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XXIII.

Unten im Tale träumen sie. In den großen, in Vollmondmitternacht schlafenden Palasthotels, in den Bauernhäusern daneben, auf der ganzen Erde.

Sie träumen nicht nur bei Nacht. Sie träumen auch bei Tage und werden nicht wach. Sie träumen ihr Leben und träumen ihren Tod.

Siehe – alles ist ein Traum.

Über den Dingen liegt der Schleier der Maja, der Glanz der Welt, die rolen Nebel der Leidenschaft in Herz und Hirn, der graue Flor der Trübsal, das schillernde Gewebe der Jugend, das gebrechliche Gespinst des Alters, das bunte Seidengeglitzer der Güter der Erde und das stärkste aller Spinnwebe – des Weibes Schönheit.

Zerreiße Nebel, Spinnweb und Flor! So wirst du wach! Wer da weiß, daß er träumt, der träumt nicht mehr. Er schreitet wissend durch die Welt. Ein Pilger an allen Toren und überall in der Heimat, wo der Wind weht und die Wolken ziehen – ein ewig Gehender und ewig Kommender, hinter dem fern wie die letzte Abendröte überm Meer Menschenlust und Menschenleid verglimmt.

Er besitzt nichts mehr auf der Welt. Drum hat er alles. Drum ist er gütig. Drum ist er zufrieden. Er hat sich selbst in seiner Schwachheit gesehen und in sich den Menschen und in dem Menschen das ganze Leben im Schleier der Maja. Da gewann er aus sich das hohe und tiefe Mitleiden mit allem, was lebt und leidet.

Der einst den Schleier zerriß, war auch ein Prinz, wie der kleine verwachsene Bergsteiger, der in der Stille der Mitternacht den Höhen des ewigen Firns zustrebte. In Gotamo Buddhas Ställen wieherten die Pferde und wiegten sich die Elefanten, in Gold und Elfenbein prunkten die Säle seines indischen Königsschlosses, die Palmen rauschten über seiner schlafenden gewappneten Heerschar, seiner warteten mit Liebe die Eltern, in Zärtlichkeit die schönsten Frauen, in Treue die Freunde. Und da es Mitternacht war, sattelte er still sein Roß und ritt hinaus und wandte sich nicht um.

Aus der Heimat zog er in die Heimatlosigkeit, der Fürstensohn ward zum Bettler in fahlem Lendenschurz, das Antilopenfell über dem Arm, Krückstock und Opferschale in der Hand. Zum Wanderer ward er, zum Wissenden, zum Vollendeten. Und als der Greis die müden Augen schloß, war diese Welt schon lange vor seinen Augen vergangen. Durch Berge und Menschen hatte er hindurchgesehen, über alles Köstliche der Welt hin wie über einen Kehrichthaufen, über Königskronen und Mädchenlocken, über siegesrote Schwerter und gleißendrotes Gold, über Tempeltürme und über die Schriften der Weisen und der Dichter, und wußte: Das alles war nur eine Trübung in dem kristallklaren Nichts, in dem Nirwana. Und wußte: »Vollendet ist mein Werk! Nicht mehr ist diese Welt!«

Der kleine Prinz blieb auf halber Höhe des Weges stehen. Die letzte Versuchung kam über ihn, der Gedanke, den er schon oft geträumt: ferne, irgendwo als Einsiedler in einem indischen Palmenwald seine Tage zu verbringen, wunschlos, sich und der Welt entronnen.

Nein! Er warf das Haupt zurück und stieg rasch empor. Wer lebt, muß das Leben wollen! Ein Mensch unter Menschen! Draußen im Kampf der Erde!

Ihm war zumute wie einem Gefangenen, der aus seinem Kerker entsprungen zum erstenmal wieder die reine Luft des Waldes atmet, das klare Sternenfunkeln der Höhennacht über sich schaut und in tiefen langen Zügen aus einem kalten Bergquell Freiheit, Lebensmut und Gesundheit in sich schlürft. Da unten lagen die goldenen Mauern, hinter denen die Silberdynasten des wilden Westens ihren ›deutschen Prinzen‹ verwahrt gehalten hatten. Nun mochten sie ihm nachtrauern. Er war entflohen.

