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Bei armen Leuten. Emma Rößler schließt einen Bund

An einem hoffnungslosen Spätherbsttage, einem jener Tage, die freudlos aus einem dunstigen Osten gekrochen kommen, über einen fahlen Himmel wanken und vorzeitig unter Schauern unerklärlicher Angst versinken, wurde sich Emma Rößler darüber klar, daß ihr Leben diesem Tage gleiche und daß nichts weiter zu tun sei, als gleich ihm der Nacht zuzustreben. Sie lehnte an dem Geländer der kleinen Brücke, unter der zwischen den Lachen des armseligen Baches Topfscherben, verrostete Blechgefäße, Reste von Kleidungsstücken, ein Haufen von unnützen und abgebrauchten Gegenständen halb im Schlamm vergraben lag. Das war lächerlich und traurig zugleich. Es war, als sähe man hier mitten in dem von vornehmen Häusern umgebenen Park jene sonst so sorgfältig verborgen gehaltenen Heimlichkeiten der großen Welt, ihre Unzulänglichkeiten, die Absonderungen glanzvoller Haushalte offen vor aller Augen. Noch hatten die Herbstregen nicht eingesetzt und die Scherben unter dem undurchsichtigen Schlammwasser verborgen, das von den Bergen herabkam, das Bett des Baches bis zum Rand füllte und gurgelnd in dem unterirdischen Abzugskanal verschwand, in dem der Bach unter den vornehmen Häusern des neuen Stadtteiles weitergeleitet wurde. Aber schon zogen die trostlosen Schleier immer dichter über die Stadt, und der Wind kam aufgeregt über den Kamm des Hexensteines her. Er fegte die bunten Farben von den Bäumen herab, streute Blätter und kleine Zweige über den Weg und riß einen Teil von ihnen wirbelnd in die Wasserlachen zu den verbogenen Blechtöpfen und den Glasscherben.

Zwischen kahlen Gebüschen fegten einige Arbeiterinnen das trockene Laub zusammen. Sie bemühten sich nicht sehr, denn der Aufseher war an einem anderen Ende des Parkes, und es war ohnehin vergeblich, vor dem fauchenden Wind Ordnung zu erhalten. Als aber Emma einen der raschelnden Blätterhaufen achtlos mit dem Fuß zertrat, folgte ihr das lärmende Schimpfen der Weiber.

»Können S' nicht aufpassen, Sie Schlampen.«

»So eine Baroneß!«

»Für die Leut' sollt' ma alles doppelt moch'n.«

Vor dem großen Springbrunnen, dessen Tritonengruppe mit Brettern gegen den Schnee geschützt wurde, blieb Emma stehen und sah den Arbeitern zu, bis diese das Werkzeug zusammenlegten, ihre Röcke anzogen und heimgingen.

Emma verzögerte ihre Heimkehr, ging langsam durch den Park, dessen Bäume und Sträucher mit dem einbrechenden Dunkel zu Mauern verwuchsen, hinter denen ein Rascheln und Huschen tagscheuer Geister war. Sie ging so lange in dem schläfrigen Park umher, bis links und rechts alles versunken war und nur ein kleines Stückchen Weges vor ihren Füßen von einer aus den beleuchteten Straßen aufquellenden Helle sichtbar gemacht wurde. Dann, als ein leises Geriesel den endlosen Herbstregen einzuleiten begann, trug sie ihre schmerzlichen Gedanken nach Hause. Aus dem Turmzimmer Bezugs kam ein kalter, glatter Strahl in den Nebel, glatt wie ein poliertes Metall und spitz wie ein Speer und senkte sich in den Leib des Parkes, daß die Bäume zitternd und aufgeregt um die glühende Wunde rauschten. Emma vermied seine grausame Bahn, wich dem Palast ihres Feindes aus, als könne noch mehr Unglück bei der Annäherung an seine Sphäre entstehen. Sie zitterte, als ihr nun bewußt wurde, daß sie fast den größten Teil des Nachmittags in dieser gefährlichen Nähe zugebracht hatte. Erst als sie die roten Vorhänge von Frau Fodermayrs Fenstern sah, kam das Gefühl von Rettung und Sicherheit. Ringsum streckten sich die Häuser zu kahlen, steilen Hofwänden auf und sahen mit kleinen Fenstern in den Hof, wo das Gerümpel in der Dunkelheit zu wilden Abenteuern umgeschaffen wurde. Tastend ging Emma auf den roten Schimmer zu. Als sie vor der unsichtbaren Türe stand und mit vorgestreckten Händen suchend über die feuchten Mauern fuhr, hörte sie die Stimme von Frau Fodermayrs Mann.

»Das ist alles recht schön; aber bitte, sag' mir, wie lange soll das dauern. Ich kann kein Ende absehen. Das ist nun schon drei Monate her. Und es hat sich nichts verändert. Wir werden Schulden machen müssen, wir werden ein Stück nach dem anderen verkaufen und versetzen. Wir werden uns zugrund' richten. Für zwei reicht's gerade aus, für drei ist's zu wenig.«

Frau Fodermayrs Antwort war von dem Geklapper von Tellern und Gläsern begleitet: »Red' nicht so daher. Damals war es dir recht, wie ich jeden zweiten, dritten Tag irgend etwas mitgebracht hab. Wenn wir Kinder hätten, so müßten wir auch auskommen. Was willst du sagen? Was weißt du vom Leben? Andere Leute haben sechs, sieben Kinder und müssen auskommen. Willst du die arme Frau auf die Gasse hinauswerfen?«

»Aber das kann doch nicht so bleiben.«

»Es wird ihr schon wieder besser gehen. Und vielleicht wirst du dann froh sein, daß wir sie bei uns gelassen haben.«

Eine schluchzende, einförmige Melodie, die über die Dächer herabzusinken schien, die sich mit der Dunkelheit des Hofes vermischte und alle Winkel ausfüllte, ein beängstigendes Summen, jene Melodie, die Emma zum erstenmal aus dem steinernen Gewölbe des Domes aufsteigen hörte und die sie seitdem niemals verlassen hatte, wurde deutlicher. Alle Qual des einsamen und der zärtlichen Liebe beraubten Lebens spann sich zu einer Litanei aus, deren Absätze wie die Glieder einer Kette zusammenhingen und mit der Schwere eiserner Fesseln den Nacken der Frau belasteten. Das Dunkel ringsum war mit einem Male noch feindlicher und grausamer, von Gefahren belebt, die sich mit scheußlichen Häuptern nach ihr reckten. Irgendeine Kraft schien sie von dem roten Schimmer der Rettung wegzureißen, zog sie an, so daß Emma außer sich vor Angst hastig nach der Türe suchte und, sie mit plötzlichem Ruck aufreißend, in das Zimmer trat.

»Guten Abend«, sagte sie. Sie war blaß, als ob ihr etwas Schreckliches begegnet wäre. Nur noch diese Nacht, nur noch diese Nacht unter einem schützenden Dach. Mit verlegener Freundlichkeit erwiderte Frau Fodermayr den Gruß und fuhr fort den Tisch zu decken. Aus seiner Ecke, wo er den schadhaft gewordenen Goldrahmen einer alten Photographie mit Bronzefarbe bestrich, brummte auch der Mann eine widerspenstige Entgegnung. Emma sah sich in dem kleinen Zimmer um, das nun schon seit drei Monaten ihr Heim war, und legte schweigend den Hut ab.

»Sie sind ganz naß geworden,« fragte Frau Fodermayr; »regnet es draußen?«

»Es regnet ein wenig.« Nun merkte Emma erst, wie naß ihre Kleider waren, und näherte sich zitternd dem Ofen, in dem ein kleines, behagliches Feuer brannte. Mit leisen Fingern strich sie über eine der Kacheln, auf der in blauer Farbe mit rohen Figuren die Opferung Isaaks dargestellt war, liebkoste eine andere, auf der die Arche Noah mit allerlei seltsamem Getier angefüllt wurde, und ließ aus einem der kleinen Vierecke, wo Abels Opferfeuer zum Himmel stieg, die leichte, belebende Wärme in ihren Körper strömen. Es war, als brenne das Feuer, das Gott wohlgefällig war, wirklich und verbreite das freundliche Behagen, das aus alten Geschichten und halb versunkenen Märchen kommt. Vor dem Zischen, mit dem die eiserne Ofenplatte den Gruß der Flammen aufnahm, wich die verfolgende Melodie, die in einsamen Domen eingeschlossene Stimme der hoffnungslosen Trauer zurück.

