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Nun war die Sonne Siegerin. Sie stand nicht nur am Abendhimmel von Hellas. Sie war überall. Aus den violetten, beinahe durchsichtig scheinenden Inselumrissen im kornblumenblauen Meer grüßte ihr Glanz, in dem weißen Schaummantel, der das Gewirr schwarzer Klippen umzischte, funkelte ihr Glitzerspiel, ihr rosiger Hauch ruhte verklärend auf den kahlen Steinhalden der Höhenzüge und in tiefen Purpurschatten über dem Olivengrün der Ebene von Attika, am Himmel segelten die verwehenden Lämmerwölkchen in ihrem Feuerschein dem Meere zu und ferne, wo noch graue Wetterballen verdrießlich zwischen grauen Bergen hingen und leise grollendes Blitzgezüngel durch breite, schleierartige Regenwände lief, wölbte sie – als einen Widerschein ihres Flammenbades in den goldig glühenden Wellen des Westens – die bunte Traumbrücke des Regenbogens über ihr lachendes, sehnsüchtig ihre Strahlen schlürfendes Reich.
Meister Josephus und Lotte schauten, Hand in Hand nebeneinander am Strande sitzend, zur Höhe empor, zur Tiefe hinab. Über ihnen unergründliches Himmelsblau – das unermeßliche Blau des Griechenmeeres zu ihren Füßen, am flachen Ufer seegrün verklärt, weiter draußen in seinen satten Tiefen von Wolkenzügen stahlschwarz überschattet, von den hüpfenden Schneelichtern der Wellenkämme durchzittert. Es loderte und blitzte in unermeßlichen Weiten, die ganze Welt schien Licht geworden in der Glut eines Sonnentages über Salamis, eines wahren Sonntags der Schönheit und der Farbenfreude.
»Nicht sprechen, Lotte!« sagte warnend Meister Josephus. »Ich sehe es dir schon an: du willst Unsinn reden! Und das wäre schade. Heute! Hier! Hier ist's mir wohl!«
Lotte kehrte sich nicht an sein Verbot. »Mir auch!« murmelte sie und schloß, als ob sie einschlafen wollte, die Augen. »Bisher war Griechenland gräßlich ... da, wo all die kaputten Säulen sind, mein' ich – und all die zerbrochenen ausgegrabenen Sachen. Ich würde viel lieber allerhand eingraben – dich zum Beispiel, Meister Seppl – nein – sei still! Sei vergnügt und dankbar! Wer hat den Gedanken gehabt, heute noch nach der Bucht von Salamis hinauszufahren, wie du mich endlich aus der Räuberhöhle, dem griechischen Putzmacherladen, abholtest? Du oder ich?«
»Du!« sprach Meister Josephus andächtig.
»Also! Den Herweg fand ich ja auch noch greulich! Einen Umweg zu machen, nur um einen kahlen, sonnenverbrannten Hügel mit zwei schiefen Grabsteinen zu sehen und einem toten Maultier daneben, dick wie eine Tonne und die vier Beine in der Luft – und der Kutscher sagt, das sei die Akademie des Plato! Und vorher eine schwarze Pfütze mit ertränkten Katzen darin, zwischen schmutzigen Felsblöcken – und da sollen die Erinnyen auf dem Areopag gehaust haben. Ach wo! Deine alten Griechen sind tot, und wir sind lebendig, und das find' ich viel netter, als wenn's umgekehrt wäre.«
Er sah ihr tiefsinnig in das schöne, sanfte Kindergesicht. »Ach ja, Lotte!« seufzte er. »Aber wir hätten doch ein paar famose Heiden zusammen abgegeben – du und ich – so recht von Herzen frech und vergnügt wie das geniale Lumpengesindel auf dem Olymp. Ich würfe mir auch lieber statt des schwarzen Bratenrocks mit dem bunten Eselszeug im Knopfloch einen weißen Festmantel um und spazierte in Purpursandalen, einen Epheukranz um die Stirne, über die Akropolis und ließe mir von leichtsinnigen Tempelmädchen ein Liebeslied auf der Zither vorklimpern und schenkte ihnen einen Rosenstrauß zum Dank – und dir steht Schwarz auch nicht, sondern Rosen im Haar! Du taugst auch zu keiner Klosterfrau, Lottchen, mein Kind ... du kannst nicht fromm ausschauen – nur süß und dumm wie die schöne Helena ... du bist auch schön...«
Sie hatte, während er sprach, einen kleinen Kranz aus den am Boden sprossenden Feldblumen geknüpft. Den setzte sie ihm jetzt auf, ohne ein Wort zu sagen, und legte seinen Strohhut neben ihn. Dann begann sie auch für sich einen Blütenreif zu winden.