Noch gestern um diese Zeit wäre ihm der Gedanke nicht in den Sinn gekommen, daß ein Mensch gleichzeitig für alle anderen tot und für sich selbst zum zweitenmal lebend sein könne. Ellinors achtlos hingeworfene Worte, als sie beisammen in dem Trümmertal saßen und nach dem Steinschlag der Felswand schauten, hatten ihm plötzlich den einzigen Weg zur Erlösung gewiesen, den es gab. Denn er wußte ja – freiwillig hätte sich Virginia niemals von dem Namen, den er trug, getrennt. Von ihm selbst gerne! Dann hinterließ er ihr ja seinen Titel! Sie führte ihn weiter und hatte die volle Ungebundenheit dazu, die sie zum Leben brauchte.

Er dachte ganz ruhig an sie – kalt und gleichgültig wie an ein schönes Bild, daß er einmal im Vorbeigehen irgendwo geschaut. Wenn er jetzt für sie und die Welt sterben ging – sie war für ihn schon tot seit Stunden.

Nochmals überdachte er alles im Aufwärtsschreiten, wie er es sich im Grübeln die lange Zeit her vor Mitternacht zurechtgelegt hatte. Morgen früh wurde er vermißt. Er war in die Berge gegangen. Denn sein gewohnter Lodenanzug, seine Eisaxt, sein Rucksack fehlten. Der Gram um das Hinscheiden seines Kindes hatte ihn hinaufgetrieben. Am Mittag kehrte er nicht wieder. Unten warteten die Wagen zur Abfahrt, wartete seine Frau. Am Abend kam er nicht, am nächsten Morgen nicht. Nun ward die Unruhe wach. Man mußte ihn suchen. Und wo, das fragte man die einzige, die es wissen konnte, seine Gefährtin in den Alpen. Ellinor riet sofort auf ihrer beider Tal, auf jenen wüsten, wilden Felsenkessel hoch oben mit den schwarzen Schmetterlingen und dem schwarzen Wasserauge in der Mitte. Und langten dort die Führer und Träger an, dann blieben sie plötzlich alle stehen und sahen schweigend nach der Bergwand gegenüber. Dort kollerten und tanzten die Kobolde des Steinfalls über dem Schuttband, das sich an dem senkrechten Hang aufwärts zog, und drunten, an den wild über dem Gletscher tief unten starrenden Klippen hing Hut und Rucksack und stak festgeklemmt die Eisaxt. Ein Mensch war hier gegangen und von den niederprasselnden Geröllschauern in den Abgrund gerissen worden! Was sterblich war an dem Prinzen Wilfried von Eck, das ruhte zerschmettert, jedem Menschenauge unzugänglich, in den düster klaffenden und gurgelnden Schlünden des Eisstromes. Vielleicht gab der nach einem Menschenalter im Schmelzen seiner Tauwasser die Überreste des längst Vergessenen wieder frei, vielleicht behielt er ihn auf immer bei sich – einerlei! Für die da unten war von Stund' an der kleine Prinz zu seinen Vätern eingegangen. Niemand forschte über die Stätte des Unglücks hinaus nach seinen Spuren, und hätte er es auch getan – das harte Gestein, das blanke Gletschereis oben hinterliest keinen Eindruck seiner Nägelschuhe.