»Das Nachtmahl ist bereit«, sagte Frau Fodermayr und hob die blecherne Stürze von dem großen Topf, daß der Duft der gekochten Erdäpfel in großen Wolken aufstieg, um die herabgezogene Hängelampe wallte und dann lichter werdend zu der braunen Decke des Zimmers glomm. Der Mann legte seinen Rahmen hin, verkorkte die kleine Farbflasche und schlurfte in Pantoffeln zum Tisch.

»Kommen Sie doch,« drängte die Wirtin, »wir haben Heringe. Die ersten heurigen.« Auf dem kleinen Teller neben der Schüssel, wo jetzt die dampfenden Erdäpfel einen kleinen Berg bildeten, lagen drei silberne Heringe mit offenen Mäulern und stumpfen Augen. Zögernd kam Emma zum Tisch und nahm ihren Anteil. Während Frau Fodermayr ihren Fisch zerlegte und reinigte, suchte sie das unfreundliche Schweigen ihres Mannes durch die Erzählung kleiner Erlebnisse aus Haus und Hof zu verbergen. Sie nahm seine Ungastlichkeit hinter einen Wall unbefangen erscheinender Geschwätzigkeit und berichtete von hundert Nichtigkeiten, die ihr Leben hier zwischen den hohen Mauern reich und geschäftig machten. Emma sah sich gezwungen, ihren Fragen zu antworten, auf die Interessen des winzigen Haushalts einzugehen und den Begebenheiten Aufmerksamkeit zu schenken, die in der Wiedergabe durch Dienstmädchen und Köchinnen seltsame Gesichter angenommen hatten. Was sich draußen zutrug, war, wenn es vom Küchenfenster herab den Freundinnen im Hof erzählt wurde, zu etwas ganz anderem geworden; die Tatsachen waren in ein neues Licht gerückt und unter veränderten Bedingungen gesehen. Emma sah hier gleichsam die andere Seite jener Welt, die sie früher gekannt hatte, und einen Augenblick gelang es den Bemühungen der treuen Frau, ihre Gedanken von dem ermüdenden und hoffnungslosen Weg abzuziehen.

Aber als Frau Fodermayr eine Pause machen mußte, weil eine Gräte sich in ihrem Halse spreizte und durchaus weder vor noch zurück wollte, waren Emmas Gedanken mit einmal wieder auf ihrem alten Weg. Sie fragte, und in dem Ton dieser Frage lag auch zugleich schon die Antwort: »Es ist kein Brief gekommen?«

Ungeduldig legte der Mann die Gabel mit hartem Geklapper auf den Teller und sagte anstatt seiner noch immer mit der Gräte ringenden Frau: »Nein, es ist auch heute kein Brief gekommen. Es wird auch keiner kommen. Niemals.«

Frau Fodermayr hatte sich endlich befreit und sagte vorwurfsvoll: »Anton!«

»Na, was denn, was denn? Es wird niemals ein Brief kommen, solange er nicht will!«

»Der Hund, der elende!« und Frau Fodermayr trank rasch ihren Rest Bier aus, um das Kratzen im Hals loszuwerden.

»Er kann alles, was er will. Gegen ihn sind alle andern zusammen nichts.«

»Die Strafe wird schon nicht ausbleiben.«

»Ja ... ja ... schon gut! Der Teufel wird ihn holen. Aber vorläufig macht er, was er will. Da kommt keiner auf. Er hebt den kleinen Finger, und ein Turm stürzt ein. Wenn er will, so sagt er ein Wort, und ich bin entlassen. Was bin ich? Ein einfacher Vorarbeiter. Ich kann etwas; aber hundert andere können dasselbe. Man soll sich ihm nicht widersetzen.«

»Aber schweig doch. Du hast heut einen borstigen Tag.«

»Ach was! Weil man sich schon überall davon erzählt. Es kann ihm nicht verborgen bleiben.«

Emma schob den Teller von sich. Sie griff nach der Brosche an ihrem Hals und stach sich in den Finger. Indem sie das Blut in das Taschentuch tröpfeln ließ, sagte sie: »Sie glauben, daß er Sie dafür bestrafen wird, weil Sie mich bei sich aufgenommen haben?«

»Aber gnädige Frau, hören Sie doch nicht auf ihn. Er übertreibt, er ist ein Esel.«

»Hast du nicht in den Zeitungen gelesen, was er da wieder für Gesellschaften zusammenbringt? Er frißt alles auf. Du wirst sehen, was noch daraus wird. Was will er? Er will uns alle klein machen, ganz klein Wenn er bläst, so wirbelt eine ganze Stadt durcheinander, und wenn er ausspuckt, so entsteht eine Überschwemmung. Kann ich ihn aufhalten? Zum Teufel – es ist niederträchtig, aber was soll man tun?«

»Jetzt ist es aber genug, schweig schon einmal. Er kann uns nicht den Kopf abreißen ...« Die Winke der Frau Fodermayr wiesen auf Emma hin, die ganz lautlos aufgestanden war und wie ein Schatten zum Ofen hinglitt. Den Kopf hatte sie abgewandt und strich mit zitternden Fingern wieder über die Arche Noah, die Opferung Isaaks und die Vertreibung aus dem Paradies. Frau Fodermayrs Herz war von Mitleid bis zum Rand angefüllt, und nur mühsam hielt sie die Tränen zurück. Sie, die für alle früher erwiesenen Wohltaten eine warme und dankbare Erinnerung bewahrte, die jedes Besondere Trinkgeld, jedes Stückchen Feiertagsbraten und jede Schnitte Geburtstagsguglhupf sorgfältig gebucht hatte, konnte den Niedergang dieses einst so glücklichen und überreichen Lebens nicht mit ansehen. Ihre Zuneigung, die durch keinerlei andere Aufgaben abgelenkt wurde, hatte sich zu mütterlicher Zärtlichkeit gesteigert, als sie die einstige Herrin schutzbedürftig und aller Mittel beraubt sah. Mit allen Listen, allen weiblichen Künsten, mit allen feinen Kräften des Ingeniums der Gutherzigkeit fesselte sie das Schicksal der armen Frau an ihr Heim und verstand es, das Schlimmste abzuwehren. Darum geriet sie jetzt über den Friedensbruch im Asyl außer sich und funkelte ihren Mann mit den bösen Augen eines Tieres an, das seine Jungen verteidigt.

»Ja, weil's wahr is,« sagte er und wischte den Schnurrbart ab, »ich hab doch lang genug nichts gesagt.«

Halb schluchzend, halb wutentbrannt warnte ihn die Frau: »Anton!«

Aber Anton hatte alle Hemmungen verloren, er raste wie eine seiner Maschinen, wenn die Steuerung bricht: »Der Ferdinand, der Swaton, der Grimm, alle sagen dasselbe: ›wie kannst du dich unterstehen‹. Und recht haben sie: wie können wir uns unterstehen. Auf einmal wird der Krach da sein, was werden wir dann machen? Dann werden wir alle nichts haben: wir nicht und sie nicht.«

Eben als Frau Fodermayrs Zorn über ihre Rührung die Oberhand gewinnen wollte, bemerkte sie, daß Emmas Schultern vor verhaltenem Weinen zuckten, und plötzlich schwamm die kleine Stube in einem feuchten Glanz, die Kanten der Gegenstände zitterten und wurden undeutlich, Decke und Boden neigten sich gegeneinander und schnitten die wankende Wand in schiefen Winkeln, die Lichter und Schatten flossen ineinander über: mit einem tiefen Seufzer, einem sonderbaren Schrei brach Frau Fodermayr in Tränen aus. »Aber, meine liebe gnädige Frau, ich bitt' schön, nicht weinen. Er ist ein Esel, meiner Seel', ein Esel; nicht weinen«, ihre großen roten Hände lagen auf den zuckenden Schultern. »Lassen Sie ihn reden; weinen Sie doch nicht.« In dem Bestreben, ein Wort zu finden, das der Sphäre der weinenden Frau entnommen war, das ihr einen heimatlichen Klang, einen Gruß, einen Hauch des Verständnisses bringen sollte, suchte sie: »Er hat kein ... er hat kein ...«