Er sah dem Spiel der schmalen weißen Kinderhände zu. »Du bist schön! Aber was wollt ihr schönen Weiber heutzutage? Ihr seid ja ein Werk des Teufels. Niemand kennt euch, niemand schätzt euch als der Künstler – ein armer Meister Frauenlob wie ich ... aber die anderen ... die Tanten, die Bierphilister, die Nachtwächter, die Hofräte ... o Gott, die Hofräte! Und ich bin ja beinahe schon selber einer!«
Jetzt war auch ihr Kranz fertig. Sie sahen sich an und lachten und nickten. Sie gefielen sich gegenseitig, dies blonde Löwenhaupt und dies schwermütige süße Kindergesicht, blumengekrönt unter blauem Himmel am glitzernden Meer.
»Da schämt ihr euch des Besten, was ihr habt!« sagte der Bildhauer plötzlich ganz erzürnt. »Eurer Schönheit! Da schnürt ihr euch in zwei Teile und trippelt auf Stelzschuhen und wiegt ausgestopfte Vögel auf euren krausen Köpfchen und stochert auf dem Klavier herum... Ihr seid eben gebildet! Das ist das Elend! Hätte ich die schöne Helena gefragt, ob sie ihren Namen schreiben kann, hätte sie gelacht und mir einen Kuß zur Antwort gegeben. Aber ihr könnt lesen und schreiben. Ihr denkt ja nur Tag und Nacht an die Unterschrift auf dem Standesamt!«
»Die schöne Helena ist tot!« sagte Lotte schläfrig und blinzelte in die untergehende Sonne.
Er rückte ganz erstaunt etwas von ihr ab. »Tot? Da sitzt du ja neben mir! Natürlich du! Seit die Welt steht, läuft die schöne Helena auf ihr herum und sinnt, wie sie die Männer zu allerhand Unfug anstiften kann. Das nennt man dann den trojanischen Krieg oder die Verleihung des Hofrattitels an den Professor Joseph Ranggetiner oder sonst eine Katastrophe. O Lotte, Lotte mit deinem Kränzlein auf dem Haupt im Abendrot – du bist die schöne Helena! Das ehrwürdigste Ding auf der Welt mit deinen neunzehn Jahren! Gegen dich sind die Pyramiden ein Kinderspielzeug von heute morgen und die Sündflut ein Spritzregen von gestern abend...«
»Schimpfe doch nicht immer auf mich, Meister!« sagte Lotte leise und schaute unter den niedergeschlagenen Wimpern, die ihre Augen bis zur Hälfte verschleierten, still und prüfend zu ihm empor.
Ihr Blick verwirrte ihn. Er wurde barsch. »Fürchtest du dich denn eigentlich gar nicht vor mir?«
»I wo!« sagte Lotte.
»Und wenn ich nun plötzlich wild würde – wenn ich meine Fäuste ausreckte...«
»Tu's doch!«
Er nahm vorsichtig wie ein zerbrechliches Spielzeug ihre Finger und legte sie auf seine breite Rechte. »Solch ein Püppchen!« grollte er. »Solch ein lächerliches Püppchen! Wenn ich zudrücke, geht das alles entzwei! Wie ein Nippfigürchen aus Porzellan! Also – wer ist der Stärkere?«
»Ich!«
Sie nickte befriedigt, während er ihre Hand losließ, und lächelte träumerisch.
»Wie sie wieder vor sich hinlacht!« hub er gereizt an. »Glaubst du wirklich, die Männer sind nur dazu auf der Welt, daß du wie ein Teufelchen über ihnen auf dem Ast sitzt und Grimassen schneidest. Es ist doch wahrhaftig nicht komisch, wenn ein Mann...«
»Es gibt gar nichts Komischeres als einen Mann!« sprach Lotte sanft und phlegmatisch.
Er schwieg verstört.
»Sei lieb, Meister Seppl!« lächelte sie ihm nach einer Weile versöhnlich zu. »Red' nicht immer so dummes Zeug! Da schau lieber hinaus in den Sonnenuntergang! Ist das nicht schön?«
Über dem weißschäumenden Azur der See flammte der Abendhimmel in allen Farben von Blau und Rot, von den durchsichtigen Veilchenschatten der Inseln durch das golden strahlende Blutmeer der untergehenden Sonne bis zu dem verzitternden rosigen Atem, der, allgegenwärtig, unfaßbar wie Luft und Licht, als letzter Gruß des Sommertags alles umher, Berg, Flur und Wellen verklärend von der gemeinen Wirklichkeit der Dinge schied.
