Rudolph Stratz
Die siebte Pille und andere abenteuerliche Geschichten
Rudolph Stratz

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Hanka

Das ist die dunkle Geschichte von der schwarzen Hanka aus Ostpreußen, im ersten Winter des Weltkriegs.

Das heißt: Eigentlich ist es zunächst die Geschichte von ›Müthchen‹, von Erdmuthe Heerbrandt: – ein Pausback mit einer Stupsnase in dem runden, lustigen Bubengesicht und mit prachtvollen, immer lachenden weißen Zähnen – noch ein bißchen kälbern – kaum achtzehn – auf dem väterlichen Rittergut Gerkehmen, dicht hinter der Front, wo sie in Friedenszeiten auf die Bäume kletterte, um die Krähennester auszunehmen, und auf schaukelndem Nachen die Hechte mit der Gabel stach.

Jetzt, im Krieg, tat sie tagsüber Helferinnendienst auf dem Bahnhof des nahen Städtchens, in dem der hohe Befehlsstab des Frontabschnitts lag. Ihre Mutter waltete da, hinter Kaffeekesseln und Stullenstapeln, umgeben von einer Schar junger Mädel, und Müthchen, ihre Einzige, rannte langbeinig, atemlos, die endlosen Züge auf und ab, Müthchen schleppte Wasser, Müthchen telefonierte, Müthchen kannte Gott und die Welt in Waffen ringsum.

Und am Frühabend dieses besonders aufgeregten Wintertags, in dem ein Truppentransport nach dem andern einlief und weiter nach Norden fuhr, witschte Müthchen auf dem Bahnhof an ihrem Vater vorbei. Der alte Heerbrandt stand, grauhaarig, im Feldgrau der Landwehrkavallerie, wo er als Major im Pferdedepot tätig war, auf dem Bahnsteig, mitten im Kriegsgetümmel, in das ganz von fern leise die Front grollte, und plackerte und tackte, im Gespräch mit dem Generalstabshauptmann Ludwig Noster, und hielt seine zum Ausgang strebende Tochter an der Rotenkreuzbinde am Arm fest:

»Halloh – wohin, Mariell?«

»Auf einen Sprung zu uns hinaus nach Gerkehmen!« schrie Müthchen. »Ich hab' Urlaub von Mutti! Ich muß draußen mal nach den Hühnern und Eiern schauen! Es wird ja zu wahnsinnig gestohlen!«

Und damit sprang sie aufgeregt in den draußen vor dem Bahnhof wartenden Herrschaftsschlitten und klingelte in flottem Trab die halbe Stunde verschneite Landstraße hinaus nach Gerkehmen.

Soweit Müthchen. Aber wenn man von Müthchen Heerbrandt spricht, dann muß man auch von dem Leutnant Glowatsch reden. Denn der liebte sie. Er sah sie nur selten, wenn er dienstlich in das Städtchen kam. Für gewöhnlich hauste er mit seinen Pionieren draußen in einem Lager auf einer Waldlichtung hinter der Front, gegen Fliegersicht gedeckt, in einem Stübchen unter der Erde.

Es war ganz warm und gemütlich da unten in dem Bretterverschlag. Eine Leiter führte von oben hinab. Unten gab es ein Schlafkanapee und ein Büchergestell und einen Tisch mit einer Petroleumlampe darauf. Und an dem Tisch saß, während draußen schon stark der frühe Winterabend über dem weißen Schnee graute, Karl Glowatsch, ein ernster, junger Offizier, mit einem zuverlässigen, schnurrbärtigen Antlitz, und las im ›Faust‹, als ein Unteroffizier herunterstieg und meldete:

»Herr Leutnant! Es ist eine Ordonnanz aus der Stadt gekommen!«

»Na – und . . .«

»Ich weiß nicht, Herr Leutnant: der Mann kommt mir so komisch vor. Er ist noch ganz jung. Er sagt, er sei Kriegsfreiwilliger!«

Blutjunge Kriegsfreiwillige gab es in Fülle. Der Leutnant Glowatsch sagte also nur:

»'mal runter mit dem Knaben!«

Ein schmächtiges, feldgraues Kerlchen kletterte höchst gelenkig die Sprossen nieder, trotz des viel zu langen Militärmantels, der unten nur einige Handbreit Wickelgamaschen und ein paar mächtige Kommißstiefel freiließ. Der Leutnant Glowatsch wurde, was ihm vor dem Feind gewiß nie passierte, blaß vor Schrecken. Er erhob sich mit offenem Mund. Er sprach nicht, bis der Unteroffizier weg war. Dann brach er los.

»Sind Sie denn verrückt geworden, Fräulein Heerbrandt?«

»Da bin ich!« sagte Müthchen strahlend.

»Woher haben Sie denn die Montur?«

»Gott! Ganz Gerkehmen liegt doch voll Landstürmer!«

»Und wie sind Sie denn hier heraus?«

»Ich hab' selber 'nen kleinen Schlitten kutschiert und den Gaul am Waldrand angebunden und bin zu Fuß durch den Wald hierher!«

»Ja – was wollen Sie denn hier?«

»Ich hab' Ihnen doch immer gesagt, daß ich mal kommen wollte!«

»Dazu ist doch weiß Gott nicht Krieg!«

»Hier ist doch gar nicht richtig Krieg. Und drüben, auf dem Bahnhof, ist's so langweilig – immer als Kaffeemamsell herumturnen! Ich wollt' mal sehen, wie es vorne ausschaut! Nun müssen Sie mir alles zeigen! Ja?«

Der Leutnant Glowatsch richtete sich streng und dienstlich auf.