Anton saß sehr verdonnert auf seinem Platz, sein Redestrom war plötzlich in unterirdischen Klüften verschwunden; die Maschine stand mit einem Ruck still. Er konnte es nicht ertragen, die Weiber weinen zu sehen. Eingeschüchtert griff er nach seinem Glas, trank das Bier aus, wischte den Schnurrbart, machte einen Zug aus der erloschenen Pfeife, stocherte mit dem kleinen Finger in die Asche, klappte den Deckel mit einem Knall wieder zu und griff noch einmal nach dem Glas, obzwar nichts mehr darin war. Hilflos stand er vor der Entwicklung der Szene, die er selbst eingeleitet hatte, trieb auf dem Wirbel seiner eigenen Worte und sehnte sich hinaus. Mit einem Rest von Energie murmelte er: »Na, was denn, was denn? Ich mein' ja nur –« In diesem Augenblick verwünschte er den Ferdinand, den Swaton und den Grimm, deren spitze Reben ihn in dieses Abenteuer gehetzt hatten. »Es ist ja nicht so arg. Ich mein' nur –« Und plötzlich schloß er seine Versuche: »Himmelsakra!«

»Schweig!« schrie die Gattin vom Ofen her.

»Ich will ja nicht die gnädige Frau ... wir wollen sie ja nicht verlassen; ich mein' nur! Na ja! Wenn ich die Arbeit verlier', so ... Man kann sie doch immer unterstützen, auch wenn sie nicht bei uns ...«

Man hörte nicht auf ihn. Frau Fodermayr führte, selbstverständlich halb blind vor Tränen, die schluchzende Emma in die kleine Kammer, wo das Bett des Gastes stand. Nun war der Augenblick zur Flucht gekommen. Aber eben als Anton den Hut aufsetzte und die Pfeife in die Brusttasche steckte, kam die Gattin zurück und fing ihn in das Netz ihrer Vorwürfe.

Noch lange, nachdem sich Emma schon beruhigt hatte, hörte sie nebenan die derben Worte, mit denen Frau Fodermayr die Revolution niederwarf, die Versuche des Widerstandes, die gestammelten Rechtfertigungen des Mannes. Alles dies war unnötig, um ihren Entschluß zu stärken. Kam es ihr zu, eine Häuslichkeit zu stören, in der vor ihrem Eindringen ein genügsames Behagen die Tage begleitet hatte? Sie sah ein, daß die grausame und eintönige Melodie ihres Schicksals herrschend über alles emporstieg und daß ihr Leben von diesem traurigen Summen gleichsam durchdrungen war. Welcher Zukunft bewahrte sie sich auf, welche Erbschaft hatte sie zu behüten, daß sie sich so dagegen sträubte, allen Widerstand aufzugeben und wie dieser Herbsttag in eine lichtlose Nacht einzugehen? Das Andenken ihres Mannes, das Gedächtnis seiner Werke mußte von Stärkeren erneuert werden. »Nur in den Händen der Liebe wird die Unsterblichkeit bewahrt«, hatte Eleagabal Kuperus gesagt. Das waren Worte, schöne Worte. Der Haß war stärker als die Liebe, und sie fühlte sich von einem Strom des Hasses ergriffen und fortgerissen. – Noch immer plätscherte der Regen an den Fenstern, und Emma sah, wie die Scheiben von dem lebendigen Geriesel überspült wurden. Mit aller Sorgfalt hatte Frau Fodermayr die Kammer ausgeschmückt, die sich Emma erst nach hartem Kampf erobert hatte. Zuerst wollte die Frau in ihrer Großmut das Bett des Mannes hier aufschlagen und mit dem Gast die Behaglichkeit des größeren Zimmers teilen. Dann gab sie endlich dem verlangen Emmas nach, aber sie trug hier alles zusammen, was die kahle Kammer schmücken konnte. Über dem Bett hing ein geweihtes Bildchen, das Frau Fodermayr selbst vor langen Jahren von einer Wallfahrt mitgebracht hatte. Sie hatte es von seinem Platz über dem kleinen Weihbrunnkessel aus Zinn genommen, als verzichte sie selbst inzwischen auf den Schutz der Muttergottes von Mariazell, wenn die Madonna dafür ihre Gnade dem Gast zuwenden wolle. »Es bringt Glück«, hatte sie gesagt. Aber das Glück hatte Emma nicht gefunden, weder das bißchen Sonne, das sie für sich selbst begehrte, noch das Gelingen der Aufgabe, die sie sich gesetzt hatte. In der alten Kommode, deren bauchige Laden breit und mit glänzendem Messing beschlagen vorsprangen, waren die letzten Habseligkeiten untergebracht, Wäsche und Kleider, und obendrauf stand das Kostbarste, was sie besaß, das Haupt des Gatten unter einer mit einem Tuch bedeckten Glasglocke. Als alle Aufregung, aller Schmerz, alles Zittern der Seele in die große Ruhe des Entschlusses geströmt war, fand sich Emma bereit, ihr Heiligtum aufzusuchen. Sie zog das Tuch von der Glocke, und inmitten der Reflexe des das Licht spiegelnden Glases tauchte der Kopf des Mannes auf. Mit allem Anschein des Lebens, unverändert, als sei der Körper bloß abgefallen, ohne daß die Trennung dem Haupte zum Bewußtsein gekommen sei, sahen sie die Augen an. Es war, als hätten sich die Pupillen die Fähigkeit bewahrt, dem Einfluß des Lichtes zu folgen, als sei die Regenbogenhaut noch immer in wechselnder Bewegung, als seien die feinen Adern des Augapfels noch immer von Blut gefüllt. Ebenso tief wie die Augen des Lebenden senkten diese durch die Kunst des Eleagabal Kuperus wach erhaltenen Augen ihren wunderbaren Blick in die Augen der Frau, und die geheimnisvolle Wirkung dieser Blicke strömte von dem Toten in die Lebende. Jene sonderbare Mischung von Angst und Glück erfüllte sie ganz, und sie fühlte, daß irgend etwas außer ihr in der Kammer sei, von dem sie in einsamen Nächten Beruhigung und Trost zu finden gelernt hatte. Nebenan war es ganz still geworden, Vorwürfe und Verteidigung hatte der Schlaf erstickt. Leise klopfte der Regen an die Fenster. Dann schlug die Haustür einmal dumpf zu, und der Schall kroch die Mauern entlang bis zu dem gläsernen Gefängnis des Kopfes, daß das Glas zu summen begann wie die seltsamen Glocken, die man tief in der Erde hören kann. Während der Regen unablässig an die Fenster klopfte, als suche ein Verirrter mit zagender Hand Einlaß zu erpochen, während in Tisch und Kommode das Knacken begann, das sich gerne den toten Stunden gesellt, grub sich Emma immer tiefer in die Nacht und zog ihr Leid wie eine Decke um sich. Mit aller Inbrunst einer Beterin lag sie vor dem Haupt auf den Knien, bis sie es wagte, die Glasglocke zu entfernen und das Gesicht des Gatten von den höhnischen Reflexen zu befreien. Und nun beging sie das nächtliche Hochamt, die feierliche Handlung, der ihre Seele zustrebte, den weihevollen Akt, dem ihre Sehnsucht tagsüber entgegenbangte und der ihr das Wichtigste an ihrem Leben war: sie legte beide Arme um das rote Kissen, auf dem der Kopf aufrecht stand, daß die Fingerspitzen sich hinten berührten und ein magnetischer Strom, den sie in ihrem Körper fühlte, dadurch geschlossen war; sie glaubte zu sehen, wie sich sein Haar leise bewegte, als fahre ein Luftzug darüber hin, und glaubte ein Knistern zu hören, als streiche ein Kamm hindurch. Ganz nahe an seinem Gesicht, schloß sie unter seinem sengenden Blick die Augen, öffnete die Lider, schauerte unter dem blauen Strahl und schloß die Augen wieder zu, indem sie sich ganz der schmerzlichen Wollust der Verzögerung hingab. Ihr Mund war in gleicher Höhe mit den Lippen des Toten und rückte langsam auf sein Ziel los. Stärker kreiste der magnetische Strom durch ihren Leib, die Kammer und alles, was darin war, stürzte in eine Versenkung, aus deren Tiefe nur das Klopfen des Regens hervorkam. Trotzdem sie die Augen geschlossen hielt, fühlte sie sich einer großen Helle entgegenschweben, sie fühlte sich aufgehoben und schwebte, von allen Beziehungen zur Erde losgelöst, im Raum. Seine Arme hielten sie fest, seine Hände lagen an ihren pochenden Schläfen genau so wie er früher immer gewesen war. Und nun berührte ihr Mund seine Lippen, erwärmte sie mit der Wärme ihres Blutes, saugte sich fest und riß sich los, um nur noch stürmischer und wilder sich anzupressen. Die ganze Sinnlichkeit ihres noch jungen Körpers hatte sich, verfeinert und geläutert, in diese Umarmungen eines Schattens, in die Küsse auf die Lippen eines Toten gerettet; die wunderbare Kraft ihrer Phantasie gewährte ihr eine seltsame Art von Tröstung, in der sich die Erinnerung an die wilden Abenteuer der Liebe, an die Katarakte von Leidenschaft, an die Ausbrüche sprühender Kraft der Sinne erneuerte. Keuchend und mit geschlossenen Augen setzte sie ihre Küsse fort, keusch wie eine Braut und unersättlich wie eine wissende Frau. Die Notwendigkeiten des Leibes ergossen sich in diese neue Bahn, rissen die Besinnung mit sich fort und umbrausten sie mit einem erlösenden Sturm. Emma vergaß ihre Schuld und ihre Reue über die erbärmliche Schwäche, zu der sie die Verzweiflung damals gebracht hatte, sie vergaß die schreckliche Erscheinung und empfand nur die Glückseligkeit seiner Verzeihung. Sie durfte sich wieder mit ihm vereinigen. Aus der Helle, in der sie schwebte, lösten sich leuchtende Wolken los, kamen auf sie zu, durchdrangen ihren Körper, bis seine irdische Starrheit gewichen war, bis er selbst zu einer leichten, leuchtenden Wolke wurde, die in eine immer blauer strahlende Herrlichkeit aufstieg. Irgendwoher kam ein Glanz von goldenen Thronen, wogte um sie, vermählte sich ihrer reinen Freudigkeit und vertausendfachte ihre Glückseligkeit. Alle Wunder des Äthers strömten in sie, führten sie auf sanften Wirbeln fort, die um prunkvolle Sternbilder herum immer höher stiegen. Manchmal war es noch, als höre sie tief unter sich, in einer Zone, die kein Recht auf sie hatte, wie ein Fragment aus dem Leben der Erde noch das Klopfen des Regens, dann war auch dies vorbei, und nur Schweben und Glänzen blieb ...