Die Schuhe trug er, sonst aber von seiner gewohnten Bergausrüstung kein Stück. Der da ging, war ein Engadiner Hirt mit Kapuze und kurzem Radmantel, unter dem sich die schiefe Schulter verbarg. Vor Jahren hatte er in einer Schäferhütte, in die er durchnäßt im Hochgebirge eingekehrt, diese Gewandung am Herdfeuer angegezogen und am nächsten Morgen, da seine eigenen Kleider noch nicht trocken waren, gekauft, um in ihr seinen Weg fortzusetzen. Seitdem hatte sie fast vergessen in einem stets verschlossenen Koffer gelegen. Selbst sein inzwischen neu eingetretener Kammerdiener wußte nichts von ihr. Die Lodenhüllen des Hochtouristen aber, in denen man ihn suchen würde, lagen, mit einem Stein beschwert, in der schlammigen Tiefe des Seegrunds im Tal. Und an seiner Eisaxt trug er einen kurzen Stiel festgebunden, einen kleinen Pickel mit aufzuschraubender Spitze, den er sich, um das sonst dort übliche primitive Küchenbeil der Führer zu ersetzen, für Wintertouren in den steilen Hängen der Hohen Tatra angeschafft und seitdem auch in jenem verschlossenen Koffer aufbewahrt hatte. Das war seine Stütze, wenn er von der Stelle des vermeintlichen Absturzes weiterging, sein Wanderstock beim Niederstieg durch einsame Seitentäler, über Sennhütten und Dörfer nach Italien. Niemand achtete da des rhätischen Hirten, der, gebrochen italienisch sprechend, in einer bescheidenen Osteria nächtigte und in irgendeinem Kramladen sich einen Sonntagsanzug erstand, um nach Genua zu fahren. Dort steuerten täglich Dampfer auf die hohe See hinaus, und einer nahm ihn mit. Paß und Ausweis hatte er ja. Denn er war ja seit Jahren gewöhnt, unter irgendeinem alltäglichen Decknamen zu reisen und, bei seiner Lebensstellung, leicht in den Besitz solcher Dokumente gelangt. Und das eben schützte ihn auch, wenn ihn doch zufällig jemand erkennen sollte, mit dem er irgendwo einmal in der Welt zusammengetroffen. Der sah eben in ihm den Doktor Günther oder den Anwalt Berg und nicht jenen Prinzen von Eck, von dessen Todessturz die Zeitungen voll waren. Und die paar Orte, wo er auf Wissende, auf Standesgenossen stoßen konnte, diese wenigen Weltstadtpromenaden, Luxuszüge, Modebäder, Palasthotels, Residenzen und Rennplätze waren leicht zu vermeiden.

Mochten die wappentragenden Gefährten seines ersten Lebens sich im Dom von Siebenwalden versammeln und die Seelenmesse hören, die für den Letzten aus dem fluchbeladenen Morganatengeschlecht des achtzehnten Jahrhunderts, für den letzten Sprossen der Barbara Fleckin und ihres fürstlichen Seelenverkäufers bei Weihrauch und Orgelklang gelesen wurde, und sich im stillen alle dasselbe denken: daß die Welt des Gothaer Almanachs wenig an dem melancholischen kleinen Prinzen mit der schiefen Schulter verloren – draußen, in der freien Unendlichkeit des Weltmeers, wo weiße Wogenkämme über blauen Tiefen schäumten, wo die Möwen kreischten und die Delphine spielend sprangen und lachend über alles hin der salzige Seewind auf feuchten Schwingen flog – da lehnte ein Fremdling im Bug des Dampfers, und wie da hinten die Küste Europas langsam im Meer verschwand, alles, was er bisher besessen, was er gehaßt und geliebt, gehofft und gefürchtet, belacht und beweint, so stieg vor seinen vorwärts suchenden Augen in unbestimmten Umrissen, wie frühlichtverklärte Wolken über der Wasserwüste ein zweites Leben mit dem Morgenrot des neuen Tages grüßend empor.

Wie dies Leben aussah – er wußte es nicht. Das bißchen Vermögen, das sein eigen war – winzig für einen Prinzen, vollauf genug für einen schlichten Weltpilger – trug er bei sich. Es reichte aus, um ihm, dem Vielerfahrenen, Weitgewanderten, Wissens- und Willensstärken, ein neues Dasein zu gründen, sei es in Amerika oder in Japan, in Australien oder Südafrika – mir ferne von Deutschland, ferne von allen, die den Prinzen von Eck vor seinem jähen Sturz im Hochgebirge gekannt hatten ...

Und vielleicht war dies heute sein letzter Tag! Es war ein Gang zwischen Tod und Tod, den er vorhatte, auf dem schmalen, schwindelnden Schuttband zu dem oben winkenden weißen Lichtreich des ewigen Schnees, des reinen Äthers empor, ein Kampf um Sein und Nichtsein, ein Streit, wie einst die Ritter in König Laurins Rosengarten mit den Zwergen, so hier mit den wütend und tückisch in Menge auf ihn niederstürzenden schwarzen Bergkobolden des Steinschlags. Vielleicht blieben sie Sieger. Aber der Gedanke erschreckte ihn nicht. Er war gesundet, so oder so. Das Leben im Tal, die Knechtschaft lag hinter ihm.