Er sah von der Seite ihr schönes, im Profil sich vom roten Hintergrund des Horizonts abhebendes Antlitz mit dem krausen, blumengekrönten Löckchengewirr darüber und den langen, träumerisch niedergeschlagenen Seidenwimpern. In seine Augen kam ein unruhiges Glühen.
»Lotte!« murmelte er. »Weißt du eigentlich, wie schön du bist?«
Sie nickte nur, mit dem tiefen Ernst eines spielenden Kindes.
»Wie wunderschön! Und du wirst noch schöner ... später ... wenn du einmal lebst. Vorderhand bist du noch eine kleine Blume ... ein Gänseblümchen ... süß und dumm und verschlafen... Weißt du, wozu ein Mann da ist? Um dich zu pflücken, törichte Lotte, und in sein Knopfloch zu stecken...«
»Ich habe keine Ahnung, wozu die Männer auf der Welt sind!« sagte Lotte verdrießlich. »Ich hätte sie nicht geschaffen. Sie sind so laut und lärmend und plump. Sie gefallen mir gar nicht. Du auch nicht, Meister Josephus. Aber immerhin doch noch ein bißchen besser als die anderen. Das heißt, wenn du bist, wie du bist. Recht stark und böse und mit einem rechten tiefen Lachen aus deinem struppigen goldenen Bart heraus ... und so recht die blauen Katzenaugen ... ja ... ja! Funkele nur damit! Ich fürchte dich nicht. Nur als Kopfhänger kann ich dich nicht leiden, wenn du anfängst, Gedanken zu haben oder gar einen Charakter zu kriegen! Das mußt du nicht tun, lieber Seppl! Das steht dir gar nicht!«
»Nein!« Er nickte zornig. »Das gibt's auch nur, wenn's regnet. Heute vormittag ... auf der Akropolis ... da kam ich mir vor wie ein altes Hökerweib! Da hätt' ich weinen und mich aufhängen mögen ... aber jetzt ... schau, ich muß Schönheit um mich haben ... ich muß!... Blauen Himmel ... blaues Meer ... die Sonne ... und neben mir die schöne Helena... Kind ... Kind ... bei dir hat sich die Natur noch ein bißchen angestrengt ... da hat sie nicht den großen Fabrikstempel genommen... Du mußt eine Offenbarung sein ... ein Wunder ... ich glaube, da müßte ein Künstler blind werden – wie berauscht, wenn du dich ihm ... gib mal her, jetzt setz' ich mal deinen Kranz auf und du meinen ...«
Sie schlüpfte gewandt unter seiner Hand durch und sprang auf. »O nein, Meister Josephus! Mein Kränzlein kriegst du nicht! Das behalt' ich auf dem Kopf! Das weißt du ja!
»Und dort!« Sie wies zur Seite, als er mit einer wilden Bewegung ihr folgte. »... Dort steht der Kutscher neben seinem Wagen und raucht Zigaretten. Die hat er von mir unter der Bedingung, daß er nicht von der Stelle geht! O Herr Professor Ranggetiner – ich kenne Sie doch!«
Sie sahen sich lachend und verwirrt, die Kränze schiefgerückt über den erhitzten Gesichtern, in die blauen Augen. Der Meister wendete sich ab. »So schön zu sein!« murmelte er. »Und für niemanden! Niemand sieht es. Und ein Künstler braucht doch Schönheit. Es ist so wenig davon auf der Welt!«
»Die arme Lotte braucht ihre Schönheit auch!« Sie setzte sich gelassen wieder nieder und ordnete mit einer streichelnden Handbewegung wie mit Katzenpfötchen ihr zerzaustes Haar. »Ich hab' doch kein Geld. Wer heiratet mich denn sonst?«
Heiraten! Das widrige Wort wirkte auf den Meister wie das rote Tuch auf den Stier.