Als Emma aus der Ohnmacht erwachte, in die sie immer von ihrer Erregung geworfen wurde, zögerte die Dämmerung des neuen Tages zwischen dem Pochen des Regens an das Fenster. Sie verhüllte das Haupt des Gatten vor ihrem Grau, denn in diesem trüben und mißmutigen Zwielicht blieben seine Züge stumpf und unlebendig. Dann öffnete sie das Fenster, um den erstickenden Qualm der ausgebrannten Lampe hinauszulassen, und legte sich zu kurzem Schlaf auf das Bett, eben als nebenan die Geräusche der Frühaufsteher erwachten.

Am Morgen trat sie, in ihren Entschluß gepanzert, in das Zimmer der Wirtin. Wie jemand, der eine schwere Arbeit mit einem plötzlichen Ruck beginnt, sagte sie sogleich: »Heute, meine liebe Frau Fodermayr, müssen Sie mich gehen lassen. Nun hat es lange genug gedauert.«

Frau Fodermayr, die eben den Kaffeetopf auf den Tisch setzen wollte, blieb stehen, hob den Topf hoch, und einen Augenblick schien es, als wolle sie ihn fallen lassen. »Der Esel!« sagte sie dann und blickte nach der Tür, durch die sich der Schuldige beizeiten davongemacht hatte. »Aber hören Sie, Sie werden doch nichts auf sein dummes Gerede geben.«

»Er hat recht. Ich weiß es. Einmal muß das doch ein Ende nehmen.«

»Gnädige Frau!«

»Es hat lange genug gedauert, nein, widersprechen Sie nicht. Heute gehe ich fort.«

Mit einem kleinen Krach setzte Frau Fodermayr den Kaffeetopf auf den Tisch, indem sie tat, als sei die Sache damit erledigt.

»Wie ich Ihnen danken soll,« fuhr Emma fort, »weiß ich nicht. Sie müssen damit zufrieden sein, daß ich Ihnen mit Worten danke ... mehr ...«

Plötzlich wurde Frau Fodermayr ganz rot im Gesicht, trat einen Schritt zurück, stemmte die Arme in die Hüften, besann sich, daß diese Gebärde nicht schicklich sei, ließ die Arme verlegen herabsinken, wischte die Hände an der Schürze ab und trat, außer sich vor Verlegenheit und Bestürzung, von einem Fuß auf den andern: »Und ... und ... sagen Sie mir nur, sagen Sie mir, wie denken Sie ... was wollen Sie tun, wovon wollen sie leben?«

Mit einem Gesicht, das ganz ruhig schien und die Zuversicht als Maske trug, sagte Emma: »Nun – es wird sich eben heute entscheiden; ich weiß, ich habe die Ahnung, die Sicherheit ...«

»Hören Sie«, Frau Fodermayrs Verzweiflung gab ihr die Kraft, noch einmal den Versuch zu machen, auf dessen Erfolg sie nach ihren Erfahrungen nicht rechnen konnte: »Einer kann da helfen. Sie haben mir selbst von ihm erzählt. Warum gehen Sie nicht zu ihm? Er allein kann etwas ausrichten ... Eleagabal Kuperus.«

Aber Emma stand auf und trat zum Fenster. Draußen hatte der Regen aufgehört, der Hof war noch voll Wasserlachen, und das Gerümpel in den Ecken sah aus, als hätte man es eben aus einem Teich gezogen. Über den nahe zusammengerückten Dächern aber stand ein Stückchen blauen Himmels, von ziehenden Wolkenfetzen belebt, wie eine lächelnde Antwort auf die bange Frage, ob nun die milde Schönheit des Herbstes der Feuchtigkeit der Verwesung gewichen sei. Alle Fenster gingen auf, und es war ein Gelärm von Küchenhantierungen und von Zurufen befreundeter Dienstmädchen.

