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Das ist eine Geschichte aus alten Tagen: – Wie der junge Wolf Nicol von Dahl aus dem Baltenland über Nacht in Petersburg sein Glück fand. Und wie dort der mächtige Selbstherrscher aller Reußen von seinen getreuen russischen Staatsdienern übers Ohr gehauen wurde. Wann und wo ich diese Geschichte erfahren, das kommt später.
Der Selbstherrscher – das war Alexander der Zweite, der Zarbefreier, und die Ereignisse spielen nicht allzulange vor seiner freventlichen Ermordung, in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts.
Damals fuhr eines Tages zur Sommerzeit Wolf Nicol von Dahl mit seiner Braut Cara von Metzradt durch die sumpfigen Birkenwälder und feldsteinummauerten Weideflächen des inneren Estlands der nächsten Poststation zu. Nicht die beiden allein – das wäre des Landes nicht der Brauch gewesen. Tante Sisa saß dabei, als »Elefant«, wie man damals sagte. Aber Tante Sisa war ein wenig »dwatsch«, wie man damals auch sagte –: knapp von Verstand. Sie störte nicht, während Nicol zu seiner Zukünftigen sprach, einem rosigen, blonden, hübschen Fräulein vom Lande – er selbst ein ansehnlicher, großer, flotter Mensch.
»Außer unseren Wappen und dem Leben besitzen wir zwei nichts auf der Welt . . .«
». . . als deine Verbindungen in Petersburg«, mahnte die blonde Cara sanft. Und hatte recht. Was war ein Mensch in Rußland ohne »Beziehungen«? Und ihr Verlobter, hoffnungsvoll, andächtig: »Empfehlungen an Wassiljeff selber . . .«
Wassiljeff . . . Einer der mächtigsten Minister von Petersburg – in der vollen Gnadensonne des Zaren . . .
»Sieh mal, Cara: Das ist doch das Riesenglück, daß Wassiljeff, durch einen Scheffel Erbsen, die großen Katharinenhofschen Güter in Kurland geerbt hat. Er kommt ja selber als Russe nie dorthin! Aber er steht doch dadurch den Ostseeprovinzen näher als andere hohe Tschinowniks, und ich bin doch schließlich ein fixer Junge. Er wird mir einen Posten im russischen Staatsdienst geben! Und dann«, Nicol Dahl stieg auf der Station in den Postwagen nach Petersburg. Das Glöckchen klingelte am Krummholz. Er winkte zurück. ». . . und dann können wir heiraten!«
Eine lange Reise damals – als es noch keine Eisenbahn von Estland nach Petersburg gab. Aber Wolf Nicol von Dahl kam schließlich in der russischen Hauptstadt an. Zwanzig Rubel noch in der Tasche. Mehr nicht! Gott wird helfen!
Das Ministerium. Der betreßte Türschweizer. Die bleichen Beamten. Ein besorgter Kollegienrat, ein entfernter Vetter, ratlos das Empfehlungsschreiben in der Hand.
»Audienz bei Seiner Hohen Exzellenz? Bis auf weiteres unmöglich! Der Minister ist in einer verzweifelten Stimmung!«
»Wie das?« rief Wolf Nicol von Dahl in größter Bestürzung.
»Der Selbstherrscher geruht doch, sich zur Zeit mit seiner erhabenen Gemahlin in deren hessischer Heimat an der Bergstraße aufzuhalten. Von dort hat der Minister gestern ein höchst ungnädiges Handschreiben Seiner Majestät empfangen! Sein Sturz nach der Heimkehr des Zaren scheint bedrohlich nahe!«
»Was steht in dem Allerhöchsten Ukas?«
»Niemand weiß es! . . . Aber niemand kann dir jetzt hier helfen, wo alles auf der Kippe steht!«
Ein geschlagener Mann, tritt Wolf Nicol auf die Straße. Was nun? Gott erbarme sich! Noch zwanzig Rubel im Besitz! Reval weit. Ein Adjutant eilt ihm nach: »Der Ältere Gehilfe im Ministerium, Exzellenz Borger, läßt Sie bitten, noch einmal umzudrehen und zu ihm zu kommen!«
Constantin Paulowitsch Borger ist trotz seines deutschen Namens ein Vollblutrusse, mit schwarzem Langbart und rundem, kahlem Schädel. Er sitzt hinter einem riesigen, mit Akten bedeckten Tisch, winkt, Platz zu nehmen, bietet dem Besucher höflich Papyrossen an. Sein Baß ist langsam und dunkel.
