Begs hier herum – ich bitte!«
»Mit den Türken?«
»Sarajewo is doch der Hauptsammelpunkt der mohammedanischen Großgrundbesitzer in Bosnien. Die alten Begs – die gehen noch! Es sind eben richtige Alt-Türken, wie's im Koran steht! Aber die Herren Söhne – die haben nix mehr zu kommandieren, seitdem wir im Land sind, und nix g'lernt haben's eh' – Bloß alle Laster von Paris haben's angenommen und spielen die Kavaliere und drahn auf und schmeißen mit dem Geld um sich und geben Christ und Jud' und Heid' ein Ärgernis!«
»Und ein paar von den Schlankeln – die Söhne vom Muktar Beg und vom Sabri Beg – das sind dem Pülcher – dem Koschko – seine Spezi's! Und alle Verwarnung ist für die Katz'!«
»Was habt's Ihr denn, daß Ihr so ernst seid?« frug der Artillerie-Leutnant Kasimir Koschko wieder. Er selbst sah nicht so aus, als ob er überhaupt irgend etwas im Leben wirklich ernst nehmen könne. Wenn man ihn schärfer musterte, bemerkte man, daß er getrunken hatte. Seine schwarzen Augen waren heiß, und unter dem schwarzen Schnurrbärtchen zuckte ein herausforderndes und ruhmrediges Lächeln.
»Wir sprachen eben von einem unheimlichen Zimmer, in dem keiner ein zweites Mal übernachten will!« antwortete der Major vom Territorial-Kommando.
»No – ich tät's gleich!« versetzte der Kasimir Koschko rasch, die Zigarette schief zwischen den Lippen.
»Das ist leicht gesagt, mein Lieber!«
»Stellt mich doch auf die Probe!« der Koschko lachte. »Wetten wir!«
»In so heiklen Dingen wett' ich lieber net!«
»Dann tu' ich's für Gottes Lohn – bloß damit ich Euch meine Bravour zeig'!«
»Der Koschko verspricht schnell was . . .« rief es aus der Runde.
»Aber bis er's ausführt!«
»Heut' abend noch führ' ich's aus!« schrie der Pole. »Ich fahr' jetzt mit Dir, Herr Major, und mit Dir, Herr Hauptmann, in die Stadt. Da zeigt Ihr mir, wo das fade Zimmer is!«
»Weißt, Leutnant Koschko . . . Ich warne Dich!« sagte der Major langsam und bedeutungsvoll. »Wenn Du ahnen tätst, was da . . .«
Aber fast zugleich sagte ich schnell zu meinem Nachbar.
»Erzähle ihm nichts, Herr Major, was mir und den andern in dem Zimmer passiert ist! Wir wollen sehen, ob er dasselbe träumt wie wir!«
»Also – Koschko – hast a Schneid?« lärmte es von zwei, drei Seiten.
»Wenn ich's doch g'sagt hab'!« Der Gebirgsartillerist sprang hastig auf. »Alsdann – fahren wir lieber gleich!«
In einem andern Kreis hätte man ihn vielleicht noch von seinem Vorhaben abzureden versucht. Aber hier war man unter K. u. K. Offizieren. Jeder leiseste Zweifel an der Courage oder an der Gelegenheit, seine Courage vor den Kameraden zu zeigen, hätte mit nackten Oberkörpern und scharfen Krummsäbeln in der Reitbahn drüben geendet. Also bestiegen wir unser draußen harrendes Krümperfuhrwerk und rumpelten durch die dunkle Nacht nach Sarajewo.
Als wir da vor dem Gasthaus des Moise Meir hielten und heller Laternenschein auf die hübschen, weichlichen Züge des Leutnants Koschko fiel, war es mir doch, als wäre ihm unterwegs, in der Finsternis, den Sternhimmel über sich, die Reue gekommen. Seine Wangen waren blaß. Er trat unbehaglich und unschlüssig von einem Fuß auf den andern. Jetzt riskierte ich es doch und sagte:
»Wann Du von der Geschicht' absehen willst – eine Schande wär's net! Der Kampf gegen Gespenster steht nicht im Fahneneid!«
Aber der Koschko warf mir einen zornigen und düstern Blick zu. Er hatte sich schon wieder gefangen. Er biß sich auf den schwarzen Schnurrbart. Er trat sporenklirrend, die Reitpeitsche unter dem Arm, in den Flur des Beißl. Er schrie.
»Wo is das Zimmer? Nummer 7? der Schlüssel verlegt?« Er beutelte den Moise Meir wie eine Ratte. »Auf der Stelle sperrst auf, Du Spitzbub, oder ich komm' Dir mit Brachialgewalt!«
Der Moise Meir zitterte. Der Moise Meir wagte keinen Widerstand. Er öffnete die Türe. Der Artillerieleutnant Koschko trat ein, ein paar Weinflaschen und ein Glas, die er sich vom Wirtsschragen mitgenommen, in der Hand, stellte sie auf den Tisch zwischen zwei brennende Kerzen, legte einen Pack Zigaretten und ein paar Hefte des Witzblattes »Caviar« dazu, setzte sich rittlings davor auf einen Stuhl und winkte mit der Hand:
»Servus! Auf Wiedersehen morgen früh!«
*
Nun gut: Am nächsten Morgen fragen wir – ich und der Major – im Gasthof nach dem Kasimierz Koschko.
Es habe sich die Nacht über auf Nummer 7 nichts gerührt, berichtete der Torwächter in seinem gebrochenen Serbisch-Deutsch. Er sei ein paarmal oben im ersten Stock auf den Fußspitzen vor dem Zimmer auf- und niedergeschlichen, ohne einen Laut von drinnen zu vernehmen. Auch jetzt beliebten der Herr Leutnant noch zu schlafen.