Er stand jetzt inmitten des wüsten, von hohen Felswänden eingeschlossenen Trümmerbeckens, am Rande des schwarzen Wassers, wo er gestern mit Ellinor gesessen und den kleinen, nachtdunklen Faltern zugeschaut hatte, die seltsam über dem Chaos der kahlen Blöcke wie verirrte Seelchen gaukelten und ihm immer eine Art leise lächelnden Grauens einflößten. Heute waren noch keine da. Es war noch zu früh. Der Morgen dämmerte eben erst. Der ganze Höhenkessel rauchte und dampfte von weißen Schwaden, die an den Bergmauern langsam in die Höhe krochen, um vor der Sonne in nichts zu vergehen, und die unten auf zehn Schritt in der Runde den Blick mit ihrer dünnen fließenden Dunstwand abgrenzten. Und durch den Nebel kollerte und donnerte es über ihm, dem Einsamen, in unregelmäßigen Zwischenräumen vom Hagel des rastlos stürzenden Schuttes. Hier, wo die Berge frei an der Luft verwitterten, sorgte sich der Steinschlag nicht um die Tageszeit, wie da, wo der gefrierende und schmelzende Eiskitt die morschen Abfälle der Kolosse umbannt hält und ihren Fall regelt. Um Mittag wie um Mitternacht rollte es durch den Schlund gleich dem Knattern eines Gefechts und fegte der Tod in atemlosen Sätzen, funkensprühend, Dampf aufwirbelnd, von einer Klippe zur anderen in den lautlos gähnenden Gletscherrachen herab.

Jetzt eben dröhnte es wieder in der Höhe schwer und dumpf von einer losgelösten, abwärts rauschenden Last. Er blickte empor. Es war im Brauen und Wallen der zähen Wollen nichts zu erkennen. Nur etwas Schwärzliches wie ein Flöckchen verbranntes Papier tauchte plötzlich mit zitterigem Flügelschlag aus dem Nebel auf und flog gerade auf ihn zu. Einer der dunklen Schmetterlinge umkreiste unruhig, ängstlich irrend zwei-, dreimal sein Haupt, als wolle eine eben Heimgegangene Seele von ihm Abschied nehmen, und stieg dann aufwärts über ihn empor, dem ersten Sonnenschein zu, der als verklärter, golden nach oben lockender Lichtstrahl die Dunstmassen der Tiefen teilte.

Es war Zeit. Es rief ihn zur Höhe, auf den Weg, den ihm Ellinor gestern gewiesen. Wieder dachte er an sie, die er ja auch im Leben nicht mehr wiedersah, mit einem stillen Mitleid. Er wußte ja durch seine Frau, daß auch die Hoffnung ihres Daseins gestern mit dem Meister Josephus geschwunden war. Sie war jetzt arm wie er. Nur hatte er sich von der Liebe befreit. Ihr hatte man die Liebe geraubt. Drum war sie unglücklich und er nicht, wenn er den Todespfad oben lebend durchmessen.

Er blickte zu dem Lichtkreis im Nebel empor, wo das irrende, müde mit den Gaukelflügeln schlagende Seelchen wie in nichts verschwunden war, und machte sich auf, der unheimlich grollenden und knurrenden, über ihm zu schwindelnder Höhe ragenden Bergeswand zu.