»Dazu ist der Krieg zu ernst, mein gnädiges Fräulein!« versetzte er förmlich. »Sie werden sofort den Weg zurückgehen, den Sie gekommen sind! Kein Wort des Widerspruchs, wenn ich gehorsamst bitten darf! Ich bin hier im Dienst. Ich bringe Sie selbst bis zu Ihrem Schlitten!«

Das Müthchen Heerbrandt stand verdonnert da. Das hatte sie nicht erwartet. Sie verbarg ihre bittere Enttäuschung unter einer verächtlichen Schulterbewegung. Sie drehte sich stumm und trotzig mit zornfeuchten Augen um und wanderte, ohne den Pionierleutnant Glowatsch hinter sich noch eines Wortes zu würdigen, den Weg durch den nun schon fast dunkeln Winterwald zurück. An dessen Saum stand, seitwärts, damit er nicht gestohlen würde, der Panjegaul mit dem Schlitten. Müthchen waren in der Kälte die Tränen an den Wimpern fest gefroren. Sie nahm verbissen dem struppigen, kleinen Vieh den Woilach ab. Der Leutnant Glowatsch knüpfte den Zügel von der Birke und sagte:

»Ich darf nicht weiter mitkommen! Hier endet mein Befehlsabschnitt. Sie müssen wieder allein nach Gerkehmen zurückfahren!«

»Päh . . .«

»Passen Sie nur auf, daß Sie nicht unterwegs von einem Landsturmposten abgeklappt werden!«

Müthchen schaute sich um und versetzte mit trockener Kehle:

»Dort auf dem Feld steht schon einer!«

»Hier schon? Das ist unmöglich!«

»Dort drüben! Ganz deutlich! Die dunkle Gestalt auf dem weißen Schnee!

Ja – da stand ein hagerer, langer Mann. Er schaute gespannt nach der Stadt hinüber, deren Lichter sich, nur eine halbe Stunde entfernt, gelb in dem Schwarz des vor ihnen strömenden Flusses spiegelten. Er trug eine Fellmütze auf dem Kopf und einen Schafpelz über hohen Stiefeln.

»Ein Zivilist!« murmelte der Leutnant Glowatsch. »Was macht der Kerl denn da?«

Die Gestalt im Zwielicht hörte es nicht. Sie war zu sehr in den Anblick der fernen Helle über dem Wasser versunken. Diese vielen Lichter in der Stadt drüben flimmerten still wie die Sterne am Himmel. Aber dazwischen blinkte, in unregelmäßigen Zwischenräumen, ein einzelner Lichtpunkt auf, erlosch, kam wieder . . .

»Es sind Alphabetzeichen«, flüsterte der Leutnant Glowatsch und atemlos zählte er Buchstaben um Buchstaben mit.

»Truppen . . .« Er holte seinen Browning vor, »Verladung . . .« Er winkte Müthchen zurückzubleiben und schlich unhörbar durch den Schnee auf den Mann vorn zu. »Norden.« Er schob den Sicherungshebel am Pistolenkolben zurück. »Mitter . . .« Er kam der dunkeln Gestalt immer näher. ». . . nacht . . .« Nun noch zehn Schritte ». . . mehr.«

Das Blinklicht erlosch. Zugleich machte der Mann in der Pelzmütze einen Sprung zur Seite und war, so als hätte ihn die Schneefläche verschluckt, plötzlich spurlos verschwunden.

Der Leutnant Glowatsch watete hastig hinterher. Er trat mit dem Fuß ins Leere, stürzte, lag lang auf dem Rücken in einem Schacht. Ein schwacher, sonderbarer Geruch, wie von einem Raubtierkäfig, umdünstete ihn in der Finsternis und Stille. Über sich sah er an dem eisklaren, schwarzen Nachthimmel die ersten gelben Sterne.

Er raffte sich auf und kletterte die steile, mit Brettern ausgeschlagene Böschung zur Oberwelt empor. Es dauerte eine Weile, bis er da wieder auf seinen zwei Beinen im Schnee stand, und zu Müthchen, die herangekommen war, sagte:

»Ich bin in einen Gott weiß wie lange verlassenen russischen Schützengraben geplumpst! Durch den hat der Kerl seinen Wechsel aus dem Walde hierher. Und ist weg. Er hat gar nicht gemerkt, daß ich hinter ihm her war. Er kommt um Mitternacht wieder!«

Der Leutnant Glowatsch orientierte sich mit einem Rundblick durch die Nacht.

»Gott sei Dank: die Visierlinie ist nicht zu verfehlen! Von hier über die einzelne Eiche nach dem Johanniskirchturm eingeschnitten! Dazwischen liegt das Fenster mit dem Blinkzeichen! Na wartet, ihr Kanaillen!«

Er drängte Müthchen Heerbrandt in den Schlitten und schob ihr die Zügel in die Hand.

»Flugs nach Hause mit Ihnen!« Seine Stimme war atemlos. »Ich muß rennen und telefonieren!«

»Und bei dieser Meldung«, der Leutnant Glowatsch hob plötzlich verzweifelt die Fäuste zum Himmel, »mein Gott – wodurch hab' ich das verdient, daß ich eine Dame kompromittieren muß?«

»Mich?«

»Na – wenn sie mich dort fragen: ›Hat außer Ihnen noch jemand die Zeichen beobachtet?‹ so muß ich doch antworten: ›Fräulein Heerbrandt . . . neben mir, in der Nacht . . . draußen in den Stellungen . . .‹ Es hilft doch nichts! Es ist doch Dienst! Es ist doch Krieg!«

»Das lassen Sie meine Sorge sein!« Müthchen Heerbrandt schnalzte, im Schlitten sitzend, dem frostrauchenden Gäulchen zu und ließ es im Galopp die ausgestorbene, vereiste Landstraße der Kriegszone dahinpreschen, während der Leutnant Glowatsch in riesigen Sprüngen durch den Schnee zu seinen Pionierhöhlen auf der Waldlichtung zurückrannte und an den Fernsprecher stürzte und sich mit der Oberbefehlsstelle in der Stadt verbinden ließ.

Viele feldgraue, verschneite Wagen von Befehlsempfängern von der Front hielten dort in der Nacht. Offiziere und Ordonnanzen eilten aus und ein. Alle Fenster der drei Stockwerke waren hell. Überall wurde telefoniert, auf Schreibmaschinen geklappert, auf Morse-Apparaten getackt, mit dem Zirkel auf Landkarten gemessen, gedämpft geredet. Alle Nerven des augenblicklich halb schlafenden Krieges zitterten leise. Der höchste Befehlshaber saß allein in seinem Zimmer über Karten und Fliegerphotographien und buntfarbigen Kroki-Meldungen und ergriff den Hörer des Fernsprechers und horchte hinein. »Wie? Pionierlager? Leutnant Glowatsch? Jawohl, Herr Leutnant: Sie sind durch den Stab in wichtigster Angelegenheit mit mir persönlich verbunden? Was ist denn so dringend?« Er hörte stumm einige Zeit zu und runzelte die Stirn. »Na – das ist ja eine schöne Pastete! Ich schicke Ihnen ein Auto. Fahren Sie, so schnell Sie können, hierher!«

Der Leutnant Glowatsch sauste los, durch Nacht und Schnee und Kälte, über vereisten Granatlöchern im offenen Wagen hochgeschnellt, den fernen Lichtern der Stadt zu. Liebesleben da auch im Krieg . . . Der große abendliche Rummel all der kleinen Märkte des Ostens auf dem Platz vor dem Rathaus. Flirt wie im Frieden, bei fernem Geschützgrollen, zwischen den Gymnasiasten in bunten Mützen, den höheren Töchtern, den jungen Handelsbeflissenen, den Ladenfräulein nach Ladenschluß . . . dienstfreie junge Helferinnen . . . Kriegsfreiwillige . . . die Liebe hört nicht auf.

