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III.

Noch verglomm innen im Kochofen die letzte Glut – auf dem Tische standen die mit Kaffeesatz gefüllten Blechtassen, lagen Brotkrumen und Hühnerknochen, auf der großen Strohpritsche im Schlafraum nebenan ein Damenmantel, ein Schleier, eine Schachtel Schokoladebonbons und ein aufgeklapptes Reisehandbuch, in dem die Notiz über das Rothtal und seine Gespenstersagen, vom »Wetterschießen der verfluchten Herren« mit Bleistift angestrichen war – aber die Gäste des Hauses waren verschwunden.

Ellinor nahm das Hüttenbuch zur Hand. Hinter all den trocken-sachlichen Notizen der Bergsteiger, die von hier den steilen Kletterpfad zur Jungfrau einschlugen, und den in ihrer Wichtigkeit und Weitschweifigkeit unfreiwillig komischen Auslassungen der über Tag heraufgekeuchten Gletscherbummler war beinahe eine ganze Seite mit einer bizarr verschnörkelten Riesenschrift ausgefüllt. »Am 20. August in diesem Jahr des Heils fuhr zur Zeit, da die Hähne zum drittenmal krähten, Meister Josephus mit seiner Jüngerin zu Berge und rastete allhier. Heil dem Meister! Heil mir! Heil!« Und darunter in zierlicher Mädchenschrift: »O Seppl! Seppl!«

Sie legte das Buch hin. »Also hier waren sie!« sagte sie. »Und zurück können sie nicht gegangen sein. Denn da liegen ja noch die Sachen meiner Schwester. Aber wo sind sie hin?«

Er wies durch das kleine rückwärtige Fenster hinaus in den Schnee. Da zogen sich zwei frische Fußspuren schnurgerade in den Nebel hinaus, den sanft fallenden Hang hinab.

Sie erschrak. »Doch nicht auf den Gletscher!«

»Doch! Ganz sicher!«

»Um Gottes willen!« sie drängte sich an ihn. »Auf den Gletscher! Ohne Führer! Ohne Seil! Das kann das furchtbarste Unglück geben!«

»Möglich ist es!«

»Ich hab' nur die eine Hoffnung: Sie müssen das doch selber merken ... in all ihrer Kopflosigkeit ... und rechtzeitig umkehren...«

»Wenn das nur so leicht wäre...«

»Nun ... einfach wieder zurück...«

Er zuckte die Achseln. »An solch einem Nebel- und Dämmertag wie heute, da würden sogar wir ohne Kompaß im Kreise laufen. Gott weiß, was da alles heute über dem Gletscher brodelt und kocht. Das ist wie eine verhexte Welt. Die ist für uns gut. Aber nicht für zwei Neulinge. Nicht zehn Schritte hätten die von dem Weg und der Hütte abweichen dürfen.«

Sie sprang auf und suchte vergeblich mit ihren spähenden Blicken die Nebelschicht zu durchdringen, die still wie ein bleigrauer dunstiger Wasserspiegel über dem Tale stand. »Eigentlich ist's meine Schuld!« murmelte sie. »Ich hätt's mir denken können. Sie sind ja wie zwei kleine Kinder in solchen Dingen – die beiden. Überhaupt sind sie wie die Kinder...«

»Es wird wohl noch nichts passiert sein! Sonst würden sie doch gewiß um Hilfe rufen...«

»Oder aber...«

Sie sprach das Wort nicht aus und sein Gesicht wurde finster. »Prügeln sollte man so jemanden!« brummte er, »der Ihr Fräulein Schwester zu dieser tollen Expedition verlockt hat!«

»Verlockt hat sie ihn – wie ich die beiden kenne! Und er ist natürlich mitgelaufen. Er ist ja mit allem einverstanden! Er denkt ja nie über etwas nach!«

Sie machte eine jähe Bewegung und griff unwillkürlich nach seinem Arm, während ihre blassen Wangen sich etwas röteten. Im Nebelmeer des Gletschers war es lebendig geworden. Es kollerte und polterte aus der grauen Finsternis heraus, als lösten sich Steine unter einem Nagelschuh, als müßten sich im nächsten Augenblick die ersehnten beiden Gestalten aus den Schleiern loslösen. Aber niemand kam. Wieder war alles still, der Koboldspuk der Bergwelt so rasch verstummt, wie er gekommen.