»Gehen Sie zu Eleagabal Kuperus«, sagte Frau Fodermayr noch einmal, so nachdrücklich und so hochdeutsch als möglich, indem sie alle guten Erinnerungen an ihre Stubenmädchenzeit bei der Gräfin Pernstein zusammennahm. Wie immer in wichtigen Augenblicken, wollte sie Emma den Eindruck verschaffen, als berate diese sich mit jemand ihresgleichen, als könne sie sicher sein, für alle Regungen Verständnis zu finden. Ihrem Ehrgeiz war es nicht genug, der gnädigen Frau Unterkunft zu geben, sie wollte in aller Bescheidenheit und Unterwürfigkeit zur Vertrauten werden; darum lag ihr daran, zu zeigen, daß sie wohlgesetzt zu sprechen verstand und daß man mit ihr sprechen konnte, daß alle Bedingungen zur Annäherung in ihr lagen. »Gehen Sie doch zu Eleagabal Kuperus,« sagte sie zum drittenmal, »Sie haben mir doch selbst erzählt, wie er Sie aufgenommen hat, wie freundlich er gegen Sie war, wie er sich für Ihr Schicksal interessiert hat. Er wird Ihnen helfen.«

Da wandte sich Emma um und sagte, ergeben und geduldig, wie einer, der die aussichtslose Aufgabe hat, jemanden zu überzeugen, der sich nicht überzeugen lassen will: »Glauben Sie es mir doch ... ich kann nicht zu Kuperus gehen. Es ist unmöglich.«

Frau Fodermayr brachte den Lieblingsspruch der verstorbenen Gräfin Pernstein: »Nichts ist unmöglich.«

»Oh, doch! Dies ist unmöglich. Das muß ich doch wissen. Es ist etwas vorgefallen, das es mir unmöglich macht.«

Vor einem neuen Ansturm von Fragen, Beschwörungen, von Ausrufen und wohlgesetzten Sprüchen der Weisheit zog sich Emma in den Turm des Schweigens zurück. Es gelang Frau Fodermayr nicht, sie zu überzeugen, daß der Kuperus nach ihren eigenen Schilderungen kein grimmiger Zauberer mit allen Lüsten der Bosheit, sondern ein Mensch mit einem weiten Kreis des Verstehens sei, daß der Gang zu ihm kein Wagnis bedeute. Sie mußte es dulden, daß Emma fortging, ohne anzudeuten, wo sie ihre Zukunft zu verankern gedenke, und sie blieb mit dem bitteren Gefühl zurück, daß es dem Gast nicht gefallen habe, sie in sein Vertrauen einzulassen, daß er die Antwort auf wichtigste Fragen als Geheimnis vor ihr bewahre.

Eine Antwort auf die Frage nach der Zukunft wußte aber Emma selbst nicht. Als sie von Frau Fodermayr fortging, war nur eines gewiß, daß heute die Entscheidung eintreffen müsse. Sie war entschlossen, nicht zurückzukehren, bevor sie nicht eine andere Stätte gefunden hatte, und wenn ihr Suchen umsonst sein sollte, lieber – über diese schmale Brücke zu einem jenseitigen dunklen Land wollten ihre Gedanken nicht hinüber. Sie hoffte auf die Kraft der Verzweiflung, auf die zerfleischenden Geißelhiebe, die sie im Augenblick der Entscheidung antreiben würden, auf den höhnischen Mut, der am Rande des Abgrunds aus der Finsternis auf seine Opfer springt.

Der Himmel schien seine gestrigen Drohungen durch einen schmeichlerischen und zugleich heroischen Glanz vergessen machen zu wollen. Noch einmal sprach er von Licht und Schönheit und verschenkte bunte Farben an den Herbst, daß alles leichter atmend und unbedachter wurde. In den Straßen war es lauter und lebendiger, aber Emma, die sonst auf die Veränderungen des Himmels mit ihrem Innern antwortete, nahm an dem Jauchzen des unbesonnenen Lebens keinen Anteil. Ihre Gedanken gingen immerfort im Kreise, an den grausamen und grauen Bildern der Enttäuschungen, der Erniedrigungen und Verletzungen vorbei, sie zuckten vor dem schrecklichen Erlebnis zurück und suchten zaghaft nach einem Ausweg aus dem verderblichen Irrgarten des Unglücks. Achtlos ging sie quer über die Straße, sah den Vorübergehenden ins Gesicht, ohne etwas zu sehen und überhörte ein Klingeln, das hinter ihrem Rücken warnend den Weg der elektrischen Straßenbahn herabfegte. Das Läuten wurde schrill und grell, ein wildes Rufen, das die Passanten aufmerksam machte und erstarren ließ, aber es erreichte nicht das Bewußtsein der Frau. Man schrie ihr zu, die Bremse kreischte zu spät, ein Stoß ging durch ihren Körper und warf sie zur Seite.

Um das jüngste Opfer der Straßenbahn war im Augenblick eine Ansammlung von Menschen. Emma sah den Leuten ins Gesicht, lächelte, versuchte aufzustehen und sank wieder zurück. Einige Schritte vor ihr stand der Motorwagen, dessen Führer von einer aufgeregten Menge bedroht und von seinem Platz dem Wachmann entgegengezerrt wurde. Von der hinteren Plattform sahen blasse Gesichter nach der Verunglückten. Ein Geschwirr von Ausrufen, Fragen und Schimpfworten tobte um sie, das sie noch mehr verwirrte als das dröhnende Gehämmer im Kopf und der Schmerz im rechten Bein, der ein leises Wimmern auf ihre Lippen zwang. Man stritt sogleich über das Verschulden an diesem Unglücksfall, und zwei Parteien traten gegeneinander auf, von denen die eine behauptete, daß dem Motorführer kein Vorwurf zu machen sei, weil er rechtzeitig das Warnungssignal gegeben und versucht habe, den Wagen aufzuhalten, während die andere wild gegen ihn anschrie und Lust zeigte, ihn zu zerreißen. Inzwischen war die Rettungsgesellschaft verständigt worden, und hart rasselnd fuhr der Wagen mit dem roten Kreuz in die zurückweichende Menge. Aus dem Kreise der Neugierigen trug man sie in den dunkeln Kasten, der von einem durch Karbol gedämpften Blutgeruch erfüllt war. Ein Krankenwärter rückte ihren Körper zurecht und bettete den verletzten Fuß in eine Schlinge, ohne auf ihr Schreien zu achten.

Die jungen Ärzte, die in der Rettungsstation ihren Mangel an Beschäftigung mit ihrer Dienstfertigkeit zum Wohle der Öffentlichkeit glücklich verbanden, machten sich mit allem Eifer an die Untersuchung des Falles. Nachdem man den verletzten Fuß bloßgelegt hatte, sahen sie einander an. An einem Hautfetzen baumelnd, schien der Fuß nicht mehr dem Körper der Frau anzugehören, ein Glied, das den Dienst verlassen hat und durch keine Kunst mehr wieder an seinen Platz gefügt werden kann. Nach einem ersten Schrei, zu dem sie ihr Entsetzen zwang, blieb Emma stumm; sie sah immer nur den Fuß an, das Stück ihres Körpers, das jetzt, nachdem einer der Ärzte den Hautstreifen durchschnitten hatte, lose neben ihr lag. Der blutige Stumpf ihres Beines wurde nun rasch verbunden. Weiße Binden schimmerten gegen rote Blutlachen. Blanke Werkzeuge klirrten. Man schnürte das Bein ein. Zwei Ärzte, die bisher an einem anderen Bett einen anderen Verunglückten beobachtet hatten, verließen ihren Posten und kamen herbei, um zu helfen. Während die jungen Leute sich um ihr Lager drängten, in raschen Handreichungen einander unterstützten und gewandt, wie bei einem Schauspiel, ihre Plätze wechselten, trachtete Emma zwischen ihnen hindurch einen Blick auf den Fuß zu haben, der neben ihrem Bett in einer Schüssel lag. Sie sah, wenn sich der Kreis der Ärzte öffnete, sein wachsfarbenes Fleisch in einer Lache Blutes; sie sah, daß die Zehen gekrümmt waren, als hätte sie ein furchtbarer Schmerz im letzten Augenblick eingezogen. Nie hatte sie einen Teil ihres Körpers so genau betrachtet, als dieses armselige Glied, das ihr fremd geworden war.