Der Pionierleutnant Karl Glowatsch war heftig verliebt. Aber jetzt war er im Dienst. Sein feldgrauer Wagen bahnte sich brüllend den Weg durch die promenierenden Pärchen. Gleich dahinter leuchtete streng und ernst mit fünfzig hellen Fenstern das Gebäude des obersten Befehlshabers. Der Leutnant Glowatsch stand vor dem Gewaltigen. Er berichtete in fliegender Hast, unter einem gespanntem Schweigen und Zuhören der Exzellenz und ihres I. A. und der anderen herumstehenden Offiziere.

»Die Stelle, von der aus man um Mitternacht drüben überm Fluß die Blinkzeichen sehen kann, ist nicht zu verfehlen!« schloß er. »Ich habe mich von da über die historische Eiche, die auf den Karten verzeichnet ist, und den Turm der Johanniskirche eingeschnitten. Die Linie muß das Haus am Flußufer treffen, von dem die Signale ausgehen!«

»Holen Sie bitte die Spezialkarte – im größten Maßstab, den wir haben – und den Stadtplan, Herr Hauptmann Noster!«

Und während der Generalstäbler aus dem Zimmer klirrte, kam richtig die Unglücksfrage.

»Sie machten diese wichtige Beobachtung zufällig bei einem Rondengang, Herr Leutnant? Wieviel Mann hatten Sie bei sich?«

»Wir waren nur zu zweit, Exzellenz!«

»Haben Sie den Mann zur Beobachtung der Stelle dort gelassen?«

»Nein, Exzellenz!«

»Das hätte ich aber doch für alle Fälle . . .«

»Es waren da bestimmte Gründe, die dagegen sprachen, Exzellenz . . . ganz merkwürdige Gründe . . .«

»Sie selber machen ein so merkwürdiges Gesicht, Herr Leutnant Glowatsch!«

»Hier ist das Kartenmaterial, Exzellenz!« Der Hauptmann Noster trat wieder ein. »Und draußen steht eine junge Dame, die Exzellenz unbedingt sofort sprechen möchte. Exzellenz kennen ihren Vater, Major Heerbrandt auf Gerkehmen!«

»Ich habe keine Minute Zeit. Diese Geschichte hier . . .«

»Wegen der ist sie da! Sie hätte auch mit eigenen Augen die Blinklichter und den russischen Spion gesehen – läßt sie sagen . . .«

»Nanu? . . . Ich lasse bitten . . . Das ist ja merkwürdig!«

Das Fräulein Erdmuthe Heerbrandt stürzte herein, jetzt wieder in Zivil, Pelzhut, Pelzmäntelchen, langem Rock und Galoschen.

»Ich mußte mich doch zu Hause erst wieder menschlich machen!« sagte sie atemlos. »Ich hab' mich getummelt, was ich konnte!«

»Was wissen Sie zur Sache, gnädiges Fräulein?«

»Genau dasselbe wie Herr Leutnant Glowatsch!«

»Sie können doch nicht wissen, was Herr Leutnant Glomatsch beobachtet hat!«

». . . wo ich neben ihm gestanden hab'?«

Jetzt war die große Stille des Staunens. Dann ein Räuspern der Exzellenz.

»Sie wollen damit doch nicht behaupten, daß Sie sich außerhalb der Zivilgrenze . . .«

»Doch! Ich war solch ein Schaf!« schrie Müthchen Heerbrandt. »Ich hab' ihn draußen in meiner Dämlichkeit überrumpelt!«

»Herr Leutnant . . .«

»Er hat mich postwendend als Muster ohne Wert heimexpediert!«

»Na – Gott sei Dank!«

»Nun war er in Verzweiflung, daß er eine Dame kompromittieren müsse! Na – wer hat denn die Dummheit gemacht: die Dame oder er? Die Dame! Ich! Also habe ich mir gesagt, daß das meine Pflicht ist, ihm die Meldung abzunehmen und selber zu melden, was ich getan hab'! Also – da steh ich!«

»Hm . . . hm . . . hm . . .«

»Schließlich hat die Kriegslage dadurch keine Gefährdung erlitten . . .« sagte in der Ecke halblaut der I. A. »Im Gegenteil!«

»Hm . . .!« Die Exzellenz räusperte sich. »Nun möchte ich bloß eines wissen, mein gnädiges Fräulein: Was hat Sie denn auf einmal auf die Idee gebracht, nach der Front hinaus zu kutschieren?«

»Pure Torheit!« sagte Müthchen.

»Sie müssen sich doch dabei etwas gedacht haben, als Sie das Ihnen doch wohl bekannte Verbot überschritten? Und weshalb fuhren Sie, wenn Sie schon die Front im Kopf hatten, gerade nach dem Pionierlager?«

Müthchen Heerbrandt wurde sehr rot. Sie druckste ein bißchen mit der Antwort. Dann sagte sie laut und fröhlich.

»Gott . . . Exzellenz . . . weil ich den Leutnant Glowatsch furchtbar gern hab'!«

Daraufhin wurde der Leutnant Glowatsch sehr blaß und schwieg, mit einem dienstlichen Gesicht, in dem nur die Augen unvorschriftsmäßig leuchteten. Die Exzellenz schwieg auch und brummte nur nach ihrer Gewohnheit.

»Hm . . . hm . . . hm . . .«

Dann wieder zu Müthchen!