Leise pfeifend wie eine graue Maus sprang ihm da warnend der Tod entgegen, als er eben in die ersten Risse und Klüfte des Gesteins einsteigen wollte, und flog als ein schattenhafter, winziger Steinsplitter an seinem Ohr vorbei. Aber er verlachte die Drohung. Ihm war plötzlich siegesfroh zumut. Er hatte die Empfindung, daß er weiterleben würde, weil er weiterleben wollte. Rasch klomm er aufwärts im Kampf mit dem Kolosse, gleich dem Soldaten, der im Kugelregen eine Höhe stürmt. Die Wurfgeschosse der Berggeister sausten in langen Sätzen auf ihn zu und rechts und links an dem gewandt Ausweichenden vorbei. Umsonst boten sich verräterisch abbrechende Gesteinkanten dienstwillig den über dem Abgrund nach einer Stütze tastenden Händen und Füßen dar – umsonst kippte der schwarze Riesenblock, den sein Finger prüfend berührt, federleicht um und torkelte grimmig brummend wie ein Betrunkener unter seinem rasch emporgeschleuderten Bein, das er nicht zu zermalmen vermochte, hindurch, umsonst hatten sich die schrägen Felsstufen mit einer spiegelglatten, listig glitzernden Eishaut überzogen, umsonst schlang sich der in Kaminen abwärts gleitende Schotter um die Knöchel des Bergsteigers, um ihn mit allen Kräften, wie eine Herde winziger Tiere, pressend und drängend mit sich zu reißen, umsonst neigte sich die Bergwand selbst in dräuendem, das Gleichgewicht gefährdendem Überhang dem Feind entgegen – der Streiter, der sich da seinen Weg bahnte, kannte alle Listen, alle Tücken und Fallen der Alpengeister.

Nun stand er oben auf dem breiten, jäh ansteigenden Geröllband, links die Steilmauer, rechts der Abgrund mit dem Gletscher. Und von oben, aus unsichtbaren Höhen, regneten und klatschten die Steine, da und dort aufprallend, wie Granaten mit Feuerblitz und Staubwolke zerschellend und weithin ihre stiebenden Splitter spritzend. Hier hieß es einfach: Hindurch – hindurch so rasch wie möglich! Hier war, was lebte, machtlos in der Hand des Zufalls.

Und doch – dem Zufall ging ein Ahnen voraus, ein unwillkürliches plötzliches Stehenbleiben, wenn im nächsten Bruchteil einer Sekunde eine Steinkugel über die Stelle strich, die man eben betreten wollte, und wiederum ein instinktives Vorwärtsspringen – und gleich darauf rauchte und donnerte der Platz, von dem der Nagelschuh sich kaum gehoben, von einem unruhigen, durcheinander rollenden und kriechenden Gewimmel kleiner Todesboten.

Nur weiter! Rasch weiter und den Blick überall! Zur Höhe empor, wo die schwarzen Schatten in sausendem Bogen durch die Luft heranschwirren, nach vorne, wo der Schotterweg sich bald verengt, bald trügerisch verbreitert, zur Tiefe hinab, um sicher zu sein, daß kein Schwindel die Nerven schüttelt und die Muskelkraft lähmt. Jetzt durch einen eisig sprühenden Sturzbach hindurch, der doppelt grimmig zu rauschen scheint, um die Steine ungehört heranhüpfen zu lassen, langsam, trotz der Gefahr von oben jeden Schritt wägend über eine glitscherige Fläche von Spiegeleis – hier ein lauernder Halt hinter einem Vorsprung, bis das aus der Höhe sich ankündende Gepolter herangekommen und im Wirbelflug einander überspringender, pfeifend tanzender und funkensprühender Steingespenster hart an dem atmenden Leben vorbeigefegt ist – nun noch ein Dauerlauf zwischen zwei Hagelschauern über die steilste, kaum mehr fußbreite und in glitschrigem Geröll nachgebende Rampe – dann stand er an dem geschützten Rastort, den er gestern schon vom Tal aus sich gewählt, unter einer triefenden, überhängenden Wand, von deren oberer Kante die Felsbrocken im Riesenbogen durch die Luft unmittelbar auf die starren Gletscherwellen unten zischten.

Das niederträufelnde Wasser war hier zu einer stummen Reihe von Eiszapfen gefroren. Als fußlange und mannshohe kristallene Bärte hingen sie nebeneinander in der Luft, von unten aus seltsam fratzenhaft, wie stumpfsinnige Götzenbilder anzuschauen.

Er hatte sie gestern genau gesehen und sich unwillkürlich gesagt, daß man diese, den Weg versperrenden Eismänner mit dem Pickel zertrümmern müsse. Jetzt wollte er sich an das Werk machen und hob seine Waffe. Da lähmte ihm die Überraschung den Arm.