»Es ist natürlich besser, wenn Sie sich in das Krankenhaus transportieren lassen,« sagte einer der Ärzte, »aber wenn Sie es wünschen, wollen wir Sie nach Hause schaffen.« Emma sah dem jungen Mann ins Gesicht. »Ich muß ins Krankenhaus. Ich habe kein Heim.«

»Was wollen Sie sagen? Sie haben doch irgendwo gewohnt.«

»Meine frühere Bedienerin hat mich aus Barmherzigkeit bei sich aufgenommen.« Sie gab Frau Fodermayrs Namen und Adresse an. Es war als habe der Unfall auch die harte Schale ihrer Verschämtheit zerbrochen, als habe der Stoß des Motorwagens auch die Gerüste ihres Stolzes niedergeworfen, und wenn sie von jemandem danach gefragt worden wäre, hätte sie ohne Rückhalt die Geschichte ihres Unglücks erzählt. Aber die Ärzte, die ihrem beruflichen Interesse nur ein wenig menschliche Ergriffenheit gesellten, wagten über die Fragen des Protokolls nicht hinauszugehen, bis einer der jüngsten unter ihnen, der inzwischen wieder nach dem anderen Verunglückten gesehen hatte, die Angaben Emmas im Protokoll nachlas. »Emma Rößler,« sagte er, »der Name kommt mir bekannt vor.« Hinter seinem Kopf schien die Sonne aufzugehen, denn lange, blendende Strahlen schossen zu beiden Seiten des Gesichtes hervor, und ein leuchtendes Horn wuchs über seinen Scheitel empor. »Sie sind die Witwe des Dichters Rößler?«

»Ja.« Emma wunderte sich darüber, daß er in so sonderbarer Art den Körper zu wiegen begann; als bewege er ihn nach einem unhörbaren Rhythmus, während die Sonne hinter seinem Kopf immer grellere Strahlen ausschickte. Zugleich wich er von ihrem Bett zurück, verlor an Masse und war nur ein Schatten vor einem hellen Licht. Seine Stimme kam aus einer durch Abgründe getrennten Ferne: »Ich habe eine seltsame Geschichte gelesen, von seinem Kopf ... ist das alles wahr? Man hat ihn abgeschnitten und einbalsamiert ...«

»Es ist wahr!« sagte Emma. Sie war entschlossen, diesen fremden Leuten nichts davon zu sagen, daß der Kopf wieder seinen Körper gefunden hatte, und daß ihr Gatte nun hinter ihrem Bett stehend die kühle Hand auf ihre Stirn legte. Denn es war besser, sich zu verbergen, damit man nicht von den stechenden Sonnenstrahlen getroffen wurde. Die Ärzte hatten sich die Hände gereicht und bildeten einen Kreis schwarzer Gestalten, der sich nun langsam schreitend um ihr Bett bewegte. In die Zwischenräume der Männer schoß immer der grelle Sonnenschein, und je rascher der Tanz wurde, desto schneller folgten sich Licht und Schatten, genau so, wie wenn man im Sommer neben einem Staketenzaun liefe, wo der Wechsel der Beleuchtung das Auge verwirrt. Jemand lief hinter ihr her und sie wußte, ohne sich umzudrehen, daß es Richard war, der sie fangen wollte, und lief darum nur um so schneller, denn sie hatten sich heute morgen gezankt. Oh, nein, sie wollte sich nicht fangen lassen, hörte nicht darauf, daß er hinter ihr rief. Auf dem großen Haufen von Balken, wo die Zimmerleute ihr Holz auswählten, rannte sie weiter, bis nur eine einzige schmale Planke da blieb, deren Ende nicht abzusehen war. Plötzlich stolperte sie und fiel. Da lag sie in einem dichten Nesselgestrüpp, an dem kleine goldene Früchte hingen, und Richard hielt sie keuchend an der Schürze fest. »Ich wußte es,« sagte er, »daß du nicht weit laufen wirst. Du hast deinen Fuß verloren, hier habe ich ihn mitgebracht.« Und er reichte ihr den kleinen Mädchenfuß hin und verlangte einen Kuß als Belohnung. Aber Emma schrie auf, denn der Fuß war über dem Gelenk ganz blutig und Blut tropfte auf ihre Schürze herab. »Das macht nichts«, Richards Trost war warm wie eine liebe Berührung, »Eleagabal Kuperus wird da helfen. Er kann alles. Siehst du.« Mit einer Verbeugung nahm Richard seinen Kopf herab und setzte ihn wieder auf. Nun sah Emma erst, daß dieser Kopf auf einem armseligen, verkümmerten Körper saß, der fast durchscheinend war, weil die Haut, die sich über die Knochen des Leibes spannte, dünn und fein wie ein Pergament alles Licht hindurchließ. »Du bist ein Dichter, du kannst tun, was du willst«, sagte Emma und war beglückt, auch selbst Trost spenden zu können.

»Na also, so weit wären wir«, sagte die Wärterin zu Frau Fodermayr, als Emma zu sich kam.

»Gnädige Frau, gnädige Frau«, stammelte Frau Fodermayr und weinte.

Wenn Emma dann später an diese Zeit zurückdachte, so fand sie dies als Wichtigstes in ihrer Erinnerung: eine große Helle, die von den weißen Wänden des Krankensaales zurückgestrahlt wurde und, wenn die Sonne am Nachmittag übermächtig war, vor einer grünen Dämmerung wich; die schlaflosen Stunden der Nacht, die anfangs häufiger waren und später immer seltener wurden, in denen zwischen den Bettreihen Lampen hinter grünen Schirmen brannten, das Mäanderband, das sich im Rechteck an den Kanten der Decke entlangzog und von einem grellen Lichtkreis der Lampen zum andern strebte, indem es auch in den dunkeln Stellen dazwischen mit gleicher Beharrlichkeit seine ineinandergewirrten Wege fortsetzte; das Bild des Kaisers in Generalsuniform, das so ziemlich in der Mitte der gegenüberliegenden Wand hing; dann den leisen Schritt der Wärterin, das Flüstern der Kranken und die Geräusche der Straße, die nur ganz verstohlen einzudringen wagten; und die heilsame Stille, aus der das alles kam und in die alles wieder zurücksank. Dann tauchten aus diesem allgemeinen Grund von Wunschlosigkeit und Behagen die Besonderheiten, die sich nach ihrer Bedeutung geordnet darstellten. Zuerst die Protokollaufnahmen, bei denen sich Emma, ihrer Schuld bewußt, bemühte, den Motorführer zu entlasten. Die Anfälle, die Vorwürfe und Weinkrämpfe der Frau Fodermayr, die oft so heftig waren, daß sie von der Wärterin mit sanfter Gewalt entfernt wurde. Alles dies rührte so hart an den Verlust, daß Emma über sich selbst nicht wenig staunte, nicht mehr Bedauern mit sich selbst, mehr Schmerz, mehr Wehmut in sich zu finden, und sich ein wenig schämte, daß es so weit mit ihr gekommen war, über dem Gefühl der Geborgenheit ihrer Gegenwart die Gedanken an die Zukunft verloren zu haben. Vor allem war ihr jener schöne, warme Herbstmittag klar, an dem sie zum erstenmal in einem Stuhl in den großen Spitalgarten getragen wurde und ein alter Mann, der mit bleiernen Gliedern an einem Stock wankte, näher kam, ihr wie einer Bekannten ins Gesicht sah und dann seinen Namen nannte: Nikolaus Zenzinger. Als er sah, daß sie auf seinem verfallenen Gesicht nach einer Erklärung suchte, nickte er ihr zu: »Wie geht's? Schon besser, was?« Vom ersten Augenblick an gewann seine Trauer, seine Ergebenheit in ein ihr unbekanntes Schicksal, dessen Grausamkeit sie bloß ahnte, Einfluß auf sie; seine Worte stießen den Riegel der durchsichtigen, aber stets verschlossenen Tore zurück, die die Zellen der Menschen voneinander trennen. Sie traten auf die Schwelle und sahen ihre Verwandtheit.

