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Auf dem höheren der beiden Türme des Domes über dem alten verräucherten Viertel, hauste Heinrich Palingenius, der Türmer, mit seiner Tochter Regina und der alten Johanna. Er »hauste«, denn nach der Art der Eulen und Krähen hatte er sein Nest unzugänglich zu machen gewußt, zu einem Horst, in den er – mit einer einzigen Ausnahme – keinen Fremden zuließ. Wie er von der Welt verlangte, daß sie seine Ruhe nicht störe, ebenso trug auch er kein Verlangen, von seinem Turm hinabzusteigen, und seit er zum letztenmal in der Stadt unten gewesen war, waren dreizehn Jahre verflossen. Damals begleitete er den Sarg seines Weibes hinaus, und als er finster und ohne eine Träne zurückkehrte, zählte er die Stufen bis zur Höhe seines Horstes. Über der hundertsten malte er ein schwarzes Kreuz an die Wand und bis zu diesem Kreuze hinab erstreckte sich von nun an sein Reich. Bis zu dieser hundertsten Stufe hinan ging noch die Brandung der Welt, durch die Fensterluken der Treppe, durch die alten, an Luntenbüchsen und bleierne Feldschlangen erinnernden Schießscharten drang der Lärm der Straße, das Gebimmel der elektrischen Bahn, das Geschrei des Marktes, das, wiewohl durch das stillere Viertel um den Dom gedämpft, dennoch über diese Zone hinweg zu einem gleichmäßigen, starken Schwall verwoben den Atem der Stadt bis hierher trug. Von der hundertsten Stufe an aber wurde das Brausen zu einem Summen und ganz oben war es nicht anders wie das Gemurmel eines fernen Meeres, dem keine Macht mehr gegeben ist, die Ruhe aufzurütteln. Seitdem war der Turm einmal innen und außen restauriert worden, und die Maurer hatten sich besondere Mühe gegeben, das unheimliche Kreuz, dessen Bedeutung ihnen fremd war, zu übertünchen. Als sie aber mit der Arbeit zu Ende waren, ging Heinrich Palingenius bis zu den Grenzen seines Reiches hinab und erneuerte sein Grenzzeichen, daß es noch heller als zuvor von der weißen Wand abstach. Wenn seine Tochter und die alte Johanna zur Stadt hinabstiegen, um das Grab der Mutter auf dem großen Friedhof der Stadt zu besuchen, folgte ihnen der Türmer mit seinem Fernrohr. Durch das auf der Brüstung der Turmgalerie angeschraubte Rohr beobachtete Palingenius die Straße, die aus dem Gewirr der Vorstädte zum Friedhof führte. Dort mußten die beiden, die er in den Gassen unten verloren hatte, wieder auftauchen. Und in dem Augenblick, in dem sie in das Gesichtsfeld des Fernrohres traten, wandten die zwei den Kopf und grüßten den Alten mit einem Nicken und einem Winken der Hand. Heinrich Palingenius nickte und winkte zurück, obzwar er wußte, daß man nichts von seinem Gruße sehen konnte. Dann folgte er ihnen mit dem Fernrohr, begleitete sie auf dem Weg bis zum Friedhof, sah sie an dem Einkehrwirtshaus, vor dem immer die Wagen der Bauern standen, vorbeigehen, sah die Wagen der elektrischen Bahn an ihnen vorbeirollen und ging mit ihnen bis zu dem weißen Hause des Totengräbers, unter dessen Torbogen sie verschwanden; sah sie dann wieder zwischen Gräbern hervorkommen, die Straßen der Toten entlanggehen und endlich vor einem Grab stehen bleiben. Er wußte genau, ob über diesem Grab schon der Flieder blühte, ob die Blumen auf dem Hügel schön standen, ob die Blätter über das schlichte Eisenkreuz hintanzten und ob der Schnee nicht allzu schwer drückte. Die Zurückkehrenden brauchten ihm darum nichts zu erzählen. Aber niemals versäumte es Regina, zu dem Vater hinzutreten und ihn mit warmen Lippen auf die Stirne zu küssen. Sie brachte ihm den Gruß der Toten.
Heinrich Palingenius liebte seine Tochter und die alte Johanna mit der großen Liebe, die er nun nicht mehr seinem Weib zuwenden konnte. Aber neben ihnen liebte er auch seinen Turm, wie man die Heimat liebt, die man niemals verlassen hat. Wie man die Erde liebt, aus der man hervorgegangen ist. Seit er denken konnte, wohnte er hier oben, und seine frühesten Erinnerungen sahen ihn neben dem Vater den Horizont absuchen, ob nirgends ein Feuer den Besitz der Menschen da unten bedrohe. Es war ihm, als sei er ein Geschöpf des Turmes, und auch Regina und die alte Johanna umschloß die gemeinsame Verwandtschaft. Die Geschichte des Turmes war ihm ein Stück seiner eigenen Vergangenheit. Er hatte alle Aufzeichnungen gesammelt, die über ihn zu finden waren, die kurzen Hindeutungen der Chroniken, die Sagen, die sich an seine Erbauung knüpften, von der Wette, die dem Baumeister das Leben gekostet hatte, von dem Rind, das man lebend in das Fundament eingemauert hatte, um dem Turm Bestand zu geben, und dessen Wimmern man in den stürmischen Nächten des Herbstäquinoktiums noch immer hören konnte, von dem pflichtvergessenen Türmer, der im Schlafe eines schweren Rausches ein Feuer nicht gemeldet hatte, das nächtlings um sich greifend die halbe Stadt in Trümmer legte. Man hat ihn gebunden in den Uhrkasten gelegt, wo er von den ungeheuren Rädern mit den grimmigen Zähnen gepackt und zermahlen, von den schweren Gewichten zerstampft wurde. Seine zerbrochenen Knochen, sein zerfetztes Fleisch hatte man vom Turm hinabgeworfen und die Hunde hatten sich um die Bissen gebalgt. Aber in der Dreikönigsnacht konnte man im Uhrkasten noch immer das Brechen der Knochen, das Röcheln des Gemarterten hören, während die Uhr ihren gleichmäßigen, schweren Schlag weiter ging. Auch die Geheimnisse der Glocken waren in diesem Buche, aus dem Palingenius an Winterabenden vorzulesen pflegte, aufgezeichnet: von der großen Susanna, die mit Blut getauft worden war, von der Viktoriaglocke, die aus dem Metall erbeuteter schwedischer Kanonen gegossen war.