Es war schon jemand vor ihm hier gegangen! Die Eiszapfen, die er jetzt erst näher, mit einem wachsenden unbestimmten Schrecken betrachtete, waren, wo sie den Durchgang eines gewandten Bergsteigers hemmten, abgebrochen und zerschellt. Und die paar am Boden noch flimmernden Splitter waren nicht getaut. Die Zerstörung konnte erst heute, erst vor kurzem geschehen sein.

Wer war es, der sich hier den Pfad erzwungen? Wer hatte etwas an der gefährlichsten Stelle des ganzen Weges zu suchen, die sich hinter jenen Frostgebilden in Form einer breiten Nische weitete? Wer da stand, konnte freilich nie in die Tiefe stürzen. Aber gerade über seinem Haupte öffnete sich der Ausgang eines mächtigen, weithin nach oben verzweigten Felskamins, der in der Verästelung seiner Schlote alles, was sich in der Wand von Steinen löste, aufsammelte und in kurzen Zwischenräumen in vernichtendem Schlag auf die Kanzel entlud. Ein Aufenthalt an diesem furchtbaren Ort war der sichere Tod.

Langsam stieg eine Ahnung in ihm auf und wurde zur Gewißheit. Es gab nur einen Menschen, der gleich ihm auf den Gedanken kommen konnte, diesen Pfad zu gehen – der selbst mit ihm gestern darüber gesprochen und heute, nachdem er alles, was ihm lieb war, verloren, dem Worte die Tat hatte folgen lassen ...

Leise, als fürchte er, einen Schlafenden zu wecken, schlich er zwischen den zertrümmerten Eismännern an das andere Ende der Wand. Dort blieb er stehen, stumm auf seine Eisaxt gestützt, und sah vor sich nieder ...

Sie lag da, ruhig wie im Schlummer, einen müden, leidenden Ausdruck im Gesicht, das letzte Weh eines todwunden Geschöpfes, das in die tiefste Einsamkeit flieht, um dort still zu verbluten.

Er blickte nach oben, nach der drohenden Gefahr! Dann überschritt er rasch die Stelle des Unheils und war bei ihr. Die Wucht des Schlags hatte ihren Körper etwas abseits, an einen geschützten Ort geschleudert, wo sie kein Stein mehr versehrte. Er beugte sich zu ihr nieder. Sie war tot. Sie mußte sofort ausgeatmet haben.

Da faltete er seine Hände. Die Sonne brach durch. Rings schwand der Nebel aus der Hochwelt. Ein unergründliches Blau wölbte sich strahlend über dem ewigen Firn. Kein Laut war rings als der eintönige Sang der wandernden Steine ...

Sie waren Kameraden gewesen in der Reinheit der Berge und einander innerlich doch fremd. Er wußte wenig von ihr, sie, bis vor kurzem, nichts von ihm. Aber das wußte er, warum sie heute ihren letzten Weg gegangen. Sie war ein Weib und konnte nicht mehr lieben! Jenseits der Liebe war für sie der Tod. Jenseits der Liebe war für ihn, den Mann, ein neues Leben. Er konnte an dem gesunden, was sie zerstörte.

Und doch war heute ihr beider Schicksal gleich, hier oben in der Felseinsamkeit. Er war vom Weib genesen, wie sie vom Mann erlöst. Sie hatten beide den Frieden gewonnen, der Mann im Handeln, das Weib im Dulden. Und wie er wieder in das bleiche Antlitz sah, da beschlich ihn ein rätselhaftes Ahnen: wir haben uns schon lange gekannt, in manchem früheren Leben, an vielen Orten der Erde, und werden uns wieder treffen in der ewigen Wiederkehr aller Dinge und es wiederum nicht wissen, wir, die Altvertrauten, die Genossen in so vielem Freud und Leid, es kaum einmal wie einen verlorenen Ruf aus fernen Weiten im Ohr klingen hören, wenn in seltenen Feierstunden sich der Schleier der Maja lüftet, der über unseren Leben liegt.

Dies Leben ist dir dahin. Bald träumst im ein neues. Schlaf wohl, mein Kamerad...