»Ja,« sagte er, »wir sind zugleich hierhergekommen. Im selben Wagen hat man uns gebracht. Man hat uns beide gerettet.« Dieses letzte Wort schien sich, von einer tiefen Bitterkeit gesport, gegen seinen Sinn zu bäumen; ein Widerspruch lag in ihm, und als fühlte der Mann, daß er nicht Ungleichartiges durcheinander mengen dürfe, setzte er hinzu: »Das heißt, Sie sind ja wirklich gerettet worden.« Und dann nach einer Weile spann er den Faden weiter: »Wir sind zugleich gekommen, aber ich werde vor Ihnen entlassen werden.« An diese erste Begrüßung, in der Ähnlichkeit und Unterschiede festgestellt wurden, knüpften sich an zwei folgenden Tagen noch viele andere Gespräche von fünf Minuten Dauer, wie sie zwischen Kranken flüsternd geführt werden, über den Raum, über die Genossen, über den Arzt und über die Wärterinnen, Gespräche auf der Schwelle, die, so leer und kalt ihre Themen waren, die beiden einander näher brachten. Am Abend des dritten Tages deutete Zenzinger nach den langgezogenen, über den ganzen Himmel fliegenden Wolkenschleiern und sagte: »Morgen kommt der Herbstnebel, und dann der Winter. Leben Sie wohl. In ein paar Tagen werde ich gehen, und wir sehen uns wohl kaum mehr wieder.« Emma wollte nicht daran glauben, aber am nächsten Morgen lag der Nebel dicht vor den Fenstern, der November zog seine grauen Fahnen auf und gab die Erde nicht mehr frei. In der Langeweile des Krankensaales ging Emma dem Schicksal des Fremden nach, baute sich aus den Anzeichen, die sie in seinem Gesicht, an seinen Händen, dem dürftigen Anzug und seiner, mit den Worten des Volkes sich genügenden Sprache gefunden hatte, eine Geschichte nach der andern auf, verwarf alle und stachelte ihre Neugierde so lange an, bis sie dem Zwang erlag, sich an die Wärterin um Auskunft zu wenden. »Nikolaus Zenzinger,« sagte diese, »ich weiß nichts ... aber ich werde auf seinem Zimmer fragen.« Schon am Nachmittag kam die Geschichte, die ihre eigenen Erfindungen übertraf. Nikolaus Zenzinger hatte als Soldat den Feldzug in Bosnien mitgemacht, hatte in einigen Gefechten etliche Kugeln und Säbelhiebe davongetragen, die jedoch seinem Körper keinen dauernden Schaden zufügten, und war endlich doch als Veteran heimgekehrt. Nachdem er vieles versucht hatte, um sich fortzubringen, legte er den letzten Rest seines Geldes für einen photographischen Apparat aus und war entschlossen, eine Fertigkeit, die er einst als Gehilfe erlernt hatte, zu verwerten. Er mietete ein Stückchen Feld vor der Stadt, umgab den Apparat mit vier Wänden aus grauem Segeltuch, richtete einen Holzverschlag als Dunkelkammer her und versprach nun in großen Lettern über dem Eingang seines Salons, binnen der kürzesten Zeit jedermanns Bildnis fertigzustellen. Anfangs hatte er genug zu tun, um alle Dienstmädchen der Nachbarschaft, alte Kriegskameraden, unternehmende Schulmädchen oder lustige Ausflügler zu porträtieren. Es ging laut und vergnügt in seinen vier Wänden aus Segeltuch zu, und Zenzinger schleppte seine müden Beine mit lächelndem Gesicht zwischen dem Apparat und den Gruppen, die sich vor dem Objektiv in kühnen Stellungen zusammenfanden, hin und her. Die Scherze, mit denen er seine Hantierungen begleitete, gewannen einen Ruf. Unter den Lebemännern aus der Vorstadt, unter den sonntagsfrohen Kommis war es Modesache, ein Bild aus Zenzingers Atelier zu besitzen. Man konnte sich auf Leitern sitzend, auf Fässern reitend, über- oder nebeneinander, mit Biergläsern in den Händen, mit der verschämten Freundin am Arm, in nüchternem oder angeheitertem Zustand von ihm darstellen lassen. Zenzinger besaß die Geduld, auf alle Wünsche zu hören und auf sie einzugehen, er traf den Geschmack seines Publikums, da er selbst dessen Kreisen angehörte, und ertrug sein Geschick in seinen vier Segeltuchwänden mit dem Leichtsinn des Künstlers. Aber mit der Zeit wurde dies anders. Eine Hochflut der Entwicklung seiner Kunst schwemmte alle diese kleinen Leute, die Besitzer der Leinwandbuden fort, trug sie von der Stadt auf das Land, vertrieb sie von ihren festen Sitzen, machte sie zu Nomaden oder verschlang sie ganz. Den großen Photographen mit ihren schönen Ateliers, den gemalten Hintergründen – Wolken oder Burgruinen, freien Landschaften oder Parkwegen – erschien der Wettbewerb um die Popularität nicht mehr entwürdigend, sie sanken mit ihren Preisen bis zur untersten Grenze und paßten sich auch der Laune der Dienstmädchen an; und die neuen Generationen der Kommis, die Nachfolger der treuen Anhänger Zenzingers von dazumal, gingen jetzt selbst mit ihren Handkameras stolz an seinem Versprechen, jedermanns Bild in der kürzesten Zeit fertigzustellen, vorbei. Die Späße, mit denen der Abgesetzte seine Hantierungen aufputzte, waren nicht mehr neu und hatten ihren Ruf verloren. Nur manchmal kamen noch die Trunkenbolde in sein Atelier, weil sie wußten, daß man sie anderswo hinausgeworfen hätte. Aus einer zähen Anhänglichkeit an die Vaterstadt hielt Zenzinger, der indessen in seinem Beruf ein alter Mann geworden war, seinen Platz und schob das Ausbleiben seines Publikums auf eine vorübergehende Wendung der Mode. Aber als sich seine Lage nicht bessern wollte, als man ihn beharrlich übersah, beschloß er, sich den Leuten ins Gedächtnis zurückzurufen, verließ seinen Posten vor der Stadt und zog näher heran. An der Grenze zwischen dem alten Kern und den immer enger herandrängenden Massen der neuen Häuser schlug er auf einem kleinen Platz seine vier Wände aus Segeltuch auf, stellte seinen Apparat bereit und wartete. Er wartete umsonst. Niemand kam als der Hunger und die Not. Eines Tages brachte ihm der Schneider, bei dem er Bettgeher war und der gerne sein Geld gesehen hätte, eine Zeitung, in der ein Aufruf den armen, alten Mann, dessen Geschäfte so gar nicht gehen wollten, der öffentlichen Mildtätigkeit empfahl. Ganz stolz auf den Erfolg seines Ganges zur Redaktion, auf seine Gutherzigkeit und werktätige Nächstenliebe, wartete der Schneider auf die Anerkennung seines Bettgehers. Aber Zenzinger hielt die Zeitung lange in der Hand, schwieg, sah vor sich hin, knüllte das Papier endlich bedächtig mit beiden Händen zusammen und warf es aus dem Fenster in den Hof hinab, wo es von spielenden Kindern aufgefangen wurde. Dann ging er, nachdem er seinen besseren Rock angezogen und die Kriegsmedaille angesteckt hatte und ohne dem Schneider auf seine Fragen zu antworten, geradeswegs zur Redaktion. In Habtachtstellung, Hände an der Hosennaht, Blick geradeaus, dankte er den Herrn zunächst untertänigst für ihre freundlichen Bemühungen, bat sie aber zugleich, davon abzustehen, da es sich für einen Veteranen nicht schicke, Almosen anzunehmen. Man wollte ihn beruhigen, aber Zenzinger blieb dabei, daß es ihm unmöglich sei, von milden Gaben zu leben, und daß er lieber verhungern wolle, als ein Stück Brot zu essen, das er nicht verdient, sondern erbettelt habe. »Wenn ich mir nicht mehr mein Leben verdienen kann, so verdiene ich nicht mehr zu leben«, sagte er und die Herren von der Redaktion sahen sich ob dieses seltsamen Wortspiels, das sie dem Schnellphotographen nicht zugetraut hätten, verblüfft an. Diesen geplagten Leuten, die jahraus jahrein von Bittstellern aller Art unter den ausgefallensten Vorwänden behelligt wurden, begegnete Zenzinger wie ein Wunder. Er ließ sich weder überzeugen, daß in einem solchen Aufruf nichts Entwürdigendes liege, noch nahm er die Banknote, die ihm der Chefredakteur mit dem Einverständnis der anderen Herren aus der Redaktionskasse reichte; sein Widerstand war also kein gut erfundener Trick, sondern echt, nicht aus einem überlegenden Verstand entsprungen, sondern aus einem schlichten und ehrlichen Gefühl geflossen. Da aber das Interesse der Redakteure erwacht war, gelang es ihnen nach hartem Ringen einen Vergleich mit Zenzinger abzuschließen. Am Abend brachte die Zeitung eine Änderung des Aufrufs; nun wurde das Publikum darauf aufmerksam gemacht, daß der schon erwähnte Photograph kein Almosen annehme, sondern daß er nur wünsche, man möchte sich wieder seiner Dienste erinnern und ihn besuchen. Daraufhin tröpfelte es einige Aufnahmen von Kindern, gutherzigen alten Damen und von ehemaligen Kameraden. Nach einigen Wochen hatte man seiner ebenso vergessen, wie man sich vorher seiner nicht erinnert hatte, die guten Seelen und alten Kameraden hatten ihre christliche Pflicht erfüllt und ersparten sich weiter den Anblick eines unaufhaltsamen Verfalls, eines Versinkens im Elend, das nur aufregend zu sehen war und das man doch nicht abwenden konnte. Nachdem er fünf Tage vorher die letzte Einnahme für das Porträt eines Schoßhundes gehabt hatte, wählte Zenzinger die Todesart der Dienstmädchen, als ihm der Schneider, der seit der Geschichte mit dem Aufruf über seinen Undank empört war, das Bett kündigte. Aber das von Phosphorhölzchen abgeschabte Gift reichte nur dazu hin, seinen Körper in ein Flammenbad des Schmerzes zu werfen, aber nicht dazu, seine Lebenskraft ganz zu vernichten. Die Rettungsgesellschaft trat in Tätigkeit und rettete ihn; im Krankenhaus fand er Aufnahme, bis die Spuren des Giftes aus seinem Leib, der mehr von Hunger und von den Qualen seines Stolzes hinfällig war, entwichen.