Damals war der Turm noch höher gewesen als heute, und er mußte mit dem hohen Helm machtvoll hinausgesehen haben, wenn selbst sein Stumpf noch so stolz über die Stadt aufstieg. Aber die schwedischen Kanonen, dieselben, die dann ihr Metall für die Viktoriaglocken geben mußten, hatten, nachdem sie den Zwillingsbruder des Turmes fast bis an das Schiff des Domes herab abgetragen hatten, auch den stolzen Helm herabgeschossen und die Mauern durchlöchert. Nach dem Sieg begann man wohl wieder an seiner Herstellung zu arbeiten, aber das Geld war rar geworden in den Zeiten des Dreißigjährigen Krieges, den Bauherren ging der Atem aus, Feuersbrünste leckten dreimal an seinen Quadern, und wenn sie auch den Turm selbst nicht stürzen konnten, so vernichteten sie doch einen Teil des schon Erbauten. Alles das stand in des Heinrich Palingenius' großem Folioband vom Turme, und die Rechnungen der Baumeister, die Pläne für die Wiederherstellung lagen bei jedem Punkte dabei wie in einem mit äußerster Sorgfalt geführten Archive.
Ein seltsamer Brauch gab dem Turm ein seltsames Aussehen. So oft einer der Domherren starb, wurde eine der Quadern an der Außenseite des Turmes weiß gestrichen. Nun sah der Turm mit seinen weißen Würfeln einem großen Kasten gleich, dessen Flächen von ungeheuren Schachbrettern gebildet sind. Heinrich Palingenius ließ es sich nicht nehmen, wenn er das Zügenglöcklein geläutet und nach drei Tagen für den Verstorbenen den Donner der großen Susanna gelöst hatte, selbst auf das schwankende Brett hinauszukriechen und, an den schaukelnden Seiten von einer Fensterluke aus festgehalten, mit grobem Pinsel die Quader des neuen Toten zu überweißen. Dieser Arbeit widmete er eine treue Sorgfalt. Nichts kam der stillen Wehmut gleich, mit der er von seinem Sitze auf die gewürfelten Mauern unter ihm herabsah, die in einer Flucht von stürzenden Linien zur Erde zu sinken und das Andenken an alle diese Hunderte von Toten mit sich hinabzureißen schienen, als gäbe selbst dieser unverwüstliche Bau keine Ewigkeit des Gedächtnisses. Auch dies stand in dem Buche vom Turm: wer alle die Toten waren, um derentwillen man die Quadern des Turmes weiß getüncht hatte. Mit allen ihren Namen, Würden und Verdiensten standen sie hier verzeichnet; und hinter jedem von ihnen sagte ein kleines schwarzes Kreuz dasselbe, das Wort vom gemeinsamen Schicksal aller, so daß es war, als lese man eine Liste ab, eine Litanei, auf die mit eintöniger Stimme immer das gleiche geantwortet werde. Dann stand eine Zahl daneben, und die zeigte an, welche Quader dem Toten gehörte. So genau wußte Heinrich Palingenius in diesem Verzeichnis Bescheid, daß er, aus dem Schlaf aufgeweckt, zu jeder Zahl sofort den dazugehörigen Namen, zu jedem Namen augenblicks seine Zahl genannt hätte.
Aber neben dem Turm gab es noch eines, das ihn erfüllte. Heinrich Palingenius war ein Genie der Mechanik. Seinem Vater hatte er an langen Winterabenden tausend Kunstgriffe und Geschicklichkeiten abgelernt, zu denen er eigene Erfahrungen und Verbesserungen fügte, so daß er jetzt darin die Meisterschaft erreicht hatte. Wenn der Vater noch bloß zur Unterhaltung, zum Vertreib müßiger Stunden harmlose Spielereien angefertigt hatte, so waren die kleinen Kunstwerke des Sohnes fast niemals ohne tieferen Sinn. Hier saß er, oben, hoch über der Stadt und hatte schon dreizehn Jahre die durch ein schwarzes Kreuz bezeichnete Grenze seines Reiches nicht überschritten. Aber seine mechanischen Figuren, die geheimnisvollen Maschinen, die Kästchen, die mit Walzen, Rädern, Spulen und Triebfedern erfüllt waren, hatten Beziehung auf die Bedürfnisse der Menschen da unten, auf ihre Wünsche und ihre Bestrebungen. Manchmal erfuhr Palingenius durch seine Tochter oder die alte Johanna, die ihn mit der Welt verbanden, von neuen Erfindungen, durch die man wieder einmal verblüfft war. Das waren Augenblicke des Triumphes. Nie war der Türmer glücklicher, als wenn er, nachdem er schmunzelnd den Bericht bis zu Ende gehört hatte, aus seinen Schätzen ein Modell hervorholen konnte, um daran nachzuweisen, daß er diese Erfindung schon vorher gemacht hatte. Ihm offenbarte sich die geheime Kette der Assoziationen, in denen die Erfindungen vorwärts schreiten, und er vermochte, als sei ihm der Gang der Entwicklung klar aufgedeckt, vorherzusagen, was nun an der Reihe sei, erfunden zu werden. Das Zimmer neben dem Wohnraum war Werkstatt und Museum. Im beschränkten Raum lagen die Maschinen und Modelle in den Ecken übereinander, die feineren Kunstwerke waren in Glasschränken aufbewahrt, von der Decke hingen die seltsamsten Dinge herab, und wenn die Spitze des Turmes im Gewitter bebte, dann schwankten die hängenden Maschinen und schlugen gegeneinander, daß Holz und Eisen klapperten. Für die elektrischen Batterien hatte Palingenius Nischen in den Wänden angebracht, und ein höchst sinnreiches System von Schachtelungen erlaubte ihm in diesem Zimmer dreimal so viel unterzubringen, als eigentlich darin hätte Platz finden können. Nachdem Palingenius einmal die Triumphe seines Prophetentums in Angelegenheiten der Mechanik gekostet hatte, trieb ihn der Ehrgeiz immer weiter. Nun arbeitete er schon seit Jahren an der Flugmaschine. Er war entschlossen, sie früher zu erfinden als die Menschen da unten, und oft genug stand er, wenn er schon einen ganzen Tag in seiner Werkstatt gearbeitet hatte, auch nachts auf, um eine Idee des Traumes aufzuzeichnen. Der Traum vom Fliegen, das seltene Glück anderer Menschen, war bei ihm das Ereignis fast einer jeden Nacht. Immer erwachte er durch einen Sturz, aber er beeilte sich, rasch festzuhalten, was er an neuen Eindrücken aus diesem Traum gewonnen hatte. Und er übertrug die Erfahrungen seiner Träume in die Wirklichkeit, so daß in der Werkstatt langsam eine Art Vogel entstand, ein Gestell mit Flügeln, Rädern und Schrauben, das umso komplizierter wurde, je länger Palingenius daran arbeitete.