»Nun fahren Sie bitte umgehend auf Ihr väterliches Château – wie heißt es doch? Richtig: Gerkehmen! – zurück! Und wenn Sie irgendwie im Stand sind, den Mund zu halten . . .«

»Grab um Mitternacht, Exzellenz!«

». . . dann schweigen Sie bis heute um Mitternacht zu Jedermann über die ganze Sache! Guten Abend, mein gnädiges Fräulein! Lieber Glowatsch – Sie bringen vielleicht das Opfer und geleiten die Gnädige hinunter zum Schlitten. Wenn Sie zurückkommen, erhalten Sie Ihre Befehle für heute nacht! Inzwischen bitte ich Sie, Herr Hauptmann Noster!«

Der Hauptmann Noster, der vor der Exzellenz stand, bekleidete in diesem Frontabschnitt das dornenreiche Amt der Überwachung der Gegenspionage. Die Natur hatte ihn dazu ausgerüstet. Er war nicht groß und nicht klein. Er war nicht mager und, bei einem Soldaten im Felde natürlich, noch weniger dicklich. Zu Anfang Dreißig, ein Schnurrbärtchen in dem klugen, beweglichen Gesicht, konnte er, wenn er, wie häufig, in Zivil ging, für alles gelten: für einen der Geschäftsreisenden, die zuweilen wegen des Heeresbedarfs aus dem Innern des Reiches bis hierher, zum Rand der Kampfzone, vordrangen, für einen Inspektor von einem der Güter der Nachbarschaft, für einen städtischen Oberlehrer, einen Kolonialwarenhändler vom Markt. Daß er dann, in seinen jungen Jahren, nicht feldgrau eingekleidet war, fiel im ersten Kriegswinter nicht auf. Da liefen noch zu Zehntausenden die noch nicht eingezogenen, seinerzeit einmal bei der Musterung freigelosten Wehrpflichtigen früherer Jahrgänge herum.

Zunächst begab sich der Hauptmann Noster von der Exzellenz weg sporenklirrend hinüber zum I. A. Auf dessen Tisch lag der Stadtplan und die Karte der Umgegend, und der Leutnant Glowatsch, der sich inzwischen von Müthchen Heerbrandt losgerissen hatte, erläuterte an einem quer über die Leinewand gelegten Lineal:

»Die Visierlinie von dem alten Schützengraben über die historische Eiche nach dem Johanniskirchturm schneidet genau an dieser Stelle hier die dem Fluß zugewandte Hausfront der Vorstadtgasse Koggensteig. Am andern Ufer sind nur überschwemmte Wiesen. Also sitzt der Verrat genau in diesem Haus!«

»Es ist das südliche Eckhaus des Tränkwegs!« Der Hauptmann Noster hielt sich eine langstielige Lupe vor die scharfen Augen und beugte den kurz geschorenen, schnurrbärtigen Kopf über die Karte »Nummer 17! Bitte das Adreßbuch! Danke! Na – wer wohnt nun da?«

Er las:

»Friedrich Wilhelm Barkauskas, Gastwirt. Wirtschaft zur ebenen Erde. Wohnung eine Treppe. Zweiter Stock: Ober-Veterinär Thieme – Längst mit seinem Dragonerregiment draußen. Frau und zwei erwachsene Töchter in der Wohnung. Ich kenn' sie zufällig. Also jeder Verdacht ausgeschlossen. Dritter Stock: Lokomotivführer Leopold Gstirner. Na – ein preußischer Beamter! . . . Zunächst scheint also der Barkauskas das Karnickel!«

Längs des Koggensteigs, an dem das Haus Nr. 17 engbrüstig ragte, schlich das Flüßchen träge und still durch die Nacht. Es hatte nur ein schmales Bett, aber sein Überwasser vereiste weithin die Wiesen drüben mit brüchiger Decke, so daß nirgends dort ein Mensch in der frostigen Nässe herumpatschen und beobachten konnte, ob aus einem Fenster gegenüber Zeichen durch die Nacht in die Ferne gegeben wurden.

Ein sibirischer Wind pfiff, gegen zehn Uhr abends, die schmutzigen Schneehaufen und spärlichen Laternen des Koggensteigs entlang. In dem schwarzen, leise rauchenden Wasserspiegel daneben zitterten die Steine zwischen treibenden Eisschollen. Das Flüßchen kam aus einem der großen Seen der Nachbarschaft. Es war bekannt für seinen Reichtum an Aalen. Aber seit einem halben Jahr wollte niemand im Städtchen mehr Aale essen. Die Biester waren zu armsdick und vollgemästet. Es lagen, seit der Masurenschlacht des Sommers, zu viel tausend Russen – Exzellenzen, Offiziere, Gemeine – zu viel pferdebespannte Batterien und Munitionsstaffeln und Feldküchen auf dem schlammigen Grund der schweigenden ostpreußischen Gewässer.

Eine magere Dachkatze war, außer dem Hauptmann Noster, zu dieser späten Stunde das einzige lebende Wesen auf dem Koggensteig. Er schritt langsam, unauffällig dahin, blieb stehen, schüttelte den Kopf.

Dem Hause Nr. 17 gegenüber wuchsen am andern Ufer ein paar breitausladende, vom ewigen Russenwind schief gewehte Fichten bis über die Höhe des ersten Stocks. Die verschneiten Riesenkrüppel sperrten die Durchsicht in die Ferne. Es war unmöglich, aus den Räumen des Wirts Barkauskas auch nur einen Buchstaben nach der Russenseite hinüber zu funken . . .

Der Hauptmann in Zivil trat in die Kneipe. Es herrschte in ihr eine Hitze, daß innen am Fenster der Schweiß vor den Eisblumen draußen rann – ein stickiger Menschenmuff, Kriegsdunst von Tuch, Leder und Stiefelschmiere, blauer Tabaknebel. Der Wirt schlurfte hemdärmelig auf den Gast zu – ein grauköpfiger, großer Mann mit grauem Schnurrbart, und stand straff stramm.

»Guten Abend, Herr Hauptmann!«

»Zum Donnerwetter leise! Woher kennen Sie mich denn?«

»Erinnern sich der Herr Hauptmann nicht mehr an mich? Wie Herr Hauptmann seiner Zeit als Junker ins Regiment getreten sind, da war ich Vizespieß in der siebten!«

»Ja – jetzt ist's mir so dunkel!«

»Und ein Jahr darauf, wie der Herr Hauptmann Leutnant in der fünften wurden, da wurde ich Feldwebel bei der Zweiten!«

»Richtig!«

»Nun hat sich damals die Gelegenheit geboten, hier einzuheiraten! Aber ich hänge an dem alten Regiment! Deswegen hat der Herr Stadtkommandant ja auch mein Lokal für die Garnison erlaubt! Alles voll!«

Der Hauptmann Noster schaute sich um. Ja: da kamen auf einen Zivilisten drei Muschkoten und Etappengraue. Er drückte dem alten Regimentskameraden die Hand.