Nun dachte er an sich. Er warf Hut, Rucksack und Eispickel in das Klippengewirr unterhalb des Felsplateaus. Da mochte es hängen! Jetzt war ja für niemand ein Zweifel mehr. Sie beide waren auf ihrer letzten Höhenwanderung vom Schicksal ereilt. Da schlief die eine zwischen dem tödlichen Gestein. Der andere, der Prinz von Eck, ruhte tief, unauffindbar im Abgrund des Gletschers.

Immer heller ward der Sonnenglanz umher. Er mußte sich eilen. Sonst konnte aus dem noch im Nebel liegenden Tal ihn doch jemand sehen. Die Lebenslust erfaßte ihn mit stürmischer Gewalt. Ein letzter Blick. Dann schritt er vorwärts, der Gletscherhöhe zu.

Der Weg des Todes lag hinter ihm. Feierlich ragende, im Morgenrot rosig leuchtende Geistersäulen von Eis, stille Riesen und Riesinnen, begrüßten ihn an den Grenzen ihres weißen Reiches. Und dahinter glühte der Zaubergarten des ewigen Firns im Purpurbad des Lichts, das weithin den Hermelinglanz des Schnees mit warmem, starkem Leben übergoß.

Er stand still.

Da war das Leben. Noch einmal schaute er nach der stillen Träumerin zwischen den Steinen zurück und nickte der Gefährtin in so vielen Nöten und Abenteuern den letzten Abschied zu: Kann dir die Hand nicht geben – bleib du im ew'gen Leben – mein guter Kamerad ...

Und plötzlich faßte ihn ein Schrecken! Wer leitete jetzt auf ihre Spur, wo sie nicht mehr war? Niemand suchte ihn hier – niemand fand sie hier! Und sie konnte doch nicht hier liegen bleiben! Es war alles umsonst gewesen! Er mußte zurück!

Da sah er, daß unten im Tal, im Nebel zwischen den Felsblöcken an dem schwarzen See sich etwas regte. Er warf sich nieder, um nicht erblickt zu werden, und hob das Fernglas zum Auge.

Er erkannte den eisgrauen grämlichen Alten vom Berge, der eben die goldene Brille aus dem faltigen Gesicht nahm und abrieb, den seltsamen Prediger in der Wüste, der damals im Grauen des Rothtals, am Fuß der Jungfrau, von seinem Felskegel herab dem Gletscherschweigen und Schattenwallen die ewige Wiederkehr aller Dinge verkündet hatte.

Jetzt setzte der unten seine Brille auf und machte eine jähe Bewegung. Mit dem scharfen Auge des Bergveteranen hatte er sofort den dunklen Punkt auf der Schutthalde der Felswand erkannt. Heute abend wußte alle Welt, daß die Höhen wieder zwei Opfer gefordert hatten ...

Nur, daß das eine dieser Opfer vom Tode auferstanden war, das wußte keiner. Ein neuer Mensch ging da, durch, den Gletscherkamm von allen Blicken des Tales und seiner Kerkerwächter geschieden, über das knirschende Eis mit festen Schritten, den Kopf zurückgeworfen, einem neuen Dasein zu. In unermeßlicher Weite dehnte sich vor ihm im Glanz der Sommerfrühe, im Gewimmel weißer Zacken und dem Gruße grüner Täler, im winkenden Wolkenzug und lachenden Wehen des Windes die jungfräulich erwachte Erde, und hinter ihm lag das Wesenlose – Wohlstand und Wappen, das Weib und aller Wahn der Welt. Gelöst von allem, was da war, wanderte er hinaus, ein Pilger auf allen Straßen, in seine Heimat, und in ihm klangen wieder die Worte, die am Lawinentor wie von einer Geisterstimme aus Nebeldämmern mahnend an sein Ohr gedrungen:

»O Lebensmittag – zweite Jugendzeit!
O Gletschergarten!
Unruhig Glück im Stehn und Spähn und Warten!
Der Freunde harr' ich, Tag und Nacht bereit –
Der neuen Freunde! Kommt! 's ist Zeit! 's ist Zeit!«

Das Kraftgefühl der Genesung schwellte seine Brust.
Hinaus in Kampf und Lust und Not! Hinaus ins
Morgenrot! – Freue dich, Seele! Du wardst wach...


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