In diesem von Sagen durchwisperten Turm, inmitten der sinnreichen und absonderlichen Spielereien des Großvaters und des Vaters wuchs Regina auf. Sie gewöhnte sich daran, die Welt aus der Perspektive großer Höhen zu betrachten, und nahm gleich dem Vater den Aufenthalt unten nur als eine Unterbrechung ihres Daseins auf dem Turme hin. Als wäre sie in die ungewohnte Atmosphäre eines fremden Sternes versetzt, atmete sie unten schwerer, wie unter einem Druck, und folgte gern der alten Johanna, die gleichfalls nichts sehnlicher wünschte, als rasch wieder zum Horst aufzusteigen. Nur ungern besorgten die beiden die notwendigen Gänge. Wenn die alte Johanna sich anschickte hinabzusteigen, betrachtete sie ihr Stelzbein mit wehmütigen Blicken, als wäre es der Gefahr ausgesetzt, zu brechen. Und wenn sie dann wieder zurückgekehrt waren, dann saß sie in ihrem weichgepolsterten Sessel und rieb das hölzerne Bein mit einer Miene, als müsse sie es für eine besondere Leistung belohnen. Nachdem Regina in ihrem siebenten Jahr die Mutter – eine stille, immer kränkliche Frau, deren Herz den Aufenthalt in dieser Höhe nicht vertrug – verloren hatte, waren der Vater und die alte Johanna fast ihr einziger Umgang. Ab und zu kamen Fremde. Da mußte Regina die Glocken zeigen, die Feuermeldeapparate erklären und das Uhrwerk öffnen, wobei sie es nie versäumte, schauernd die Sage vom pflichtvergessenen Türmer zu erwähnen. Dann führte sie die Fremden auf die Galerie, die sich um den Turm zog, und wies auf die Stadt und das Land hin, die dort unten einen Teppich mit reichster Ornamentik webten. Wenn dann aber die Besucher nach der Wohnung des Türmers fragten, so mußte ihnen Regina auf Befehl des Vaters den Eintritt verwehren.
Heinrich Palingenius hielt sich – mit einer Ausnahme – die Menschen fern. Diese Ausnahme war sein Freund Eleagabal Kuperus, der Mann, der schon seines Vaters Freund gewesen war. Manchmal verließ Eleagabal das alte Haus mit dem schiefen Giebel auf dem faltigen, braunen Gesicht, stieg zu dem Türmer hinauf und war dem Einsiedler immer herzlich willkommen.
Als er an diesem kalten, nassen Herbstabend in das Wohnzimmer des Freundes trat, fand er die Menschen dieses kleinen Reiches um das große Buch vom Turm versammelt. Auf dem Tisch stand eine helle Lampe, deren Schirm aus beweglichen, durchscheinenden Bildern bestand, die in reicher Mannigfaltigkeit zu den schweren, gebräunten Worten des Buches paßten, indem sie Ansichten alter Städte, Trachten vergangener Zeiten, das ganze bunte Leben vorführten, wie es sich auf alten Holzschnitten findet.
Eleagabal Kuperus hing seinen Mantel, der auf dem kurzen Weg über den Domplatz tüchtig naß geworden war, in die Ecke und folgte der Einladung des Freundes, einen Stuhl zum Tisch zu rücken. Heinrich Palingenius aber fuhr fort: »Aus diesem Jahre 1423 aber ist noch eine andere Geschichte zu berichten, nämlich wie die große Glocke Susanna mit Blut getauft ward. Sie ist vom Chronisten ausgezeichnet als Warnung für alle ungetreuen Verweser, und damit man ersehe, wie scharf das Gericht mit denen ins Werk ging, die sich am gemeinen Wesen versündigten. Damals war Bürgermeister Andreas Guggenreuter, ein überaus stolzer Mann aus dem vornehmsten Geschlecht, der kühn und unerschrocken genug, aber auch unbedacht und leichtsinnig war. So tapfer er in der Schlacht war und so mutig er die Gerechtsame der Stadt gegen die Übergriffe des Markgrafen verteidigte, so viel Verwirrung und Zwietracht brachte er durch sein barsches, hochfahrendes und unbändiges Wesen in die Gemeinde. Anstatt daß er den Widerstreit der Zünfte gegen die Geschlechter durch kluge Worte, durch Geduld, Langmut und Nachgiebigkeit besänftigt hätte, verschärfte er ihn noch durch allerlei spitze Reden und durch seine unbändige Hoffart, die, wenn sie den Zünften zu Ohren kam, hellen Zorn entfachte. Aber auch bei den Geschlechtern war er unbeliebt, denn er stellte seine Abkunft über die aller anderen, und man sprach davon, daß er damit umgehe, die Würde des Bürgermeisters seiner Familie auf ewige Zeiten zu verbinden. Dazu war er noch, bei aller sonstigen Tüchtigkeit, vom hellen Teufel des Spieles besessen. Kein Einsatz schreckte ihn ab, und wenn er noch so hoch war, das Spiel aufzunehmen, und zumeist glückte ihm sein Wagnis, so daß er in seiner Verblendung sich immer Mehreres und Unsinnigeres vermaß. Das Sprichwort »Wer wagt, gewinnt« führte er allewege im Munde und nie noch hatte sich dieses Wort so bewährt wie bei dem Bürgermeister Andreas Guggenreuter. Unfromm, wie er war, ritt er oft während hoher Feste über Land, während die Bürgerschaft im Dome Gottes Wort zu vernehmen sich drängte, kehrte bei den befreundeten Rittern im Umkreis ein, zog von Burg zu Burg, schüttelte überall den Würfelbecher und gewann, ja verschmähte es nicht in Schenken zu verweilen, wo wenig gutes Volk verkehrt, wenn er nur gewiß war, dort Genossen und Freunde des Würfelns zu finden. Und als ihm einmal einer seiner eigenen Sippe dieses Treiben vorhielt, entgegnete er ihm lachend: »So ist es doch gut, daß die Bürgerschaft mit Gott derweilen in der Kirchen ist, weil der Teufel doch um so freier kann draußen sich herumtreiben und beim Spiel seine Pratzen mit drinnen haben.