»Nun tun Sie vor allem, als ob Sie mich nicht kennten!« sagte er. »Erzählen Sie, ich sei hier wegen Lieferung von kernfesten, bayrischen Eschenstangen für Militärschlittendeichseln! Wohnt über Ihnen noch die Familie Thieme?«

»Die Damens! Aber immer draußen beim Bahnhofsdienst! Die sind ja so begeistert für das Vaterland!«

»Und im dritten Stock der Lokomotivführer Leopold Gstirner? Was ist das für ein Mann?«

»Tja – da kann man nur das Beste sagen! Ich bin ja'n Littauer. Aber ich mag die Salzburger gern. Es steckt doch immer noch so was Reelles in ihnen, wenn sie auch schon vor Hunderten von Jahren ins Land gekommen sind!«

Der Wirt Barkaustas stellte dem Hauptmann ein Glas ostpreußischen Maitrank – heißen Rum mit etwas Wasser – auf den Tisch und fuhr fort.

»Ein stiller, solider Mann! Leichten Dienst hat er ja jetzt nicht, mit den vielen Truppenzügen an der Front. Vorhin ist er erst zurückgekommen und muß in einer Stunde schon wieder mit einem Transport fort. Die Frau hatte keine Zeit, für ihn zu kochen. Da drüben sitzt er und ißt schnell was!«

Am Nebentisch beugte ein großer älterer Mann in Eisenbahner-Uniform seinen ergrauenden blonden Vollbart über einen Teller voll Königsberger Fleck. Er löffelte sich ruhig die Kuttelstücke aus der klaren Brühe und nahm dazwischen zuweilen einen Schluck aus dem vor ihm stehenden Glase voll weißer Milch. Neben ihm saß eine blasse, brünette, junge Frau zu Anfang dreißig. Sie war einfach angezogen, groß und mager. Ihr längliches Gesicht mit der geraden spitzen Nase, den schmalen Lippen und dunkeln Augen war angenehm geformt, nur etwas zu hager. Es hatte etwas Östliches durch den eng am Kopf anliegenden tiefschwarzen Madonnenscheitel.

»Ist das seine Frau, Herr Barkauskas?«

»Ja. Die Hanka. Eine geborene Wroblewski. Die Tochter von einem Besitzer aus irgend einem Nest hier an der Angerapp. Zehn Jahre, glaub' ich, sind sie schon verheiratet!«

»Wie ist denn die Ehe?«

»Ja – da hab' ich nie was Nachteiliges gehört . . .«

»Sind Kinder da?«

»Zwei Marjellen! Die gehen schon in die Schule!«

Die Feldgrauen ringsum hatten sich um das leise Gespräch zwischen dem Generalstäbler und dem Kneipwirt nicht gekümmert. Sie stritten so laut, daß man es durch das ganze Lokal hören konnte.

»Nu – Du werscht's wissen, Brösel!«

»Natürlich weiß ich's!« sagte der schwächliche Armatursoldat in schlichtem, beinahe sträflingsartigem Grau. »Wo wir die ganze Zeit an der Kolonnenstraße für ganz grobe Artillerie da nach Norden hinauf gebuddelt haben. Paßt uff, Jungens! Dort gibt's bald dicke Luft!«

Und wieder der kleine Sachse, der Chauffeur eines hohen Stabs-Automobils, aus seinem langzottigen Ziegenfellmantel heraus, mit durchdringender Fistelstimme.

»Nu äben! For nischt haben wir nicht jeden Tag da hinausgemacht und die Anmarschlinien besichtigt!«

Das Ehepaar am Nebentisch sprach nichts miteinander. Er, der Lokomotivführer Gstirner, verzehrte, erschöpft vom Dienst, mechanisch seine Suppe. Sie, die Hanka, saß neben ihm und wartete, bis er fertig sei, und schaute, die Hände im Schoß, mit halboffenem Mund, ohne sich um das Gerede umher zu kümmern, geistesabwesend auf den grünen Kachelofen in der Ecke. –»Das soll wohl so sein!« rief neben ihrem Stuhl der bärtige Landsturmmann Zarske. »Ich hab' doch heute Posten geschoben – draußen an der Bahn! Alle Züge sind nach Norden gegangen!«

Die Hanka Gstirner hielt gähnend die lange, arbeitsgewohnte Hand vor den Mund. Ihr Mann schob den Teller beiseite und wischte sich den Bart.

»Wenn nur mit der Brücke nichts passiert!« sagte er bedächtig.

Diese Brücke war in dieser ersten Hälfte des Winters schon ein halbes Dutzend mal genommen und verloren und wieder genommen worden, und jedesmal gesprengt, zurechtgeflickt, zerstört und neu behelfsmäßig hergerichtet. Es war allmählich ein toller Notbau aus Backsteinpfeilern, Holzgerüsten, Eisenträgern.

»Wenn die Russen merken, was los ist,« sprach der Lokomotivführer, »dann kommen sie heute nacht noch knüppeldick gegen die Brücke heran, um die Truppenverschiebung zu stoppen! Dann kann's mir passieren, daß ich so'n ganzen Zug voll Landser, ehe man sich's versieht, mitten ins dickste Feuer fahre!«

»Bangen Sie sich nicht um Ihren Mann, junge Frau?«

Die schwarze Hanka Gstirner fuhr jäh auf und starrte aus ihren großen, dunkeln Augen leer um sich. Sie hatte garnicht zugehört.

»Mit den Weibern muß man nicht vom Krieg reden! Dafür haben sie keinen Verstand nicht.« Der Lokomotivführer stand auf. »'s wird Zeit auf'n Bahnhof! Komm, Hanka!«

»Fährst Du die ganze Nacht, Leopold?« frug der Wirt Barkauskas.