»Fallender Moränenschutt!« sagte ihr Begleiter. »Weiter nichts.«

Sie nickte nur. Weiter nichts! Ringsum das Nichts! Seltsames Mitternachtsgrauen am hellichten Tag, gespenstiger Nebelreigen über leichenweißem Schnee, lähmendes Kirchhofschweigen, und in der Ferne ewig und feierlich der Grabgesang der Gletscherwasser und jäh, unheimlich aufschrillend über ihren Köpfen zuweilen der klagende Schrei der Alpendohle.

Gegen die Jungfrau hin war es etwas heller geworden. Er unterdrückte ein nervöses Gähnen der Müdigkeit und musterte die linke Flanke des Lawinentors, wo zwischen den todbringenden, wie lange Pfeile zu Tale schießenden Eisfallrinnen ihre Abstiegslime in der langen Reihe der bräunlichen Felswirbel zu Tage lag.

»Nur Mut!« sagte er zwischen den Zähnen. »Sowie der Nebel sich hebt, sehen wir sie draußen irgendwo und holen sie herein, ans feste Land.«

Aber da merkte er, daß sie nicht mehr neben ihm war. Sie war vor die Hütte geeilt und stand da, hochaufgerichtet, bleich, die hohlen Hände an dem Mund.

»Lotte!« rief sie bang und laut.

»Lotte! Lotte!« äffte von der anderen Seite das Echo.

»Herr Professor!«

»Herr Professor! ...« schrien die unsichtbaren Kobolde drüben in den Steinschlagklüften der Ebenefluh und des Gletscherhorns im frohlockenden Chor, »Herr Professor!« – als wüßten sie nicht ganz genau, wo der und seine Begleiterin waren und blieben ...

Sie hüteten sich wohl, den anderen Menschen dort in dem Geistertal das Geheimnis zu verraten. Wer hatte diese lärmenden, bärtigen und röckeschleppenden Zweifüßler denn geheißen, hier heraufzusteigen und Hütten zu bauen? Um sich der Hochwelt zu erfreuen? Die Hochwelt dankt es ihnen nicht. Sie nimmt, ein weiter Kirchhof, die Menschen erst dann gastlich und gerne auf, wenn sie ihr erlegen sind. Vorher kennt sie nur den Kampf und führt ihn ewig, bald wütend brüllend, bald schweigsam tückisch und hinterlistig. Wehe dem, der ihr arglos in den Rachen läuft, statt sich durch ihre kalt starrenden, weißen Drachenaugen warnen zu lassen.

Drüben in den Lawinenfurchen spielten und hüpften die Kobolde vor Freude über den Menschenfang und sprangen als schwarze Steinbrocken und silberne Firnklötze in weiten Sätzen hinab zum Gletscher, um sich selbst von dem Triumph über die zweibeinigen Unholde zu überzeugen. »Lotte!« höhnten sie niederkollernd im Echo wie eine Affenherde dem Ruf von drüben nach. »Herr Professor! ... Lotte! Lotte!« Und mit ihnen ergriffen die Berge selbst wieder das Wort. Ein langes Donnerrollen erschütterte sie. Und aus dem Krachen der Lawinen klang es wie ein befriedigtes Grollen über den siegreichen Schlag. Nur die Jungfrau hoch oben am Himmel blieb keusch und totenstill in ihrem Wolkenschleier. Die beiden Neulinge da unten hatten ja gar nicht zu ihr gewollt. Die waren ungefährlich. Mochten sie leben oder sterben – was kümmerte die Königin dies Treiben in der Tiefe zu ihren Füßen?

Ellinor griff nach der Eisaxt und winkte ihrem Freunde zu. »Kommen Sie!«

»Hinunter auf den Gletscher?«

»Ja. Die beiden suchen! Sie antworten nicht. Sie müssen verunglückt sein!«

Er schüttelte den Kopf. »Ob verunglückt oder nicht – das können wir nicht wissen. Es ist auch möglich, daß sie neben einem stark rauschenden Wasser stehen und uns nicht hören. Aber daß wir jetzt planlos in den Nebel hinuntersteigen, hat gar keinen Sinn. Wir kommen nur selbst zu Schaden, statt den anderen zu helfen. Wenn wir auch ihren Fußspuren folgen, brechen wir in der nächsten Gletscherspalte ein. Der Schnee ist jetzt zu mürbe. Vor allem kaltes Blut! Das ist jetzt die Hauptsache!«

»Aber was sollen wir machen?«

»Ruhig warten, bis die Aussicht frei wird, und von Zeit zu Zeit rufen. Weiter gibt es jetzt nichts!«

Sie verstummten. Schwer atmend standen sie da. Langsam verstrich die Zeit.