« Am Fronleichnamstag dieses Jahres 1423, während des die Bürger ihre besten Kleider anlegten, um in den Dom zu gehen, ließ der Bürgermeister sein braunes Roß satteln und ritt durch das Jüdentor hinaus, um seine Freunde aufzusuchen und nach einem herzhaften Spiel zu fragen. Indem er so über den Kreuzweg ritt, kam ihm ein anderer Reitender entgegen, der kam aus dem dicksten Walde zwischen Büschen und Bäumen hervor, als sei dort gebahnter Weg, und saß auf einem schwarzen Roß, so groß und schwer wie Andreas Guggenreuter sein Lebtag noch keines gesehen. »Holla!« rief ihm der Fremde entgegen und fragte ihn, wohin sein Weg gehe. Auf die Antwort des Bürgermeisters, daß er Gefährten zum Spiel suche, gab ihm der Fremde trefflichen Bescheid, daß hier ganz in der Nähe eine Schenke zu finden sei, wo sich die lustigsten Kumpane zusammenfänden, die fröhlichsten Vögel des ganzen Landes, denen es auf einen Schluck und einen Würfelsturz nicht ankomme. Der Bürgermeister, dem schon der Spielteufel im Nacken saß, war es zufrieden, so lustige Kameradschaft zu finden, und folgte dem Fremden, der ihm nach einigem Kreuz und Quer, Auf und Ab vor die Schenke brachte. Da saßen schon einige Zechbrüder, hatten rote Köpfe und klapperten mit den Würfeln, indem sie mit der freien Faust auf den Tisch schlugen. Dem Guggenreuter war dieses Lärmen willkommener als Chorgesang und Litanei. Flugs saß er mitten unter ihnen, schwang den Schluck-auf und schüttelte den Becher, daß die Würfel ganz hell klapperten. »Seht den Ritter Ohnefurcht,« schrie der Haufen, und einer, ein Großer, Breiter mit einem einzigen Auge rief ihm entgegen: »Wagt Er's am Ende gegen mich?« »Zwar bin ich kein Ritter,« sagte der Bürgermeister, »bin nur ein Bürger, der Oberste unter den Bürgern der Stadt, aber ich bin grad so gut ein Ohnefurcht wie nur irgendein Ritter und daß ich's gegen jeden wage, will ich Ihm nun erst recht beweisen.« Damit legte er eine Handvoll Dukaten auf den Tisch und stürzte den Becher um. Der Einäugige machte den höheren Wurf und gewann den Einsatz. Da geriet der Bürgermeister in Zorn und ließ neue Goldstücke funkeln. Aber auch diesmal gewann der Gegner, und so oft auch Guggenreuter das Spiel erneuerte, so oft verlor er seinen Einsatz, gerade als ob ihn heute alles Glück und alle Sicherheit des Gewinnens verlassen hätte. Als er mit seinem Gelde zu Ende war, wollte er mit einem Fluche aus der Schenke weichen, aber hinter ihm saß der Fremde, der ihn hierher gebracht hatte, und flüsterte ihm ein, daß er noch sein Pferd zu wetten habe, so daß der Bürgermeister, immer noch in der Hoffnung, er könne alles zurückgewinnen, noch einen Wurf wagte. Er verlor auch sein Pferd und Stück für Stück, da er nicht mehr aufhören konnte zu würfeln, seine reichen Gehänge, die Schaumünzen, den Pelzkragen, das Wams und zuletzt das Hemd vom Leibe. Nun gab er das Spiel verloren und erhob sich, um die Schenke zu verlassen. Aber da drückte ihn der fremde Reiter nieder und sagte: »Ihr seid zu rasch; vielleicht wollte das Glück es bis zum Äußersten kommen lassen. Wagt dieses Äußerste, da Ihr doch ein Ohnefurcht zu sein behauptet, setzt Eure Stadt gegen alles, was Ihr bis jetzt verloren habt, und das Glück wird Euch zurückkehren.« »Ich will mich des wohl unterfangen«, rief der Einäugige, und als sich der Bürgermeister weigerte, setzten sie ihm von allen Seiten mit Lachen und spöttischen Reden so arg zu, bis er, in Angst, man möchte an seinem Mute zweifeln, auf den Tisch schlug und ausrief: »So setz ich die Stadt mit allem was darinnen ist in des Teufels Namen auf diesen Wurf.« Und so gewann denn der Einäugige mit dem Wurf von zwölf Augen die ganze Stadt mit allem was drinnen ist und erhob sich vom Tische: »So komm' ich in drei Tagen um Mitternacht mit meinen Freunden und meinen Knechten und Ihr werdet mir das Tor öffnen, daß ich Besitz von dem ergreife, was mein ist.« Da erfuhr Andreas Guggenreuter, daß er seine Stadt an Jodocus Lipansky, den Strauchritter und Wegelagerer, verwettet und verloren hatte. Und nachdem alles besprochen war, was dem Gewinner dienen konnte, ging der Bürgermeister davon, zu Fuße und allein, denn kaum, daß er die Stadt verloren hatte, war der Fremde, der ihn hingebracht hatte, aus der Schenke verschwunden. Am dritten Tage um Mitternacht ging der Bürgermeister an die kleine Mauerpforte hinter dem Dom, die man zu bewachen nicht für nötig befand, und schob die verrosteten Riegel zurück. Es war aber damals kurz vorher die große Susanna gegossen und im Turme aufgezogen worden und hing nun, mit Kränzen geschmückt und mit Bändern umwunden im Gestühle, denn morgen sollte die Glockenweihe stattfinden. Der Bürgermeister aber, der befürchtete, es könnte ihr lauter Mund die Bürgerschaft vor der Zeit zum Widerstand wecken, schlich mit zwei Spießgesellen in den Turm und hob den Klöppel aus dem ehernen Schlund. Sodann gab er das Zeichen, und die Scharen des Jodocus Lipansky brachen mit Schwertern und brennenden Pechkränzen in die Stadt, fielen die Wachen an und warfen den Brand in die Häuser. Noch schlief ein Teil der Bürgerschaft, und wer erwachte, öffnete die Augen nur, um sie sogleich für immer zu schließen. Indessen unten Mord und Verwirrung tobte, trieb ein schwerer Traum den Türmer von seinem Lager und auf den Umgang hinaus. Da sah er den Fackelschein in den Straßen, hörte das Geschrei des Kampfes und stürzte zum Glockenstrang, an dem er mit aller Mühe zu läuten begann. Schon schwang die schwere