»Das reißt nicht ab mit den Transporten! Jetzt – heißt es – sind lauter Sachsen unterwegs. Aus dem Westen. Von den Vogesen.«

Das Ehepaar Gstirner ging. Bald darauf auch, ganz unauffällig, nachdem er seinen Grogrest hinter die Binde getippt, der Hauptmann Roster. Er schritt durch das winterlich dunkle, verschneite Städtchen. Das war belebter als sonst am späten Abend. Menschengruppen standen da und dort auf den engen Bürgersteigen und horchten auf das allmählich immer stärker anschwellende, dumpfe Wintergewitter in der Ferne. Ein schwefelgelber, mächtiger requirierter Bierlastwagen mit der Rotenkreuzfahne am Kühler raste in die Nacht hinaus. Eine Krankenschwester rannte in langen Sprüngen über die Schneehügel, ein Rezept in der Hand, zur Apotheke. Ordonnanzen auf Krafträdern knatterten. Tatü – Tata: Ein feldgrauer Rennwagen flitzte wie ein Gespenst durch die Stadt gen Norden. Pelze und Offiziersmützen darin. Andächtige Blicke hinterher: Rückwärts am Wagen O . O! . . . Ober-Ost! Das war ein großes Zeichen . . .

Auf dem Bahnhof Trompetensignale. Pferdeköpfe aus Güterwagen. Kaffeegeruch. Die hellen Stimmen der Helferinnen. Lokomotivpfiffe. Gesang. Kommandos. Krieg. Der Lokomotivführer Gstirner gab seiner Frau einen bärtigen Abschiedskuß und stapfte davon und machte, daß er in den Schuppen zu seiner Maschine kam.

Und sie, die Hanka, hatte nun nichts mehr auf dem Bahnhof verloren. Sie hätte mit Fug und Recht nach Hause gehen sollen. Aber – der Hauptmann Roster, der ganz am Eingang, unbeachtet, hinter einem Tragpfeiler der Halle stand, prägte sich das, schläfrig, mit halbgeschlossenen Augen an seinem Glimmstengel saugend, ein – aber die schwarze, blasse, junge Frau blieb. . . .

Sie schritt in dem Kriegsgetümmel auf und ab, so als ob sie jemanden suchte. Das sah man hier alle Augenblicke, daß eines vom andern noch einmal Abschied nehmen wollte. Das fiel nicht auf.

Aber was dem Hauptmann Noster auffiel: die schwarze Hanka schaute sich nicht unter den Menschen auf dem Bahnsteig um, zwischen denen sie doch allein eine bekannte Seele finden konnte – sie starrte in die vollgepfropften Wagen des haltenden Truppenzugs, wo sie nichts sah als fremde, kriegerische junge Gesichter und fremde Achselklappen fremder Regimenter mit fremden hohen Nummern. Und da sie nicht zum Bahnhofsdienst gehörte, keine Kaffeekanne und keinen Kessel mit heißen Würstchen von Achse zu Achse schleppte, so ging sie das doch gar nichts an.

Aber sie schlenderte beharrlich, langsam, von einem Bahnsteig zum andern und wieder zurück, mit einer stillen Aufmerksamkeit, mit einem ganz ruhigen Ausdruck ihres länglichen, bleichen, in seiner Herbheit nicht unschönen Gesichts. Dann schaute sie plötzlich auf die große, hell erleuchtete Bahnhofsuhr, deren Zeiger auf halb zwölf Uhr nachts wies, und schritt, rascher als bisher, den Oberkörper vorgebeugt, in ihr schwarzes Umschlagetuch gewickelt, dem Ausgang des Bahnhofs zu und in die Stadt hinein.

Und ein paar hundert Schritte hinter ihr her der Hauptmann Noster.

Er folgte ihr bis zu dem schmalen, windumpfiffenen Haus Nr. 17 an dem einsamen Koggensteig, hinter dem schon die leere schwarze Nacht und die unbestimmte Weite und drüben der Krieg und fern Rußland begann, und trat wieder in die Wirtschaft. Dort war die Hanka jetzt natürlich nicht mehr, sondern war hinauf zu ihren Kindern in ihre Wohnung gestiegen. Der Hauptmann Noster sagte gedämpft zu dem grauschnurrbärtigen, hemdsärmeligen Litauer Barkauskas, der ihm gleich wieder ein Quantum Alkohol herbeischleppen wollte:

»Ich muß Sie mal unter vier Augen sprechen!«

Und als er mit dem ehemaligen Feldwebel seines Regiments in einem dämmerigen Vorratsraum voll Heringstonnen, Bierfässern und Räucherschinken zusammenstand:

»Herr Barkauskas: Wir sind ehemalige Kameraden! Wir sind jetzt im Kriege wieder Kameraden. Im Krieg ist die Pflicht das Höchste! Hand aufs Herz! Haben Sie mir vorhin über die Frau Gstirner da oben die volle Wahrheit gesagt?«

»Gottchen – Herr Hauptmann . . .«

»Sie wissen mehr, als Sie mir gesagt haben! Ich sehe es Ihnen an!«

»Man möchte doch auch nicht mit den Leuten, mit denen man viele Jahre unter einem Dach wohnt, in Ungelegenheiten kommen!«

»Es handelt sich um viel mehr! Wie steht es um den Ruf der Gstirner?«

»Sie hat eben Polackenblut in sich! Es wurde allerhand geredet . . . Wenn man 'nen Lokomotivführer zum Mann hat, der ewig auf der Walze ist – nun gar im Krieg . . .«

». . . dann gibt es andere Männer . . . was?«

»Das will ich nicht sagen, Herr Hauptmann – das will ich nicht sagen!« Der Wirt Barkauskas wurde eifrig. »In den zehn Jahren, daß sie verheiratet ist, hat sich die Hanka nichts zu Schulden kommen lassen. Bis dann – eigentlich bin ich die Ursache – der Kerl kam ursprünglich zu mir in die Wirtschaft . . . Er hat mir Geflügel geliefert . . . Ein Gänsehändler – von der Grenze her – aus Eydtkuhnen. Ein gewisser Ccichon – Stefan Ccichon, Herr Hauptmann!«

»Hm . . .«

»Ein langer, windiger, durchtriebener Geselle! Mir hat der Kunde nie recht gefallen – mit seinen stechenden Augen. Wie ein Zigeuner hat er ausgesehen – hager und gar nicht mehr so jung. Aber immer Geld in der Tasche!«

»Deutscher oder Russe?«

»Hat man auch nie recht herausgekriegt! Es gibt ja so viel unzuverlässiges Volk an der Grenze – die haben zwei Pässe im Brustbeutel – einen für diesseits von Eydtkuhnen und einen von jenseits von Wirballen!«

»Und mit dem hat die Hanka . . .?«

»Herr Hauptmann: Wer weiß es? Man kennt die Weiber nicht aus. Ich bin nicht der Hanka ihr Mann. Was ging's mich an? Ist doch wahr, Herr Hauptmann!«