»Heiraten!« brauste er auf. »Das ist ein gräßlicher Ausdruck! Da sitzt so eine Nixe am Meer – ist eben im Abendrot aus den Wellen herausgeschlüpft und spricht vom Standesamt. Gräßlich!«
»Ja – es ist auch gräßlich!« sagte Lotte sanft und fügsam. »Aber was soll man denn machen?«
Er war ruhiger geworden. »Heiraten!« wiederholte er und setzte lauernd hinzu: »Wen denn?«
Sie sah ihn mit ihren großen Märchenaugen erstaunt an. »Wie soll ich das wissen? Aber er ist nett und hat viel Geld und hat mich sehr, sehr lieb! So ist er! Das weiß ich von ihm. Nun mag er kommen!«
»Natürlich ... Geld!« Er lief wütend am Strande auf und nieder, daß die Kiesel knirschten. »Verschachere dich nur, du Scheusal!«
»Geld ist doch keine Schande! Das braucht man! Sehr! Das werdet ihr schon auch noch merken!«
»Wer denn, ihr?«
»Nun – ihr beide! Aber du darfst mich besuchen in meinem Schloß, wenn du dich zu sehr in Florenz langweilst! Ich werde ein Schloß haben ... ein Märchenschloß ... aber nicht im tiefen Wald, sondern nahe an der Eisenbahn – bei einer großen Stadt, daß man abends ins Theater oder in Gesellschaft kann. Da sitzen wir dann zusammen, du und ich, im Wintergarten – einem richtigen Wintergarten mit Palmen und einer Volière mit Goldfasanen, wenn es draußen schneit – das muß er mir alles anschaffen – und...«
»Wenn ich mich zu sehr in Florenz langweile...« Er blieb vor ihr stehen und strich sich verstört mit der Hand durch die Löwenmähne. »Ja – woher weißt du denn...«
»Ich weiß es eben!«
»Ich hab' dir doch kein Wort gesagt!«
»Nein, Seppl!« Sie schaute treuherzig zu ihm auf. »Das hast du nicht!«
»Und Ellinor gar... Sie hat mir doch selbst das Versprechen abgenommen, zu schweigen...«
»Ja. Die schweigt auch. Das ist gar nicht schön von ihr. Das hat mich geärgert. Ich gönn' euch beiden doch alles Gute!«
»Ja – also ... woher?« Er setzte wieder seine Wanderung am Wellensaum fort. »Wer hat es dir gesagt?«
»Mein kleiner Finger! O – der ist klug!«
»Halt!« Er packte sie plötzlich an beiden Schultern und schüttelte sie ziemlich unsanft. »Führt Ellinor nicht ein Tagebuch? Was?«
Lotte schwieg.
»Antwort will ich haben!«
Aber Meister Josephus bekam keine. Sie stand auf, ganz langsam und gelassen. »Ja – was denkt ihr denn eigentlich von mir?« fragte sie endlich entrüstet. »Wenn Ellinor es offen liegen läßt und ich komme zufällig allein ins Zimmer und lese gleich meinen Namen auf der ersten Seite ... ja ... ich bin doch kein Spartaner ... ich habe mich noch nie als eine Heldin aufgespielt ... ich bin ja doch nun einmal ein Scheusal...«
»Ja!«
»Und wenn ich netter wäre, gefiele ich keinem Menschen. Und dir am wenigsten! Also gut!« Sie wurde trotzig. »Ich weiß alles ... schon die ganze Zeit! Und meinen Segen habt ihr, wenn ihr mich auch nicht darum gebeten habt, was recht unschön von euch war... Ich wäre sehr lieb und froh mit euch gewesen ... statt der dummen Versteckenspielerei.«
Sie schaute wirklich gekränkt aus und hatte feuchte Augen. »Und nun, siehst du...« fuhr sie fort, da er ganz verdutzt und verärgert ihr den Rücken drehend auf das Meer hinausstarrte. »Ein reicher Mann, von dem ich vorhin sprach – ich meine ... das Geld ist doch wirklich keine Schande... Ihr werdet noch ganz froh sein, wenn ich einmal in der Lage bin, euch zu helfen. Ich tu's dann von Herzen gern!«
»Wieso denn?« fragte er unwirsch, ohne sich umzuwenden.