»Warum wollen Sie im Kronsdienst hungern, Baron? Leben Sie doch lieber auf Ihren Gütern!«
»Ich müßte dazu auf den Mond übersiedeln, Exzellenz!«
»Wie das? Sie sind seit einem Jahr bereits Besitzer einer der größten Herrschaften Kurlands! Das Schloß Katharinenhof. Dreihundert Wirtsstellen. Zehntausend Deßjatinen. Es ist alles längst auf Ihren Namen überschrieben! Was wollen Sie mehr?«
»Ich verstehe nicht . . .«
»Sie erhalten heute nachmittag in Ihr Hotel die Urkunde zugesandt. Alles gestempelt und in Ordnung! Nehmen Sie, was Gott Ihnen schickt! Reisen Sie heute noch nach Kurland! Treten Sie sofort Ihren Besitz an! Geben Sie mir Ihr Wort als Edelmann? Ja? Danke! Nun: mit Gott!«
Wolf Nicol von Dahl macht, daß er leise aus dem Zimmer kommt, in dem der Verrückte sitzt! Dumpf hockt er des Nachmittags in seinem Hotelstübchen im vierten Stock. Herein! Ein behutsamer, geschmeidiger Mensch – nicht in Uniform, sondern in deutschem Rock – mit einem Dokument: »Bitte, den Empfang zu bestätigen, Gospodin!« Wolf Nicol unterschreibt. Der Bote schlüpft lautlos auf Gummischuhen durch den Türspalt davon.
Der junge Herr von Dahl prüft die Papiere: Er ist seit einem vollen Jahr rechtmäßiger Eigentümer des Riesenguts Katharinenhof in Kurland. Dessen Vorbesitzer – eben der Minister Wassiljeff, den er nie in seinem Leben noch gesehen und gesprochen – hat es ihm seinerzeit gegen sofortige Barzahlung verkauft . . . ihm, dem damals, wenn man ihn auf den Kopf stellte, kaum eine Kopeke aus der Tasche gefallen wäre – ihm, der niemals in Kurland, geschweige denn in Katharinenhof war.
Ist der Minister mit seinem ganzen Volk verrückt geworden? Halt: Da ist noch ein Briefumschlag! Sein Inhalt zehn »Regenbogenscheine«: tausend Rubel. Ein Zettel. Wieder die Mahnung: »Übernehmen Sie sofort Ihren neuen Besitz!«
Nur fort aus Petersburg! Nur fort aus dieser unheimlichen Stadt! Wolf Nicol Dahl reist, um das Rätsel aufzuklären, Tag und Nacht. Er erreicht Kurland. Er fährt, nahe der deutschen Grenze, an dem Schloß Katharinenhof vor. Er steigt aus. Er erwartet, daß man ihn wegjagt . . .
Alles umher dienert tief. Die Männer küssen ihm den Rockzipfel, die Mägde die Hand. Jeder erwartet schon den neuen Herrn. Das gewaltige Waldgut ist wirklich sein Eigentum.
Er faßt sich. Er ist, wie gesagt, ein fixer Junge. Er lebt sich ein. Er legt überall Hand an. Er beginnt zu wirtschaften. Er hat genug damit zu tun. Denn der bisherige Verwalter, ein Pole, ist am Tage vor seiner Ankunft plötzlich bei Nacht und Nebel verschwunden. Niemand weiß wohin. Niemand weint dem verhaßten Bedrücker und Blutsauger eine Träne nach. Die Fäuste der lettischen Bauern ballen sich, wenn sie im Krug dem Leuteschinder fluchen.
Wolf Nicol aber schreibt seiner Braut: »Was eigentlich geschehen ist, weiß ich nicht. Aber ich komme und heirate dich und führe dich ins Glück!«
Und so holte er seine blonde Cara heim, und beide lebten froh und unangefochten mit ihren Kindern auf Katharinenhof, bis der Herr sie abrief. –
Unter den vielen Bauern des Gutes aber gab es einen finsteren und entschlossenen Gesindewirt, des Namens Jan Rudzits. Der hatte im Mai dieses Schicksalsjahres, zwei Monate ehe Wolf Nicol von Dahl seine Glücksfahrt nach Petersburg antrat, im Pastorat des Kirchspiels, zu dem Katharinenhof gehörte, die Kappe von der langen Mähne gelüftet und aus den Händen des lutherischen Pfarrers Graumann eine versiegelte Denkschrift in Empfang genommen.
Und der deutsche Seelsorger hatte auf lettisch zu ihm gesagt: »Ihr mögt recht haben mit eurem Verzweiflungsschritt – du, Jan Rudzits, und die andern Katharinenhofschen Bauern. Der Minister Wassiljeff, der Petersburger, der Russe, kommt niemals selbst nach Kurland auf sein Erbgut. Es ist nicht mehr zu ertragen, wie euch in seinem Namen der Polacke, dieser Verwalter, plackt und schindet. Was hilft es, sich beim Minister über ihn zu beschweren? Kein Bittsteller dringt bis zu ihm vor. Jede Eingabe wird unterwegs von den Tschinowniks unterschlagen! – Es gibt nur einen in Rußland, der noch mächtiger ist als der Minister!« hatte der Pastor geschlossen. »Der Zar befindet sich jetzt in Deutschland – an einem Ort, der Jugenheim heißt – im südlichen Teil dieses Landes. Der Herrscher bewegt sich dort, anders als bei uns, frei unter den Deutschen. Vielleicht glückt es dir, bis zu ihm vorzudringen und sein Antlitz zu sehen!«
Schüsse in der Nacht waren etwas Gewöhnliches an der deutsch-russischen Grenze. Meist handelte es sich um Leder, das wohl die Grenze, aber nicht den Zoll sehen sollte. Aber auch Tabak und anderes schleppten die Schmuggler auf dem Rücken.