Die Sonne blieb unsichtbar, der Wind schwieg, still dampfte die graue Luft über dem Eis. Alles war stumm und tot – in tausendfachen Schattierungen zwischen hellem Weiß und verschwimmendem Nebel, im Wechsel von Schnee und Firn und Höhendunst, immer nur dasselbe Bild einer schattenhaften Oberwelt, wie man sonst wohl die Unterwelt malt, eines gespenstig bleichen und durchsichtig farblosen Abglanzes der wirklichen Erde da unten.

»Dies Jahr ist mehr Schnee im Rothtal als sonst im August,« murmelte er endlich. »Ich habe noch nie so viel gesehen.«

Sie erwiderte nichts. Zum erstenmal hatte sie heute Angst vor den Bergen – Widerwillen – Ekel gegen ihre eisige, stumpfsinnige Grausamkeit. Heute hätte sie sich gefürchtet, wenn sie allein in dieser Einsamkeit gewesen wäre, und war dankbar, den Gefährten neben sich zu wissen.

Sie sah ihn verstört an, wie er gelassen dastand, kaum mittelgroß, blaß, mager, mit der etwas zu hohen Schulter und den melancholischen großen grauen Augen eher einem Schwächling als einem Hochtouristen ersten Ranges ähnelnd. »Es ist so töricht ...« murmelte sie, »so gedankenlos ... so gewissenlos! Der Professor Ranggetiner ist ein Riese gegen Sie ... groß ... breitschulterig ... mächtig ... und verläuft sich hier wie ein kleines Kind ... während Sie ...«

Er lächelte. Ein stilles, beinahe kränklich-müdes Lächeln, das sein an sich wenig bedeutendes Antlitz erhellte. »Das ist der Nachteil von aller Stärke und Gesundheit. Man hat nichts zu leiden und also auch nichts zu lernen. Die Sonntagskinder sind, wie sie sind! Andere müssen erst selber etwas aus sich machen! Ich hab' mir meinen schwächlichen Körper gezähmt – ich möchte sagen, wie man ein Pferd zähmt ... mit Geduld und Ruhe und eiserner Ausdauer. Und ebenso hab' ich mir meine Nerven allmählich erzogen, bis sie fest und gut geworden sind, wie jetzt ... mir den Schwindel abgewöhnt und die Angst ... jawohl, die Angst, liebes Fräulein! Sie sind von Natur mutig ... ich war es nicht. Die wenigsten sind es, denen ihr Körper etwas zu raten aufgibt!«

Sie hatte ihm kaum zugehört. »Wenn sie verunglückt sind!« Sie fröstelte vor Angst. »Am Ende verwundet! Man müßte Hilfe holen ... einen Arzt ...«

Er legte ihr die Hand auf die Schulter. »Nur ruhig! Sollte es wirklich so schlimm sein ... so verstehe ich schon genug von der Medizin, daß das Nötigste nicht verabsäumt wird.«

»Sind Sie denn Arzt? Verzeihen Sie die Frage! Aber ich weiß ja gar nichts von Ihnen, trotzdem wir uns nun schon so viele Jahre kennen. Sie sprechen ja nie von sich!«

»Eigentlicher Doktor bin ich nicht. Aber viel herumgekommen in der Welt. Da lernt sich derlei ...«

»Da haben Sie wohl überhaupt keinen bestimmten Beruf?«

Er spähte hinaus in das weiße Nebelmeer. »O doch!« sagte er zerstreut. »Einen greulichen Beruf! Den schlimmsten, den man heutzutage nur haben kann. Und das Allerschlimmste: man kann ihn nicht an den Nagel hängen wie andere. Man schleppt ihn zeitlebens mit sich wie die Schnecke ihr Haus!«

»Und was ist das für eine Tätigkeit?«

Er zuckte leicht mit den Achseln und ein sonst bei ihm seltener, spöttischer Zug machte ihn ihr fremd. »Vielleicht bin ich Scharfrichter! Nehmen Sie sich in acht! Man kann nicht wissen!«

Sie wendete sich finster von ihm ab. »Jetzt ist doch nicht die Zeit, zu scherzen! ... und im übrigen ... wenn Sie es nicht sagen wollen ...«