Sie schlang die Hände ineinander. »Aber, lieber Freund ... guter, dummer Meister Seppl ... glaubst du denn wirklich, daß dir die Leute nachreisen, wenn du dich da irgendwo in Italien vergräbst? Eine Zeitlang gewiß! Weil du in der Mode bist. Aber dann kommst du eben aus der Mode. Wen man ein paar Jahre lang nicht sieht, der kommt doch immer aus der Mode! Von dem weiß man gar nicht mehr, ob er tot oder lebendig ist. Paß 'mal auf, wenn du nach zehn, fünfzehn Jahren wieder einmal nach München kommst, womöglich schon ganz grau geworden und struppig und verwildert, dann wird sich alle Welt wundern und fragen: ›Herrgott – lebt der Ranggetiner denn noch? Ich hab' gedacht, der wäre schon längst tot.‹ Denke doch, wie du dich selbst immer über die Ärmsten lustig gemacht hast – über deinen bekannten deutschen Künstlergreis aus Rom, der die letzten zwei Jahrzehnte geschlafen hat. Du hast ihn ja selbst auf der Redoute in München nachgemacht – mit einem langen weißen Knecht Ruprechts-Bart und einem blödsinnig erstaunten Blick – damals hast du gesagt, diese Spezies stürbe allmählich aus. Und jetzt willst du selber einer werden!«
»So einer doch nicht! Das sind die Kerls von vorgestern. Aber ich bin ein moderner Künstler. Der schafft in Florenz so gut wie in München!«
»Du bist modern!« sagte Lotte sanft. »Ganz recht, Meister Seppl! Das heißt eben: du bist in der Mode! Man sieht dich überall ... alle Welt kennt dich – vom Fürsten bis zum Nähermädchen, das dir Modell sieht ... alle Welt hat dich gern, weil du ein zu netter Kerl bist in all deiner Abscheulichkeit ... und da fliegt dir alles zu – nicht nur Geld ... auch Eindrücke ... Anregungen ... was man so sagt, neuer Nervenstoff... du bist ja wie Quecksilber ... du mußt immer hin und her ... du mußt immer mit vollen Händen geben und nehmen ... von außen muß es kommen und wieder nach außen gehen ... von dir selber kannst du nicht leben... der Vorrat ist bald alle!«
Er drehte sich zornig nach ihr um. »Wenn nur die kleinen Mädchen nicht immer schwatzen wollten! Was verstehst denn du davon? Dutzende von berühmten Künstlern könnt' ich dir nennen, die dauernd in Italien leben mit Frau und Kind oder ohne Frau und Kind und sich den Kuckuck um Gott und die Welt kümmern und doch auf der Höhe bleiben!«
»Ja. Die sind aber auch nicht doppelt! Du bist doppelt. Du bist der Meister und du bist unser Seppl. Als der Meister willst du unsterblich werden und als der Seppl, als der Geißbub willst du dich amüsieren auf der buckleten Welt! Schau – das geht nicht zusammen. Eines oder das andere! Sonst wird man halb!«
»Also wer doppelt ist, ist halb! Das ist Lottesche Logik! Der Kopf dreht sich einem!«
Lotte nahm sich den Kranz von der weißen Kinderstirne, und schlenderte ihn mit einem weiten Schwung hinaus in das Spiel der goldig glitzernden Wellen. »Unlogisch mag's sein! Ich weiß ja, wie dumm ich bin. Aber wahr ist's. Man braucht nur nicht so große Worte zu machen, sondern einfach zu sagen: Du bist der Seppl! Du brauchst Lärm, Menschen, Lichter, Wein – alles – nur nicht die Einsamkeit! In der fängt man an, zu denken! Stell dir nur vor, wie schrecklich: du und denken! Wenn es in dem Löwenschädel da zu rumoren anfängt! Und allein! Du bist doch nun einmal ein böses, sechs Fuß langes blondbärtiges Sonntagskind! Jedes Kind weint, wenn es auf einmal allein ist....«
»Ich bin auch nicht allein!«
Darauf ging sie nicht ein. »O weh! Die langen Abende!« murmelte sie träumerisch. »Die langen Regentage – ohne Arbeitsstimmung und Licht. Die Langeweile im fremden Land. Und sparen, sparen, sparen! Jedes Lirazettelchen dreimal umdrehen, eh' man so eine schlampige italienische Köchin damit auf den Markt schickt. Der rechte deutsche Hausvater mit vielen Sorgen und wenig Geld! Und die Klingel draußen bleibt still. Niemand kommt mehr zu dem armen Seppl – kein Kunsthändler – kein Fürst – kein Kommerzienrat und wer alles jetzt deine Feinde sind, die es so gut mit dir meinen – keine hübsche Frau – keine – du, Seppl – keine hübsche Frau ... und am wenigsten der Geldbriefträger...«
»Bist du jetzt still, du Unglücksrabe!«
»Und in München,« fuhr sie schwermütig fort, »dort ist der Karneval. Da tanzen sie und springen. Bloß du bist nicht mehr darunter und jodelst nicht mehr, daß die Wände zittern, und stampfst beim Schuhplattler allen anderen voraus! Und niemand denkt mehr an den armen Meister Josephus!
»Bloß ich – das gute Lottchen! Wie gesagt, du besuchst mich einmal auf meinem Schloß! Mein Mann wird auch sehr nett zu dir sein! Und dann schwätzen wir von vergangenen Zeiten ... und wie's früher so hübsch war und jetzt so traurig, seit du ins Kloster gegangen bist ... armer, armer Seppl ... armer Meister Tugendreich ... du als Eremit in Florenz!...«
»Ach, du blonde Katze...« Er hatte sich wieder etwas beruhigt. In seinem Baß war ein mitleidiger Ton. »Was weißt du denn überhaupt von mir? Das, was du Kloster nennst, ist meine Kunst – die reine – die eigentliche Kunst – das, was ein Lottchen nie und nimmermehr begreift. In dieser Kunst geh' ich jetzt auf – bis auf den letzten Rest. Es ist hohe Zeit! Aber doch noch nicht zu spät!«
»Ach – du wirst es ja doch nie zu was Großem bringen!« sagte Lotte ganz laut und ruhig mit ihrer hellen Kinderstimme.