Glocke, aber ihr Mund blieb stumm und gab keinen Laut der Warnung. In dieser Bedrängnis fiel der Türmer auf die Knie und rief, da er ein frommer Mann war, einmal über das andere Mal den heiligen Chrysostomus, den Patron der Stadt, und die heilige Susanna, die Patronin der Glocke, an, sie möchten doch die Stadt nicht untergehen lassen und der Glocke die Sprache wiedergeben. Dann faßte er im Vertrauen auf sein Gebet und auf die Macht der Heiligen den Strang und siehe da, die Glocke begann zu läuten, läutete ohne Klöppel so laut und stürmend, daß die Bürger von dem ungewohnten Klang erwachten und in Massen auf die Straße rannten. Da sahen sie den Feind, scharten sich um ihre Viertelshauptleute und griffen die Knechte des Lipansky mit solcher Macht an, daß diese von Furcht erfaßt flohen und ihren Herrn im Stiche ließen. An sechzig Mann wurden vom Schwerte ereilt und der Lipansky und drei seiner Freunde nach hartem Kampf gefangen genommen. Den Bürgermeister, den man unter den Feinden gesehen hatte, fing ein Grobschmied und stellte ihn dem Blutgerichte. Da ward am nächsten Tage die Weihe der neuen Glocke mit Blut begangen. Unten auf dem Platze vor dem Dom ward der Jodocus Lipansky mit dreien Freunden und den zwei Spießgesellen des Bürgermeisters aufs Rad geflochten. Der Bürgermeister selbst aber ward gebunden und, nachdem man das Wunder des heiligen Chrysostomus und der heiligen Susanna nach Gebühr bestaunt und bejubelt hatte, an den Beinen mit dem Kopfe nach unten an Stelle des Klöpppels in die Glocke gehenkt. Und dann läuteten sie mit ihm zum Tedeum, mit dem die Stadt die Befreiung aus der Hand des Feindes gar feierlich beging.«
»Grausame Geschichten wohnen in deinem Turm«, sagte Eleagabal Kuperus, als sein Freund geendet hatte.
Palingenius schloß das Buch und strich mit der Hand über den ledernen Rücken: »Ja, es ist eine grausame Zeit gewesen ... wahrhaftig! Man muß sich wundern, wie erfinderisch die Menschen waren ... wenn es um solche Dinge ging. Aber dennoch ... ich glaube, unsere Zeit ist nicht weniger grausam. Damals, da sammelte es sich in den Menschen an, stieg und stieg, und auf einmal brach es dann aus ihnen hervor ... wie eine Eruption, verstehst du! Da geschah irgend etwas Großes. Man schlug ein paar tausend Menschen tot; oder man quälte sie ... Dazwischen aber lagen ruhige und behagliche Zeiten ... so stelle ich es mir wenigstens vor. Aber jetzt ist die Grausamkeit feiner verteilt. Sie bildet einen Bestandteil der Luft. Sie dringt überall ein. Sie umflutet alle unsere Handlungen; und wir bemerken und beachten sie eben so wenig wie die giftigen Gase, die wir unaufhörlich einatmen. Sie ist dünner und feiner geworden. Aber sie ist in allem, was wir tun.«
»Du wirst diesen Gedanken zu einer Theorie von den Aggregatzuständen der Grausamkeit verarbeiten.«
»Ich habe anderes zu tun. Meine Flugmaschine liegt mir am Herzen.«
»Bist du mit deiner Arbeit zufrieden?«
Heinrich Palingenius begann sofort von den neuen Verbesserungen zu sprechen, die er seiner Erfindung zuwandte. Mit einer unendlichen Liebe schilderte er die kleinsten Fortschritte, verweilte bei Fragen der Mechanik, stieg bis in die allerfeinste Erörterung herab, ließ dann wieder die Gesänge seiner Hoffnungen, seiner unaussprechlichen Sehnsucht nach der Wonne des Fliegens hören. Er wurde zum Rhapsoden einer mühevollen Arbeit. Er führte die Bilder eines heiteren und ganz reinen Glückes vor, das darin bestehen müsse, ein Reich zu erschließen, in dem ungemeine Wunder zu entdecken waren. »Das Selbstverständliche zu finden! Das ist das große Wort. Unter den Bewegungen in den Reichen des Lebens ist das Fliegen die selbstverständlichste. Der schwebende Vogel ist das Ideal der Glückseligkeit. Auf ausgebreiteten Flügeln hoch oben zu ruhen, während die Erde unten bleibt, ist mein Ziel. Und wenn dies erreicht ist, wird aller Kampf, alle Häßlichkeit der Ermüdung schwinden, die Menschen werden gut und groß und tapfer und umsichtig sein. Sie werden den Blick aus großen Höhen gewinnen. Sie werden zu lieben lernen, wenn sie fliegen können.«
»Und wenn deine Arbeit ihr Ziel erreicht hat, wirst du doch deine Erfindung den Menschen vorenthalten; du hast es noch immer so getan.«
»Weil ich nicht Lust habe, das Schicksal aller Entdecker zu teilen. Zuerst werden sie verlacht. Das ist schmerzlich. Dann werden sie gefeiert. In der lärmenden Weise der Welt. Und das ist peinlich.«
»Wie sollen die Menschen aber dann fliegen lernen?«
»Oh, ich weiß gewiß, daß ich meine Erfindung nur zu vollenden brauche, und sie lernen es von einem – andern. Es wird einer aufstehen, der dasselbe gefunden hat und unter Geschrei der Welt übergibt. Die ganze Menschheit ist doch nur ein Individuum. Es gibt ein Fluidum des Erfindens. Das strömt zugleich durch den ganzen Körper der Menschheit. Alle großen Erfindungen beweisen das. Sie werden nicht nur einmal, an einem Orte, sondern fast gleichzeitig an mehreren Orten gemacht. Die Geschichte hat sich nicht genug darüber verwundern können. Und es ist doch weiter nichts Wunderbares daran. Ebensowenig, wie an einem Baum, der von der Idee und der Kraft des Frühlings erfüllt ist und gleichzeitig an vielen Stellen Blüten treibt. Oder – wie mein Freund Eleagabal Kuperus zu sagen pflegt: auch dies ist selbstverständlich und darum ein Wunder. Ich bleibe abseits. Aber ich erlebe diese Wunder um so tiefer. Ich will nur die erste Blüte sein, ich, der alte Mann. Ich will, daß sich die Kräfte des Frühlings zuerst an mir erweisen. Das hoffe ich mit aller Sehnsucht, mit aller Erwartung der Knospe. Wenn ich dann mein Ziel erreicht habe, so weiß ich, daß es zugleich auch für die Menschheit erreicht ist. Das Fluidum muß dann auch an anderen Stellen wirksam werden. Ich glaube, du wirst mich verstehen, Eleagabal. Du selbst hältst ja die Welt von dir ab.«