»Sie brauchen ja nur im Fremdenbuch meinen Namen nachzulesen!«

»Glauben Sie, ich hätte das nicht getan? Dazu bin ich doch zu sehr von Evas Geschlecht! Aber gefunden habe ich nur eines: daß Sie sich jedes Jahr in der Schweiz einen andern Namen beilegen. Dies Jahr nennen Sie sich Dr. Ulrich Kraft. Vorigen Sommer hießen Sie Dr. Hermann Held. Vorvoriges mal...«

»Nun – da haben Sie ja die Wahl. Ein Name wird doch schon der richtige sein.«

»Nein. Die sind erfunden; so heißt man gar nicht! So nennt man sich nur, wenn man unerkannt sein will! Haben Sie denn das wirklich nötig?«

»Ich?« Er sah melancholisch an seiner schwächlichen, unscheinbaren Gestalt hernieder. »Schaue ich so aus wie jemand, der hoch oben – auf den Höhen der Menschheit steht – ich meine bildlich – nicht wie wir beide, als Kameraden oben auf den Bergen, sondern da, wo die Millionen und die neunzackigen Kronen anfangen?«

»Ich weiß nicht. An sich nicht. Aber Sie haben alles gesehen, Sie kennen alles. Und dann haben Sie manchmal so etwas im Blick ... und in der Sprache ...«

»Ein armer Dutzendmensch,« sagte er kopfschüttelnd, »... ein buckliger Alpinist wie ich ... ein Mensch mit einem Rundreiseheft zweiter Klasse, mit Migräne und Schwermut ... es gibt kaum etwas Uninteressanteres ...«

»Warum weichen Sie denn dann allen Fragen aus? Warum sagen Sie nicht einfach: ›Ich bin der und der?‹«

»Ich rede ja leider die ganze Zeit von mir!«

»Ja. Zum erstenmal. Und ich weiß wohl, warum. Um mich über das Warten hinwegzutäuschen, bis endlich wieder einmal der Nebel hochgeht. Aber ich ertrage es nicht mehr. Ich vergehe vor Angst und Sorge.«

Er hob sich auf die Fußspitzen. »Gleich wird es so weit sein. Es wird schon licht!«

Sie atmete schwer auf. Der weißliche Dunst unten wurde dünn und durchsichtig. Er stieg in rasch verwehenden und verschwindenden Wolken an den Berghängen empor, schon leuchtete zwischen seinen Fetzen da und dort ein blendendes Stück Schnee, eine grünlich gleißende Gletscherspalte, eine Strecke graublauen Eises im Grunde, ferne Zacken und Würfel, Mauern und Wälle traten aus den Schleiern hervor und plötzlich lag das weltentrückte, eisgefüllte Lawinental in seiner ganzen Wildheit frei, von sonnenloser Tageshelle bis zu den Grenzen seiner rings aufstarrenden firngepanzerten Kerkerwände überströmt.

Sie trat vor. Ihre Augen weiteten sich und suchten und suchten und schweiften immer wieder ratlos in ungläubigem Entsetzen über die weiße, stumm und tot wie ein Leichenhof sich dehnende Fläche. Nichts! Nichts! Kein dunkler Punkt, kein Notschrei, kein Zeichen – nur das gespenstige Kollern unsichtbarer Steine, das Brausen nächtlicher Ströme in unterirdischen Schlünden.

»Nichts!« Sie murmelte es mit bleichen Lippen. Der Anblick des zerpflügten, winterlichen Gletscherfeldes unten sagte ihr genug.

»Bleiben Sie ruhig!« Er begann, den forschenden finsteren Ernst des Fachmanns auf dem Gesicht, das ganze Gebiet methodisch zu durchmustern, einen Eisriß, einen Schneehügel nach dem anderen, von der Zickzacklinie der Randkluft oben, die er selber vorhin übersprungen, niederwärts, an dem überschneiten Felsengewirr der Hütte vorbei bis zu dem Absturz des Gletschers ins Tal, den allerhand ferne, fabelhafte Firngestalten, wie Märchenwächter den Eintritt in einen Zaubergarten, beschirmten.

Zwei-, dreimal machte sein Blick die Runde. Dann lenkte er ihn von dem Bild des weißen Kirchhofs ab. »Es ist nichts zu entdecken!« murmelte er. »Die beiden sind spurlos vom Erdboden verschwunden.«

Sie wagte es nicht mehr, auf den Gletscher zu sehen. Ihre Zähne schlugen aneinander. Ihre Stimme klang erstickt. »Nein – sagen Sie es nicht! Nein. Nein. Es ist nicht wahr!«

Noch einmal prüften seine großen grauen Augen alle Klüfte und Schrunde, soweit der Menschenblick in ihre Geheimnisse dringen konnte. Schließlich zuckte er mit den Lippen und schwieg. Sein Schweigen war deutlich genug. Die beiden lagen im Gletscher gefangen!