Er zuckte wie unter einem Hieb zusammen bei diesen unerhörten Worten. Ungläubiges Erstaunen, langsam aufsteigende Zornröte auf den blondbärtigen Siegfriedszügen – ein König, dem ein kleines Bettelmädchen an der Straße eine Majestätsbeleidigung entgegenruft!...
»Was?« sprach er ganz erschrocken und schwere Wetterwolken ballten sich über seiner Stirne. »Lotte ... ich glaub'... ich hab' nicht recht gehört!«
»Ich hab' gesagt, daß du es doch nie zu etwas Großem bringen wirst!« wiederholte Lotte und schaute träumerisch an ihm vorbei auf das von Purpur und Gold überzitterte abendliche Meer.
»Das ... sagst... du ... mir?«
»Das weißt du doch selber!« Nun schien sich ihrer ein naives Erstaunen bemächtigt zu haben. Unbefangen lächelnd wie ein Kind, die Hände im Schoß gefaltet, hob sie die langen Wimpern zu ihm empor.
Er brach los. »Das soll ich wissen! Wer bist du denn? Was sitzt denn da überhaupt für ein Geschöpf und wirft mir derartige Dinge an den Kopf? ... ein kleines Mädchen ... eine Puppe ... ein Spielzeug ... und das will mir ... o ... es ist ja lächerlich!...«
»Lache doch, armer Seppl! Aber du hast ja wahrhaftig die Augen förmlich feucht ... ball doch nicht so die Fäuste und mache kein so wütendes Gesicht ... es ist ja gar nicht so schlimm...«
»Wenn du ... wenn die kleinen Kinder wie du ... mir schon derlei ins Gesicht sagen...«
»Aber das ist doch unser Geheimnis!« Es war, als ob sie ihn sanft trösten wolle. »Das weiß doch sonst keiner! Wenn du sonst mit der Faust auf den Tisch schlägst und schreist: ›Ich bin ein Stümper!‹ – dann lacht die ganze Tafelrunde dich aus und widerspricht dir und trinkt dir zu. Das tut dir wohl und darum tust du's ja auch nur! Aber wenn du mit dir allein bist, widersprichst du dir nicht...«
Er setzte sich plötzlich neben sie, packte ihre Hand und sah sie aus großen bangen Augen an. »Wenn ich allein bin ...« murmelte er. »Jetzt red zu Ende, oder ich bring' dich um!«
Sie überzeugte sich durch einen Blick nach rückwärts, daß der Kutscher noch immer, seine Zigaretten rauchend, auf Rufweite am Wagenschlag lehnte. »Ich meine nur... du fühlst doch auch ganz genau, wo deine Grenzen sind,« sagte sie harmlos. »Anfangs vielleicht nicht. Da glaubt wohl jeder, er kann alles! Aber später ... da merkt man doch: Halt! Bis hierher und nicht weiter! Und da ist es doch sehr schlau – und du tust das ja seit Jahren, ohne darüber nachzudenken –, daß man diese Grenze verwischt ... allerhand Unsinn treibt ... eben, kurz gesagt, den Seppl zur Fastnacht spielt. Den fidelen Geißbuben! Dann merken es die anderen nicht und sagen sich: ›Herrgott ... wenn der einmal seine ganze Kraft zusammennehmen wollte, statt sie da und dort zu verzetteln – was müßte dabei herauskommen!‹ Ein rechter Schwabenstreich kommt heraus, mein lieber, verehrter Meister Josephus! Und den Schwabenstreich machst du jetzt, wenn du nach Florenz gehst!«
»Die Leute müssen doch immer glauben, daß noch mehr hinter einem steckt!« fuhr sie eifrig und eindringlich fort. »Man darf ihnen doch nie alles zeigen. Und die Leute sind ja so dumm. Man kann doch mit ihnen machen, was man will! Wozu sie mit Gewalt enttäuschen? Jetzt glauben sie wunder wie reich du bist! Und du bist's ja auch! Aber willst du ihnen denn durchaus auch zeigen, wie arm du sein kannst?«
»Ich bin aber nicht arm!«
»Lieber Seppl!« Sie legte mitleidig ihre Hand auf die seine. »Lieber, guter Meister! Mir spiele keine Komödie vor! Anderen vielleicht! Ellinor kennt dich nicht! Aber ich! Ich weiß, was seit Jahren an dir nagt ... was dich nach Griechenland treibt ... was dich so rastlos und unglücklich macht, daß du wie ein kleines Kind vor dem Hermes zu weinen anfängst ... das ist immer unser großes Geheimnis, das dich drückt und das du niemanden sagen magst: Es langt nicht ganz mit deiner Kunst! Am letzten Ende – wo die ganz Großen sind, zu denen du möchtest – da ist sie stärker als du. Da wirft sie dir die Türe vor der Nase zu und du bleibst draußen stehen und wirst noch