»Du kennst meine Gründe dafür!«
»Ich kenne sie und schweige.«
Während dieses Gespräches war die alte Johanna entschlafen. Sie saß mit zurückgesunkenem Kopf, die Haube war ein wenig verschoben und zeigte ihr kurzgeschorenes, graues Haar, ihr männlich hartes Gesicht mit den vielen Falten lag im Schatten, nur die Kehle war im Lichtschein der Lampe, hochgereckt, steil, von starken Sehnenbändern durchsetzt, zwischen denen von Zeit zu Zeit der Kehlkopf in krampfigen Bewegungen auf- und niederfuhr. Mit ihrem von Bartstoppeln überwucherten Kinn, mit der flachen Brust und den behaarten, knochigen Händen, denen der Strickstrumpf entfallen war, sah sie eher wie ein Mann aus, und Regina hatte als Kind nie so recht glauben wollen, daß Johanna wirklich eine Frau sei. Ihre Bartstoppeln kratzten genau so wie die Stoppeln des Vaters, ihre Stimme war ähnlich tief und rauh. Endlich hatte sie ihren Vater zu verstehen begonnen, der ihr erklärte, daß die Geschlechter sich im Alter näherten und auszugleichen anfingen, genau so wie man im zarten Kindesalter Buben und Mädel schwer unterscheiden könne. Seit die Mutter gestorben war, vertraute Regina der alten Johanna alle ihre Mädchengedanken und liebte sie, wie sie die Tote geliebt hatte. Nun hatte sie ihren Sessel ganz nahe an die Schlafende herangerückt und versuchte den schweren Kopf zu stützen. Dabei verfolgte sie wachen Ohres das Gespräch der Freunde. Ihre Augen glänzten. Die Gedanken des Vaters waren dem Mädchen nicht fremd und unverständlich. Unter einer Fülle von mechanischen Spielwerken aufgewachsen, hatten sich die Interessen des Erfinders auch ihr mitgeteilt und ließen sie ihm folgen. Fern von dem Skeptizismus der großen Welt, von ihren auf das unmittelbar Praktische, auf das Nützliche des Augenblicks gerichteten Ansichten, fehlten ihr alle Hemmungen und Beschränkungen durch den Wirklichkeitssinn. Absonderliche Hypothesen und verwegene Pläne hatten nichts Lächerliches für sie, und ebenso wie ihr die Geschichten der Chroniken zu wirklichen Ereignissen geworden waren, ebenso lernte sie in ihrer phantastischen Umgebung das unmöglich Scheinende als feste Brücken in die Zukunft anzusehen.
Die Lampe, zu der Palingenius nicht die dem Turme zugeleitete elektrische Kraft, sondern irgendein selbstbereitetes leuchtendes Gas benutzte, stieß rasch nacheinander eine Reihe von blaffenden Seufzern aus, worauf der Türmer mit einigen Handgriffen ihr Leben verlängerte. Dann war es wieder stille, und die schweren Erschütterungen, mit denen die Uhr die zehnte Stunde anzeigte, schienen den Fußboden des Zimmers aufzuheben. Mit kräftigen Stößen dröhnten die Stunden empor und übertrugen ihren lärmenden Ruf auf die stille Stube des Türmers, daß die Bilder an der Wand zu klirren, daß die kleinen Maschinen, die mechanischen Spielwerke, die rings auf allen Schränken standen, zu klappern begannen. Die Welle schien sich durch den ganzen Körper bis in den Kopf fortzupflanzen, und als der letzte Schlag geschehen war stürzte die Stille in den von dem Lärm geschaffenen leeren Raum wie die Luft hinter rasch bewegten Gegenständen einherfegt.
Heinrich Palingenius nahm seinen Gummimantel vom Haken und ging auf die Galerie hinaus.
»Und du fürchtest dich niemals,« fragte der Freund, indem er Reginas Hand nahm; »du fürchtest dich nicht, wenn der Vater draußen ist und die alte Johanna schläft.«
»Wovor soll ich mich fürchten?«
»Du hörst da so blutige Geschichten, Mord und Brand aus allen Jahrhunderten, und es ist, als ob die gräßlichsten Geschehnisse der ganzen Stadt gerade mit diesem Turm verknüpft wären.«
»Als Kind habe ich oft Nächte gehabt, in denen ich vor Angst nicht schlafen konnte. Aber der Vater hat gesagt, wir müssen uns daran gewöhnen, mit den Gespenstern der Vergangenheit zusammen zu leben. Ich habe mich daran gewöhnt. Und es ist mir von der Angst nicht viel geblieben. Nur ein leichter Schauer, und der ist gar nicht so schrecklich. Ich glaube, ich könnte in einem neuen Haus nicht einmal leben. Ein neues Haus ist kahl und leer. Nur ein Haufen Steine. Es ist noch nichts da ... noch nichts drinnen. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Man riecht noch überall die Arbeit; man denkt noch immer daran, daß die Ziegel übereinander gelegt und mit Mörtel beworfen worden sind. Es ist alles möglich. Es ist gar nichts Überflüssiges da. Vor zwei Jahren haben sie den Turm renoviert, wir waren alle ein paar Wochen ganz unglücklich. Bis das Alte über das Neue gesiegt hatte.«
»Ich höre dich gerne sprechen. Du sprichst ganz anders als die Mädchen von zwanzig Jahren da unten. Komm doch wieder einmal zu mir. Mein Haus, mein altes Haus wird dich gerne sehen.«
»Ich werde kommen.«
Die alte Johanna erwachte mit einem schweren Atemzug und einem Glucksen in der Kehle, als der Türmer von seinem Rundgang zurückkam und den tropfenden Gummimantel wieder an seinen Platz hing.