»Und wo ist der Gänsehändler Ccichon jetzt?«

»Wie der Krieg losging – seitdem hat er sich nicht mehr sehen lassen! Ich glaube: der ist kein Freund davon, die Knarre auf den Buckel zu nehmen und sich fürs Vaterland totschießen zu lassen! Manche wollen den Lorbaß in letzter Zeit hier manchmal in der Stadt bemerkt haben! Gottchen – was wird im Krieg nicht alles geredet, Herr Hauptmann!«

Der Hauptmann mit Schirmkappe, Radmantel und Transtiefeln wandte den Hals im Wolltuch. Durch die sternfunkelnde, schneeschimmernde Nachtstille klagte um die Ecke der russische Wind und in seinem schneidend kalten Geweimer klangen schwere, langsame, behutsame Schritte von genagelten Kommißsohlen auf hart gefrorenem, unwillig knirschendem Schnee.

Vier Bärtige in feldgrauen Mänteln, das Landsturmkreuz am Tschako, das Gewehr über der Schulter. Ein bebrillter Schnurrbärtiger, die lange Feldwebelplempe am Koppel, voraus.

Gedämpft im Dunkel:

»Sind Sie's, Adameit?«

»Befehl, Herr Hauptmann!«

»Ist das Haus umstellt?«

»Seitlings am Koggensteig im Dustern vier Mann! Und ich mit vier Mann hier am Tränkweg am Eingang!«

»Trautstes Mannchen – was ist los?« stotterte der Wirt Friedlich Wilhelm Barkauskas. »Ihr bringt mir doch nicht meine Bierbude ins Geschrei?«

Er bekam keine Antwort. Der Hauptmann befahl leise:

»Zwei Mann hier an der Türe! Keiner mehr 'raus und keiner 'rein! Adameit: Sie folgen mir mit den andern beiden!«

Er schaute auf seine Armbanduhr und horchte. Die Windwirbel über der menschenleeren Gasse schwollen und sanken wie das schwere Schnarchen der schlafenden Stadt. Fern donnerte dumpf die Front.

Dann hallte blechern drüben, vom schwarz und dünn wie ein riesiger Zeigefinger zum Himmel weisenden Turm der Johanniskirche über die schneebedeckten Dächer ein Schlag des Uhrwerks. Ein zweiter, ein dritter . . . Mitternacht . . .

»Vorwärts!«

Der Hauptmann Noster sprang in seinen schweren Schifferstiefeln, drei Stufen auf einmal, die Hühnerleiter von Treppe in dem engbrüstigen, alten Haus am Koggensteig empor. Das erste und zweite Stockwerk dröhnten hinter ihm und seinen drei Männern. Nun stand er im dritten, die Pistole in der Rechten, die Schützengrabenlaterne in der Linken und leuchtete: Richtig: Ein Porzellanschild: ›Leopold Gstirner, Lokomotivführer‹ an einer dünnen, alten Türe.

»Nicht erst lang bimmeln! Klemmen Sie Ihren Krötenspieß in die Fuge, Adameit! Ihr beiden stemmt mit den Seitengewehren oben und unten nach. Ich decke mit dem Schießprügel, wenn dahinter einer steht! Vorwärts: Zu-gleich! Zu-gleich! Zu-gleich!«

Wie draußen Deutscher und Russe, so kämpften zäh und erbittert Stahl und Holz. Die Türe zitterte und knirschte. Drinnen, in der Stube jenseits der Diele, saß eine. Die hörte es nicht. Denn sie hatte trotz der kalten Nacht eine breite Lücke zwischen den halbgeschlossenen Läden und Fensterscheiben offen, durch die von außen, aus dem Dunkel, das Rauschen des unsichtbaren schwarzen Flusses und das Wehen des Winterwinds und das ferne, doggenartig dumpfe Kanonengebell drangen und den Lärm im Treppenhaus übertönten.

Und vor sich hatte die Hanka Gstirner ein aus einem Schulheft gerissenes Blatt Papier. Auf das hatte sie aus dem Gedächtnis gekritzelt, was sie auf dem Bahnhof gesehen und unten in der Wirtschaft des Barkauskas von dem Chauffeur und dem Schipper und dem Landsturmmann gehört – die Nummern von Regimentern und verschlungene Namenszüge deutscher Bundesfürsten – und daß Sachsen in Menge kämen – und Geschütze groß wie Elefanten – in graue Sackleinwand gehüllt. Und viele zuckerhutgroße Granaten mit funkelnagelneuen, aufgemalten, blaugelben Kringeln. Und daneben lag eine Tabelle für das deutsche Alphabet. Aus der konnte sie sehen, wie oft sie für jeden Buchstaben die auf drei Seiten abgeblendete Stallaterne so zu drehen hatte, daß ihr Lichtschein in die Nacht und Ferne hinausblinkte – vom einmal für das A bis zum fünfzwanzigmal für das Z.

Und ›Norden‹ – ›Norden‹ – ›über die Brücke nach Norden‹ stand auf dem Schreibheftblatt. Das hatte die Hanka von ihrem Mann vernommen. Der führte jetzt eben einen langen donnernden Zug voll singender Soldaten in der Richtung nach der Brücke. Den schickte die Hanka womöglich in den Tod, wenn sie jetzt die Meldung an die Russen weitergab und der Zarengeneral deutschen Namens drüben mit seinen Sibiriaken rasch entschlossen gegen die Brücke vorstieß.

Und das blasse, nicht unschöne, längliche Antlitz der schwarzen Hanka war starr und leidenschaftslos, als erfülle sie, gleich dem Soldaten im Feld, blind eine befohlene Pflicht. In ihrem Ohr verhallten die letzten dünnen Schläge der Johanniskirche, und sie machte sich ruhig ans Werk und hob die Laterne . . .

Und in diesem Augenblick hörte sie doch draußen das Krachen der Türe und wußte: Da pochte, von der Front auf Besuch in die Stadt gekommen – da pochte der Tod im Krieg. Ihr Tod.

Hinter der Türe hing noch eine Sperrkette. Die hielt die Männer draußen gewiß noch eine Minute auf. Diese Minute gehörte noch ihr.

In dieser Minute hätte sie die Schulheftseiten in das stuckernde Kanonenöfchen stecken und das Fenster schließen und alle Beweismittel beseitigen können.