Wir stiegen hinauf. Wir klopften an Nummer 7 zwei-, dreimal. Keine Antwort. Ich drückte auf die Klinke. Die Türe ist unverschlossen – so echt sorglos, wie das dem Koschko seine Art war. Wir treten ein. Das Bett dicht vor uns ist leer und unbenutzt. Und ich sage:
»Dem Herr Gebirgsartillerieleutnant ist es doch zu unheimlich geworden – vor der bevorstehenden Nacht! Ausgerückt ist er in aller Stille – wahrscheinlich gleich gestern abend!«
»Aber da steht er ja!« unterbrach mich der Major und deutete auf eine Gestalt in der dämmerigen Ecke zwischen Fenster und Wand. Und ich:
»Das kann der Koschko nicht sein! der da im Winkel is ja einen halben Kopf größer!«
Aber als wir näher herantraten, merkten wir, warum der Leutnant Koschko über Nacht einen halben Kopf größer geworden war. Er stand nicht, sondern er hing, so daß zwischen seinen Stiefelspitzen und dem Boden noch ein paar Zoll Spielraum war. Er hing an der Gardinenschnur. Deren abgerissenes Ende hatte er offenbar beim Klettern auf das Fensterbrett doch erwischt und sich um den Hals geschlungen.
Kasimir Koschko war tot. Schon seit fünf, sechs Stunden. Daran war nichts mehr zu ändern. Draußen im Militärfriedhof, beim Landesspital haben wir ihn begraben. Die Geschichte wurde vertuscht. Die wenigsten wußten, daß er nicht im Defensionslager durch den unvorhergesehenen Hufschlag eines Gebirgsmaultiers, sondern bei Moise Meir, im selben Gemach wie der Teppichhändler Faik, sein Ende gefunden.
*
»Die Tochter dieses Faik«, fuhr der K. u. K. Hauptmann Franz Kirchlechner fort, der mir diese Geschichte erzählte, »spielte als Kind wie alle kleinen Türken-Mädchen, unverschleiert, in langen Pluderhosen, vor dem Elternhaus auf der Gasse und lernte so die beiden Beg-Söhne, den Muktar und den Sabri, schon als Lausbuben kennen.
Und die Bekanntschaft blieb heimlich bestehen, auch als die Tochter herangewachsen war und hinter Schleier und Haustor gehörte. Und die zwei liederlichen Jungtürken trafen sich nicht nur verstohlen des Abends mit ihr, sondern machten sie auch mit ihren leichtsinnigen europäischen Freunden bekannt. Na – und so . . . das Weitere kannst Du Dir vorstellen . . .
Es gibt da eine Ortschaft Gabela in Bosnien – nahe dem Ausfluß der Narenta in die Adria – es kommt selten jemand hin – die Gegend ist weithin versumpft und fieberig – ein ehemaliges türkisches Seeräubernest – noch ganz von Mohammedanern bewohnt. Dorthin schickte der Teppichhändler Faik, als das Unglück allmählich zu Tage kam, zu nahen Verwandten seine Tochter. Und ich glaube, es wäre für ihn kein Schrecken gewesen, sondern die Erfüllung einer stillen Hoffnung, wenn er gehört hätte, sie wäre dort plötzlich am Klimafieber gestorben. Mein Gott: Da unten in den heißen Gegenden im Süden der Herzegowina wachsen im Karst Giftsträucher genug. Und es gibt Zigeuner genug, die beim Landstreichen solch Zeug mit sich führen.
Statt dessen erhielt der Kaufmann Faik eines schönen Tages die Nachricht, das er Großvater eines gesunden Christenknäbleins geworden sei. Das war dem strenggläubigen Alt-Türken zu viel. Er ging hin und erhängte sich.
*
»Und der Koschko, der an der ganzen Sache schuld war,« begann der Hauptmann Kirchlechner wieder, »der Koschko, der Vater von dem Knäblein – der wußte wohl, wie und wo der Kaufmann Faik sein Ende gefunden hatte. Aber er ließ es sich nicht anfechten – ein gewissenloser Windhund, der er war. Der Alte tot, die Tochter mit dem Kind weit weg. Was konnte ihm da viel geschehen? Er lebte seinen z'wideren Lebenswandel weiter, mit Wein, Würfeln, Weibern und Händeln – und so vermaß er sich auch in seiner Renommiersucht, das Abenteuer in dem unheimlichen Haus zu bestehen.
Daß das gerade das nämliche Zimmer war, in dem der alte Faik sich wegen ihm die Schlinge um den Hals legte – das merkte er erst, als er mit uns vor dem Gasthaus des Moise Meir ausstieg und die Treppe zu Nummer 7 hinaufgeführt wurde. Denn wir hatten ihm ja, um seine Erlebnisse auf die Probe zu stellen, vorher nichts gesagt. Daher seine plötzliche Blässe. Sein Drucksen und Würgen. Er wäre sicher um sein Leben gern in die Nacht hinaus davongelaufen. Aber er blieb. Mut hatte er. Diese einzige gute Eigenschaft muß man ihm lassen. Und so verlor das unschuldige Wurm in Gabela im gleichen Gemach durch Selbstmord seinen Vater und seinen Großvater – den Christen und den Mohammedaner.
*
Drüben liegen sie – nur durch den jüdischen Friedhof getrennt – einander gegenüber – auf dem ärarischen Friedhof unter einem Eisenkreuz der Leutnant Koschko, und auf dem türkischen Friedhof unter einem steinernen Turban der Kaufmann Faik.«