»Schlafen gehen, Schlafen gehen«, sagte er und trieb die Frauen in die kleine Nebenkammer, wo die Betten bereitet waren. Regina reichte Kuperus die Hand und wiederholte ihr Versprechen, dann folgte sie der alten Johanna, die mit wackelndem Kopf und wankenden Knien vorangegangen war. Mit der linken Hand hob der Türmer den herabhängenden Bart über die Lippen und sagte leise: »Johann wird schwach und kindisch. Das Stiegensteigen ist ihm eine Last geworden und er behauptet, Schmerzen in dem fehlenden Fuß zu haben. Früher saß er mit mir oft bis Mitternacht und länger, erzählte Geschichten und freute sich, über die Leute da unten lachen zu können. Jetzt macht ihm nicht einmal mehr das Vergnügen.«
Als die Geräusche in der Nebenkammer verstummten, wölbte sich die Einsamkeit wie eine große, klingende Glocke aus Glas über die Freunde. Gleichsam losgelöst von der Erde, ohne Zusammenhang mit der Welt unterhalb des Turmes schwebten sie im Raum. Nur das Knacken der alten Stiege, das laute, gleichmäßige Schlagen der Uhr gesellte sich ihren Gesprächen, lauter Geräusche, an die sie allzusehr gewöhnt waren, um sie überhaupt zu hören. Vom alten Johann ging das Gespräch, der unter dem Namen Johanna, in den Kleidern einer Frau seit Jahrzehnten im Turm wohnte, die Wirtschaft besorgte und der Regina nach dem Tode der Mutter alle Zärtlichkeit, die tausend Liebesdienste, die erleuchtenden Wunder einer besorgten Frau erwiesen hatte. Jetzt brach er langsam in sich zusammen, vor einigen Tagen fand ihn Palingenius vor einem Sessel knien, auf dem einige Papiere lagen, die er mit sinnlosen Worten bedeckte. Auf die Frage, was er hier treibe, entgegnete er, daß er seine Erlebnisse niederzuschreiben gedenke. Und dann fügte er hinzu, indem er vor sich hinlachte: es sei wenig Sinn in seinem Leben. Er schreibe deshalb alle Worte auf, die es gebe, und werde dann erst aus ihnen die passenden aussuchen. Auf diese Weise hoffte er doch zum Ziele zu kommen. Ein anderes Mal wieder hatte er sich in die Werkstatt des Türmers geschlichen und dort eines der Gestelle mit Frauenröcken, Jacken und einer Haube herausgeputzt. Dies sei, erklärte er, seine Vergangenheit, und da er nun bemüht sei, die vergangenen Jahre seines Lebens unparteiisch zu betrachten, müsse er sie von sich entfernen, um sie besser sehen zu können. Dabei neigte er den Kopf auf die Seite und rief seinem Abbild bald Schimpfworte, bald Kosenamen zu.
»Nur eines scheint ihn noch aufrecht zu halten,« fuhr Palingenius fort, »der Haß gegen den, der ihn zum Krüppel gemacht hat. Er hofft noch immer, sich rächen zu können. Wenn er darauf zu sprechen kommt, richtet er sich auf und sein Holzfuß klappert wie früher rasch und kräftig durch das Zimmer.«
Die Freunde hatten die Wohnstube verlassen und waren in die Werkstatt des Türmers getreten, wo die Flugmaschine wie das Gerippe eines Vogels auf dem Boden lag. Mit dem weißen Gestänge, dem matten Glanz der Aluminiumbestandteile und dem gespreizten Gerüst der Flügel glich sie dem Skelett eines urweltlichen Tieres, dessen Gestalt uns keine Erinnerung bewahren konnte. Zwischen der Steuerung des Apparates stehend, sagte Eleagabal Kuperus, indem er eine der Schrauben prüfte: »Und dabei wird Bezug immer mächtiger und reicht mit seinen Klauen überallhin.«
Heinrich Palingenius ließ eine Hemmung los, daß sich eine Kurbel rasend zu drehen begann: »Er soll nur auch hierher reichen wollen, wenn das einmal fertig ist.«
»Er wird sich bald nach dir in die Luft erheben, wenn irgendwo einer aufsteht, der gleich dir das Fliegen erfunden hat.«
»Da wünsche ich fast, daß mir das nicht gelingt.«
»Und würdest dennoch rastlos danach streben.«
Von irgendeinem Antrieb bewegt, begannen die Gerüste der Flügel, die zum Teil schon mit einem grauen Stoff bespannt waren, sich zu rühren, erhoben sich ein wenig vom Boden, als gewännen sie Leben und wären ungeduldig, den Meister, der da zwischen ihnen stand, zu einem ersten Flug in die Luft zu reißen. Das ganze Skelett des Vogels zitterte, und in rasenden Umdrehungen vervielfältigte sich eine Kurbel ganz in der Nähe von Palingenius' Hand zu einer flirrenden, sirrenden Scheibe. Es sah aus, als werde hier sichtbar, wie ein geheimes Fluidum von dieser Hand ströme. In einer Ecke stand eine Negerin aus einem schwarzen Stein, die in ihrem rechten Auge die Stunden, in ihrem linken die Minuten anzeigte. Während das rechte Auge unbeweglich auf die Flugmaschine starrte, zitterte das linke unaufhörlich von dem Aufspringen neuer Ziffern, als zwinkere es in einer nervösen Unruhe dem Meister zu. Von fünf zu fünf Minuten hob sie die Hand und winkte einen Gruß, die Viertelstunden zeigte sie durch Kreuzen der Arme und Neigen des Hauptes an, und wenn in ihrem rechten Auge die Ziffer einer vollendeten Stunde aufsprang, stampfte sie mit den Beinen, daß die Schellen an ihren Fußgelenken klingelten, drehte sich im Kreise und vollführte einen Tanz, als freue sie sich nach der Art brutaler Menschen darüber, daß ein Übel, von dem alle betroffen werden, ihr allein nichts anhaben könne: die Zeit. Eleagabal Kuperus liebte diese Negerin. Mit dem Arm um ihren schwarzen Hals sah er den ersten Lebensregungen des Flugapparates zu. Über seinem Haupte kreiste ein Planetensystem aus vielen Bällen, die, in Größe, Färbung und Bewegung verschieden, die Wunder des Weltalls gleichsam wie in einer leichter faßlichen Abkürzung, in einer menschlichem Vermögen angepaßteren Zeichenschrift darstellten.