ausgelacht dazu! Denn du weißt ja – in keiner Kunst gibt's Mitleid und Erbarmen. Drum soll man so Sachen nicht erst probieren und gar öffentlich. Am hellen Mittag vor aller Welt nach Florenz übersiedeln! Du – Seppl –« Sie streichelte leise seine mächtige Rechte. »Erinnerst du dich noch, wie wir 'mal haben zusammen die Zugspitze besteigen wollen. Aber da kam sie uns zu steil und zu hoch vor. Angst haben wir beide gekriegt. Weißt du noch, was wir da gemacht haben, wir schlauen Spitzbuben? Wir sind des Morgens ruhig in der Knorrhütte sitzen geblieben, haben unsere Suppe gelöffelt und die dummen Kerle ausgelacht, die unterwegs umgekehrt sind und sich blamiert haben! Wir sind nicht ausgelacht worden. Denn wir haben es eben gar nicht erst versucht. Wenn man nicht auf die Spitze kann, muß man unten in der Hütte bleiben. Nur nicht in der Mitte dazwischen!«
»Das weißt du ja auch alles!« sprach sie tröstend weiter. »Du sagst: du denkst nie! Nein! Aber du fühlst es! Du hast in diesem Augenblick genau dieselbe Überzeugung wie ich: daß du eine große Dummheit vorhast! Du willst dir mit Gewalt den Kopf an der Wand einrennen, obwohl das kein Mensch von dir verlangt, außer ... Das ist es eben: du hast Angst vor Ellinor! Die sieht nun einmal in dir so etwas Übermenschliches, armer guter garstiger Seppl – und du fühlst so eine Art Verpflichtung in dir ... du willst sie nicht enttäuschen ... und dich selbst auch nicht ganz. ... Vor dir selber hast du Angst und läufst vor dir nach Italien davon, wie der Mann, der sich mit seinem Schatten gezankt hat! Warum denn nur? Bleibe doch, wie du bist! Du bist sehr böse und sehr nett und wir haben dich alle sehr lieb, Meister Josephus!«
Er stand langsam auf, wie betäubt, und begann mechanisch bunte Kiesel aufzulesen und über das Glitzerspiel der See hinzuschnellen. »Wer bist du denn eigentlich?« sagte er, ohne den Kopf nach ihr zu wenden. »Woher weißt du das alles? Dinge, die ich mir selbst kaum gestanden hab'! Die ich nie einem Menschen erzählt hab'! Wie unterstehst du dich denn nur, mich aufzusperren und in mir herumzukramen wie in einer alten Schublade? Wie kriegst du denn das nur fertig?«
»Ich fühl' es eben, Meister Seppl!«
»Das kannst du gar nicht fühlen, wie einem Mann zu Mut ist! Einem Mann, der beinahe doppelt so alt ist wie du! Was weißt denn du von den Männern?«
»Gar nichts. Natürlich! Gott sei Dank, daß ich so wohlerzogen bin! Aber ich kenn' euch doch! Wie das zugeht, weiß ich selber nicht. Aber ich seh' wie durch Glas und fühle: ›Jetzt will er das und jetzt denkt er jenes!‹ Nicht bei allen Männern. Es gibt welche, die sind wie gepanzert. Undurchdringlich! Vor denen hab' ich Angst. Sie sind gefährlich. Aber dann sind andere ... Frauen-Männer ... weißt du ... so wie du ... wo man immer gleich das Gefühl hat: ›Wir sind ja schon seit einer Ewigkeit miteinander bekannt und gute Freunde!‹ Die können nichts verbergen. Und warum denn auch? Ich mein' es nur gut mit dir!«
»Ja. Du meinst es gut mit mir!« Meister Josephus hob sein melancholisches Blondhaupt und sah sie lange an. »Du hast's erreicht, törichte Jungfrau. Du hast mich totgeschlagen. Das wolltest du ja auch nur. Und nun komme! Es wird dunkel. Und unterwegs kein Wort, wenn dir dein Leben lieb ist! Ich will deine Stimme nicht mehr hören!«
Der Wagen rollte rasch durch die im letzten rosigen Abendschein verschwimmende attische Ebene, über der ferne, purpurn verklärt, von der Akropolis der Säulenwald des Parthenon flammte – am Mastenwald des Piräus vorbei, die heilige Straße von Elis entlang, zwischen den graugrünen Hainen uralter, seltsam gewundener und verschlungener Ölbäume, in deren verästelten Stämmen allerhand menschliche Fabelwesen, Mann und Weib in ewigen Kampf miteinander spielend und ringend, zu hölzernen Bildsäulen erstarrt schienen, dann durch die Vorstädte, längs des ausgegrabenen althellenischen Friedhofs hinein in das Laternenflimmern, den Lärm, die Schwüle und den Menschendunst des neuen Athen.