Aber die Hanka Gstirner wußte: Wenn sie verraten war, dann war es auch womöglich, jetzt eben zur gleichen Stunde, der drüben, an den sie funkte.

Und in dieser Minute zwischen Tod und Leben blieb die Hanka Gstirner sitzen und drehte hastig die Blinklaterne und sandte, während draußen die Türe in allen Fugen kreischte, durch Nacht und Dunkel die Buchstaben: ›Rette Dich!‹

Eben war sie fertig – da dröhnte die Diele von einströmendem Feldgrau. Das Feldgrau füllte das Zimmer. Der Hauptmann Noster in Zivil voraus. Die schwarze Hanka hob nur abwehrend die Hand vor seiner Pistole. Sie ließ sich stumm, ohne Widerstand, festnehmen und abführen.

Und kaum eine Stunde später saß schon der Kriegsgerichtsrat Knoch, vom Stab der hohen Exzellenz drüben, die in einem solchen Fall des Landesverrats Gerichtsherr war, in tiefer Nachtstille hinter seinem grünen Lampenschirm, unter dem sich gelbes Licht über die weißen Protokollblätter auf dem grünen Aktentisch ergoß, und neben ihm saß der Generalstabshauptmann Noster, wieder in grau überzogenem Helm und grauem Waffenrock, und stenographierte.

Und hinten im verschwimmenden Schwarz des Gerichtszimmers blinkten matt die aufgepflanzten Seitengewehre an den Gewehrläufen zweier rechts und links vom Eingang sitzenden Landwehrmänner. Sie konnten nicht hören, was vorn am Tisch verhandelt wurde. Der Kriegsgerichtsrat Knoch, der im Frieden Staatsanwalt drüben im Westpreußischen war, sprach sehr gedämpft zu der dunkeln, jungen Frau, die vor ihm, jenseits des Tisches, auf einem Strohstuhl saß, die Hände im Schoß verschlungen, den Oberkörper aufgerichtet, mit einem so ruhigen, wenn auch wachsfahlen Gesicht, als sei sie hier Zeugin und nicht in Vernehmung auf Leben und Tod.

»Sie räumen ein, daß es der Gänsehändler Stefan Ccichon war, dem Sie heute zum erstenmal Lichtzeichen über deutsche Truppenbewegungen senden sollten?«

»Ja, Herr!«

»Sind Sie sich der Verwerflichkeit Ihrer Handlungsweise bewußt?«

»Ja, Herr!«

»Und trotzdem taten Sie es?«

»Ja, Herrchen!«

»Wieviel Sündengeld bezogen Sie dafür von dem Ccichon?«

»Ich? . . . Geld? . . . Herr: Nicht ein Dittchen!«

»Sie handelten also dem Feind zu Liebe?«

»Herr – was gehen mich die Russen an?«

»Warum mengen Sie sich dann also in den Krieg?«

»Herrchen – was geht mich der Krieg an? Ich bin eine Frau!«

»Ja – Sie sind eine Frau . . .« sagte der Kriegsgerichtsrat Knoch langsam. »Warum haben Sie spioniert?«

»Weil der Stefan Ccichon es mir befohlen hat!« Die Hanka hob langsam, ganz ruhig, die dunklen Wimpern.

»Und da haben Sie es getan . . .«

»Ja, Herr!«

»Warum?«

»Herrchen – ich mußte doch . . .«

»Wieso mußten Sie?«

». . . weil der Ccichon es mir befahl!«

»Das konnten Sie ihm doch abschlagen?«

»Nein, Herrchen: Wenn der Ccichon mir etwas befiehlt, so muß ich es tun . . .«

»Und wenn es Sünde ist . . .?«

»Auch wenn es eine Todsünde ist . . .«

»Wie ist das möglich?«

»Gott weiß es, Herr! Mein Leben lang habe ich die Gebote Gottes gehalten. Aber dann kam der Ccichon . . . Seitdem habe ich keinen Willen mehr!«

Die Türe flog auf. Breitschulterig, verschneit von der Schlittenfahrt durch nächtlichen Winterwald, bereift der blonde Schnurrbart über den frostblauen Backen, trat der Pionierleutnant Karl Glowatsch ein. Der Kriegsgerichtsrat und der Generalstäbler sprangen auf.

»Nun – Herr Leutnant?«

»Kurz vor Mitternacht kam der Kerl richtig zum Vorschein! Wir warteten auf die Zeichen aus der Stadt, um ihn in flagranti zu ertappen! Aber gleich bei den ersten Blinklichtern macht er einen jähen Satz und rennt mit Siebenmeilenstiefeln übern Schnee . . .«

»Und?«

»›Halt!‹ schreit hinter einer Fichte unser nächster Posten. Er läuft weiter. Sind Herr Hauptmann Jäger? Wie ein Hase hat er sich zweimal überschlagen!«

»Tot?«

»Auf den Plautz!«

»Wir müssen das Verhör abbrechen!« sagte der Kriegsgerichtsrat zu dem Hauptmann. Die beiden Landwehrmänner trugen die Hanka Gstirner hinaus. Sie war ohnmächtig geworden.

Am nächsten Morgen hatte sie sich erholt. Und am Mittag war das Kriegsgericht. Und am Abend brachte der Kriegsgerichtsrat das Todesurteil zur Bestätigung.

Der General las es durch. Er legte es in die Schublade. Er machte in der Abenddämmerung einen langen, einsamen Gang durch den Schnee, weit vor der Stadt, wo nur die von toten Pferden sattgemästeten Krähenschwärme krächzend vor ihm von den beschneiten Telegraphenstangen flogen.

Durch diese Telegraphendrähte zuckten die Befehle. Fern im Norden grollte und polterte es dumpf wie von zwanzig Gewittern. Die große deutsche Umfassungsbewegung hatte begonnen. Als der General den Bahnhof erreichte, wurden da schon die ersten Verwundeten-Transporte ausgeladen. Eine stille Bahre nach der andern . . . blühende, geknickte, junge Leben. Um jedes tränten daheim so manche Augenpaare.

Der General setzte sich an seinen Schreibtisch, öffnete das Pult und unterzeichnete das Todesurteil. Um vier Uhr nachts wurde er durch seinen Burschen geweckt. Er kleidete sich an und trat in das Nebenzimmer. Da stand der Kriegsgerichtsrat Knoch.

»Vollstreckt?«

»Zu Befehl, Exzellenz!«

 


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