Von allen diesen Gegenständen, von den fertigen und unfertigen Maschinen, von den feinen mechanischen Apparaten und dem robusten Skelett des Vogels, von den Werkzeugen und den noch unverwendeten Bestandteilen ging eine eigene Art von Leben aus, eine stumme und nur hier in der Höhe des Turmes verständliche Sprache, die den beiden Freunden vertraut war.
»Es wird bald notwendig sein, sich gegen Bezug zu rüsten«, sagte Eleagabal Kuperus, und seine Finger glitten über den kühlen schwarzen Stein, dort wo er von den Achseln der Negerin in sanften Flächen gegen ihre stolzen Brüste strebte. »Schon wird die Gefahr immer drohender. Es ist kein Zweifel, daß er mit allem Ernst daran geht, die Erde zu seinem Thron zu machen, sich zum Götzen der Menschheit zu erheben, seiner Eitelkeit und seinem Haß das Opfer einer Welt darzubringen. Einer hat sich gefunden, der seinen Plänen fehlte. Nun geht Bezug damit um, die bisher allem Lebenden gemeinsame Luft zu seinem Eigentum zu machen und durch dieses Mittel zum Herrn der Erde zu werden. Seine Erfolge sind befriedigend für ihn. Er selbst, der einem Ideal nachstrebt, haßt alles, was noch dem Idealen nachhängt. Er lacht über die Schönheit, die Kunst soll nichts anderes zu tun haben, als seine Erhabenheit zu verkünden. Unfruchtbarkeit und Segen soll seine Hand allein zu spenden haben, während er die wunderbarsten Werke aller Meister und aller Zeiten um sich aufspeichert, haßt er sie glühend; denn sie ziehen die Menschen von dem ab, was er ihren Gedanken allein noch übrig lassen will, von der Verehrung seiner Macht. Nun hat er einen Dichter gewonnen und sich für Leben und Tod verpflichtet. Indem er ihn erniedrigt, erniedrigt er den Geist, tritt die kostbarsten Güter der Menschen mit Füßen. Er reißt ihn aus der Not des Alltags empor, umgibt ihn mit Gold, umspinnt ihn mit seinen Kräften und stellt ihn dann an den Pranger. Seine Seele ist ganz erfüllt von einem glühenden Zorn, von dem Wunsch, alles Glänzende zu vernichten, alles Wunderbare auszulöschen. Da er nur hassen kann, ist ihm nichts fremder als unser Spruch: ›Glaube dem Wunder.‹ Er verpflichtet sich die Wissenschaft und zwingt sie in seine Dienste. Sie soll die Welt atomisieren und auf ihren Altären nur einer einzigen Göttin opfern: der Analyse. Wenn ihm seine Pläne gelingen, wird er der Welt alle Spekulation verbieten, er wird die Philosophen, die tiefen Träumer uralter Sehnsüchte, in Zwangsjacken stecken, er wird die unverbesserlichen Bildner der Schönheit an Felsen schmieden und ihre Eingeweide den Adlern preisgeben, nur eine einzige Ungleichheit wird er ferner dulden, die zwischen ihm, dem Herrn, und zwischen allen andern, den Knechten.«
Die Negerin entglitt den Liebkosungen ihres Freundes und tanzte mit bimmelnden Schellen die zwölfte Stunde. Sie tanzte in den neuen Tag hinein, während über ihrem Haupte die Planeten unermüdlich weiterkreisten.
Zornig drehte Palingenius an den Schrauben seines Vogels, daß die Flügel klappten und das ganze Gerüst auf dem Boden des Zimmers hinzukriechen schien.
»Und die Menschen,« sagte er, »die Menschen, werden die ihn nicht daran zu hindern suchen?«
»Die Menschen sind blind wie immer. Sie werden erwachen, wenn es zu spät ist, und werden zornig gegen ihre Fesseln toben, um zu fühlen, daß sie fest und unzerreißbar sind. Ich habe eine stille Hoffnung: die Natur ist so groß, daß es mir unmöglich scheinen will, ihre Grenzen zu finden, alle ihre Bedingungen zu beherrschen. Aber wir müssen immerhin bereit sein, wenn die Stunde da ist.«
»Du weißt, ich bin kein Kämpfer und kein Prophet.«
»Und mein Schicksal ist es, nur dann wirken zu dürfen, wenn ich gerufen werde.«
»Wir brauchen einen Erwecker, einen Aufrüttler.«
»Wir können nur hoffen, daß er sich finde. Er muß aus dem Verlangen, aus den Träumen, aus dem Unbewußten der Menschheit geboren werden. Es ist nötig, daß er da sei, wie ein Wunder.«
Vor den Füßen der Freunde, die auf die Galerie des Turmes hinausgetreten waren, lag die Nacht. Ganz tief und dunkel schlief die Stadt. Palingenius begann seinen Umgang mit den sorgsamen Blicken des Wächters und Kuperus begleitete ihn dabei, von einem warmen Mitleid und von einer sehnsüchtigen Liebe zu den törichten Schläfern erfüllt. Wie zu einem Versprechen gaben sich die beiden ihre Hände, hinter ihnen in den Mauern schlug das Uhrwerk, und jeder Schlag schnitt ein Stück von der Zeit ab. –