Plötzlich stand sie ganz ruhig und entschlossen auf. »Wir müssen jetzt hinunter,« sagte sie. »Auf den Gletscher. Uns tut er jetzt nichts! Und sie dort suchen! Ehe wieder der Nebel kommt!«

Aber kaum hatte sie es ausgesprochen, so schwand schon ihre letzte Hoffnung. Der Nebel kehrte zurück! Mit ausgebreiteten Armen schwebten seine Schatten einander über der Gletscherwildnis grüßend entgegen, sie umschlangen sich zum stummen, langsamen, endlosen Reigen, und bald stand wieder ringsum still das graue Meer.

Sie wollte ihn mit sich ziehen. »Wir müssen der Fußspur im Schnee folgen! Dann kommen wir wenigstens zu der Stelle! Zu der Gletscherspalte, mein' ich – wo jedenfalls ...«

Er schüttelte den Kopf. »Die Fußspuren hören schon dort hinten in der Moräne, zwischen den Steinen, auf.«

»Aber wir können sie drüben wiederfinden!«

»Möglich! Dann stürzen wir, wenn wir ihnen ohne Seil nachgehen – das haben wir ja leider am Lawinentor gelassen – ebenso sicher in eine Spalte wie jene. Nein – noch sicherer! Denn jetzt, gegen Mittag, trägt der Schnee überhaupt nicht mehr!«

»Aber wenn wir Glück haben und sie doch finden!«

»Dann können wir ihnen nicht helfen. Denn wir haben kein Seil, um sie herauszuziehen, und versäumen dort mit Hin- und Hergeschrei und Beratschlagen die kostbarste Zeit, bis es Abend wird. Also gibt es nur eines: hinunter nach Lauterbrunnen und die Führer alarmieren, damit noch vor Abend drei, vier ortskundige, gehörig angeseilte Expeditionen den Gletscher systematisch untersuchen! Dann ist noch Hoffnung!«

»Gut! Gehen Sie! Ich bleibe hier und warte!«

»Worauf denn? Es wird sich nichts ereignen! Hier bleibt jetzt alles still!«

»Aber ich kann doch dasitzen und ...«

»Und, sowie ich weg bin, sich doch unnütz und tollkühn allein auf den Gletscher hinauswagen? Hier stundenlang in den Nebel zu schauen, das halten Sie doch nicht aus. Ich kenne Sie doch! Sie stürzen sich aus Angst um die Ihren selbst in die größte Lebensgefahr, und das will ich verhindern. Und außerdem sind Sie ganz erschöpft und matt. Also kommen Sie mit mir!«

Sie ließ sich halb willenlos von ihm einige Schritte hinwegführen. Dann blieb sie stehen und rief von neuem nach den Vermißten. Die tiefe angstvolle Mädchenstimme klang durch die ganze Länge des Hexenkessels hindurch und verhallte im höhnenden Äffen des Echos.

Und abermals lüftete sich die graue Decke, die über dem starren Eisstrom, seinen Klippen, seinen Zacken und Trichtern wogte, und ließ, bis die wehenden Schleier wieder zusammenschlugen, den Blick frei über die Öde schweifen. Nichts rührte sich auf der weiten Fläche. Als hätte sie nie ein Menschenfuß betreten, lag sie schläfrig da und sang sich selbst mit dem geheimnisvollen, ewig gleichbleibenden Rauschen der Gletscherwasser ein Schlummerlied.

Allmählich wurde das Rufen aus dem fahlen, am Berggrat sich spinnenden Dunste matter, hoffnungsloser. Es erscholl nur noch in langen Pausen. Endlich verstummte es ganz.

Noch einmal erklang dann aus weiter Ferne ein langgezogenes Jodeln, mit der hellen Freudigkeit seiner Tonwellen in seltsamem Gegensatz zu der brustbeklemmenden Angst, aus der es aufstieg. Die gigantische Mauer der Ebenefluh gegenüber warf den Widerhall zurück. Aber sonst keinen Laut, kein Lebenszeichen, und streng und weiß blickten hoch von oben, aus dem aschgrauen Himmel her, die Eisgiebel in die geheimnisvollen, dichtverschleierten Abgründe, in denen Meister Josephus mit seiner Gefährtin versunken war ...


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