Wilde Sachen erlebte man hier: Flöße, die, statt auf Balken, heimlich auf aufgeblasenen Zickelfellen schwammen. Und im Innern der Bälge verbotene Ware. Leichen im Sarg – ohne Paß, aber mit dem Drang ins Ausland –, die jenseits der Grenze wieder lebendig wurden. Mit Diamanten genudelte Treibgänse, die man schleunigst hinter dem Schlagbaum schlachtete.
Chaim Dunkelblum organisierte hier diesen Grenzverkehr. Chaim Dunkelblum machte alles. Am liebsten, wenn er im Dunkeln blühte. Und so exportierte er in einer finsteren Gewitternacht, während er die Grenzsoldaten durch falschen Alarm anderweitig beschäftigte, und das »Na Tschal«, das Trinkgeld, nicht sparte, nach allen Regeln der Kunst den Gesindewirt Jan Rudzits mit einem Schreiben nach Deutschland. Er, der sich mit seinem Jiddisch-Deutsch dort durchschlagen konnte, brachte den lettischen Bauern zum Mendel Fainstein in einem jener fast ausschließlich von jüdischen Viehhändlern bewohnten Hochdörfer des Odenwaldes, von wo man schon auf die lachende Bergstraße und das liebliche Jugenheim hinabsah.
Dort in Jugenheim habe ich zehn Jahre später, als ich in Darmstadt in Garnison stand, diese Geschichte gehört und nicht geglaubt. Denn was erzählt man sich nicht alles von Rußland! Aber als ich in einem der nächsten Sommer, wie alljährlich, nach Rußland kam, habe ich mich doch dort danach erkundigt. Und es zeigte sich: Auch in Petersburg und zwischen der Narwa und dem Krug Nimmersatt wußte man von einem solchen Vorfall . . . in Jugenheim. Das ist ja zwei Menschenalter her.
In diesem Garten Deutschlands, in dieser schon halb südlichen Landschaft, die ihn an die Krim erinnerte, fühlte sich der Zar wohl. Er unternahm weite Spaziergänge in den Wäldern, oft nur mit einem einzigen Begleiter. Wie er eines Morgens geruhig im fremden Land lustwandelte, erblickte er vor sich, gleich einem Traumbild, eine Erscheinung aus seinem eigenen Reich.
Vor ihm kniet ein wirrmähniger Bauer und schlägt die Stirne in den Staub und hebt in der hornigen Rechten einen Bittbrief: »Erbarme dich, Väterchen!« Und der Zar nimmt. Und der Zar liest. Und der Zar furcht die Stirne und setzt sich in seinem Sommerschloß an den Malachit-Tisch und schreibt an den Minister Wassiljeff eigenhändig einen Brief.
»So also geht es auf Deinen Gütern zu! Deine Kreaturen bedrücken die Bauern, denen ich eben erst die Befreiung von der Leibeigenschaft schenkte, wie sie im Gouvernement Kurland ohnedies schon bestand! Sobald ich wieder in Petersburg bin, wirst Du mir Rechenschaft ablegen!«
Aber siehe: Im Winterpalais in Petersburg tritt Seine Hohe Exzellenz Wassiljeff mit der Miene gekränkter Unschuld vor den finsteren Zaren.
»Verantworte dich!«
»Mit einem einzigen Wort. Eure Majestät! Die Eingabe in Allerhöchstdero Händen trägt das Datum dieses Sommers!«
»Ganz richtig!« bestätigte der Zar mit düsterer Stirne.
»Nun – und schon ein Jahr zuvor, im vorigen Sommer, habe ich Katharinenhof an Eurer Majestät in der Adelsklasse eingeschriebenen Untertan Wolf Nicol von Dahl rechtskräftig verkauft. Hier die amtlichen Dokumente. Kann ich dafür, wie es mein Nachfolger und sein Verwalter treiben?«
Dieser Verwalter – der Pole – der, einen Tag vor Wolf Nicols Ankunft in Katharinenhof, dort auf Exzellenz Wassiljeffs Befehl nachts von Gendarmen ausgehoben und in Irkutsk in Sibirien »angesiedelt« worden war.
»Und im übrigen, Euer Majestät – dieser junge Balte hat sich gebessert! Er hat, wie ich höre, seinen erpresserischen Verwalter, einen Polen, weggejagt und wirtschaftet jetzt milde und gerecht! Die Bauern sind mit ihm zufrieden!«
Das längliche, vornehme Antlitz des Zaren erhellte sich zwischen den Bartkoteletten.
»Nun – dann ist es ja gut! Ich freue mich, daß ich mich in Ihnen nicht täuschte, Sergei Timofeïtsch!« Er drückte seinem Minister die Hand. »Stehen Sie mir weiter treu zur Seite! Mit Gott!«