Im Lesezimmer des Gasthauses, das jetzt in der toten Jahreszeit verlassen dalag, mit bestaubten englischen Zeitungen vom letzten Winter, mit vertrockneten Tintenfässern und vergilbten Prospekten der Reisefirmen Cook, Gaze und Stangen – in diesem halbdunklen, öden Raum trafen sie Ellinor, die seit Stunden auf sie wartete.
Sie reichte ihm eine Depesche. »Sie ist vorhin für dich gekommen. Aus St. Moritz im Engadin!«
Meister Josephus machte eine Bewegung, als ob er das Blatt ungelesen zerknittern und wegwerfen wolle. Dann riß er es zornig auf und ließ es wieder sinken.
»Nun?« Lotte stellte sich auf die Fußspitzen und sah ihm über die Schulter. »Was telegraphiert dir denn der Herzog?«
Er fuhr sie an. »Sei nicht so neugierig! Überhaupt ... woher soll ich denn französisch können? Ja, meint ihr denn, man hätt' uns Geißbuben auf der Alm im Zillertal einen Hauslehrer gehalten? Telegraphiert er mir franzosisch ... der ... bald hätt' ich was gesagt ...«
»Gib 'mal her!« Lotte nahm ihm das Blatt weg und las. »Also ... der Herzog hätte mit Bedauern durch seinen Neffen, den Prinzen von Eck ...«
»Prinzen von Eck? Den kenn' ich gar nicht!«
»Ich auch nicht! Einerlei! Also von dem hätt' er gehört, daß du seinem Ruf nicht folgen wolltest, und sei untröstlich! Hörst du – ›untröstlich‹ schreibt der höfliche alte Herr! Und er bäte dich dringend, dich an dein Versprechen zu erinnern und ihn noch einmal in St. Moritz zu besuchen. Dann hoffe er doch noch, dich umzustimmen. Und du möchtest ihm doch gleich Antwort zurücktelegraphieren.«
»Ja ... aber wie denn?« Meister Josephus nagte verstört an seinem blonden Bart.
»Das mußt du wissen!«
»Ach ... warte, bis du gefragt wirst, Lotte! Ich meine ... wenn ich deutsch antworte, kommt es verstümmelt an. Und französisch kann ich nicht.«
»Dann lasse mich doch telegraphieren!« Lotte wartete ein Weilchen auf Antwort und sah sich suchend im Zimmer um. »Hier ist die Tinte ausgetrocknet und alles voll Moder. Aber ich kann in das Hotelbureau hinüberlaufen.«
Der Meister tat, als ob er sie nicht höre und Ellinors stumm auf ihn gerichteten Blick nicht bemerke. Er stand, beiden den Rücken zuwendend und nervös an seinem Bart kauend, am Fenster, und Lotte schlüpfte hinaus.
Nach einiger Zeit kam sie wieder. »Je viens de telegraphier à Son Altesse, cher maître!« sagte sie harmlos.
»Was?«
»O – I say, Lord Siegfried – I've telegraphed to his Highness!«
Er drehte sich gereizt um. »Solch eine Pensionspuppe!« knurrte er. »Renommiert mit ihrem albernen Englisch und Französisch, bloß weil ich gesagt hab', daß bei uns die Geißbuben keinen Hofmeister haben. Was du geantwortet hast, will ich wissen!«
Sie machte große Augen. »... Daß du kommst! Was denn sonst?«
Er machte eine hastige Bewegung nach der Türe. Sie setzte sich und blätterte in einer alten Zeitung. »Die Depesche ist schon fort!« sagte sie. »Ich habe gleich einen Boten weggeschickt!«
Es ward still zwischen den dreien. Lotte blies mit spitzen roten Lippen den Staub von dem Journal und wehrte ärgerlich den zudringlich summenden Stechmücken. »Zu dumm ... dies Griechenland,« sprach sie verstohlen lächelnd vor sich hin. »Einfach blödsinnig! ... Sei vergnügt, Meister Seppl! Bei uns oben wird's viel netter!«