Dies war die Geschichte, deren Hauptpunkte die Wärterin in Zenzingers Zimmer erfahren hatte. Aus diesen Bruchstücken, aus den überbrachten Fragmenten eines Schicksals wob Emma das Bild seines Lebens mit jenem sicheren Instinkte der Zuneigung, mit einer durch den Anteil an den Arbeiten des Gatten geweckten und erzogenen Phantasie. Sie verband die Eckpfeiler durch Mauerweck, sie suchte und fand alle Beziehungen und Zusammenhänge und fügte sie dem Bau ein; und wußte gewiß, daß Bild und Bau richtig waren. Kaum konnte sie es erwarten, daß man sie aus dem Krankenhaus entlasse, und als man ihr den künstlichen Fuß anpaßte, begrüßte sie dies Zeichen ihrer Befreiung mit einem in Tränen blitzenden Lächeln. Bei dieser Gelegenheit erinnerte man sie daran, daß die Gesellschaft der elektrischen Straßenbahnen verpflichtet sei, alle Heilungskosten und die Kosten des künstlichen Fußes zu tragen, und daß sie es nicht unterlassen dürfe, ihre Ansprüche geltend zu machen.

»Sie sind aus der Not«, sagte die Nachbarin Emmas, die mit einem Rippenbruch im Bette lag. »So ein Glück! Glück muß man haben! Wer gibt mir was dafür, daß ich mir auf der Kellerstiege beinahe den Hals gebrochen habe? Wenn man schon Schmerzen leidet, so will man doch auch etwas dafür haben. Jetzt sind Sie für Ihr Leben versorgt.«

Wie durch einen Vorhang kamen Emma einige Worte der Frau Fodermayr, die, wenn auch im Gewande anders, doch im Sinne diesen Worten der Nachbarin verwandt waren. Nun war es mit dem friedlichen Behagen, mit dem gedankenlosen Geborgensein in der Krankenstube vorbei. Ehe sie noch einen Schritt vor ihr Asyl gemacht hatte, stürmte die Welt auf sie ein und zwang sie, an die Zukunft zu denken. Diese Welt, die sie für eine Zeit hinter den Gobelins ihrer Träume vergessen hatte, erhob sich mit der Gebärde eines stiernackigen Gladiators, der den Gegner zum Kampfe auffordert. Aber mit einem neuen Ziel vor Augen, besann sich Emma nicht lange. Dankbar nahm sie das Anerbieten ihres liebenswürdigen Arztes an, der einen Advokaten für ihren Fall zu besorgen versprach. Nun folgten Informationen, Beratungen und Verhandlungen im Sprechzimmer des Krankenhauses. Endlose Feststellungen, die Punkt für Punkt von dem Vertreter der Straßenbahngesellschaft bestritten wurden. Es war ein Hin und Wider, das mit seinen Schlichen und Listen, seinen Vorstößen und Überraschungen ganz dem Gebaren eines hartnäckigen Verkäufers und eines geriebenen Käufers glich. Mit Erstaunen bemerkte Emma eine Wandlung in der Stellung des Anwaltes ihrer Sache. Während er zuerst dem Vertreter des Gegners schroff entgegentrat und von vornherein erklärte, daß er die gerichtliche Austragung einleiten werde, wenn man nicht zu einer gütlichen Vereinbarung kommen könne, schienen später sein Mut und seine Zuversicht zu sinken; er wich wie unter der Last eines schlechten Gewissens vor dem Gegner zurück, gab ihm Raum, schränkte seine Ansprüche ein und riet von einer gerichtlichen Geltendmachung ab, indem er tat, als müsse man froh sein, überhaupt etwas zu erhalten. Schon glaubte Emma wieder den Einfluß jener verderblichen und geheimnisvollen Macht zu fühlen, und von dem Beiseite ihres Advokaten verwirrt, von seinen in Blicken ausgedrückten Parenthesen geängstigt, gab sie endlich zu einer lächerlich geringfügigen Entschädigungssumme, mit der gerade nur der Anschein gerettet war, ihre Zustimmung.

Froh dem widerwärtigen Kampf entronnen zu sein, antwortete sie auf die Fragen der Nachbarin. Die Frau mit dem Rippenbruch machte eine Bewegung, als wollte sie die Hände über dem Kopf zusammenschlagen: »Ach du mein Gott! So was! So ein Unsinn!« Die Ausrufe folgten einander wie Raketen und prasselten auf. Dann endlich fand ihr stürmisches Temperament die Besinnung zu dem ruhigeren Fluß einer Erklärung. »Aber, aber ... so ungeschickt! Na, die Gesellschaft ist gut weggekommen. Und Sie haben die Gelegenheit versäumt, sich ein Vermögen zu machen. Das war eine Gemeinheit, Sie mit den Heilungskosten und einer einmaligen Entschädigungssumme abzufinden. Heilungskosten, Schadenersatz, Schmerzensgeld und eine lebenslängliche Rente – alles das hätte Ihnen gebührt! Wie kann man nur! Das hätte Ihnen von jedem Gericht zugesprochen werden müssen. Aber Ihr Advokat war entweder ein Trottel oder ein Schuft.«

Emma schämte sich zuerst ein wenig, aber dann tröstete sie sich rasch damit, daß die Frau ja nichts von ihrem Verfolger und seiner Macht wußte, daß sie nichts von dem schrecklichen Gefühl kannte, von einem unfaßbaren und unbesiegbaren Gegner immer bedroht zu sein. Als sie am nächsten Morgen das Krankenhaus nach einem gerührten Abschied verließ, schlug sie ohne Besinnen den Weg zum Notar ein, wo heute das Ergebnis der Verhandlungen zu einer Urkunde versteinern sollte. Klapp – klapp, machte der künstliche Fuß, als sie die Stiegen zum Notar hinaufging, und das Gestolper der beiden Stöcke band sich damit zu einem seltsamen Rhythmus, einem Getrappel, das auf den steinernen Platten des Ganges unter den Kreuzgewölben des uralten Hauses widerhallte. Es war, als sollten diese Geräusche, die nun von ihrer Zukunft unzertrennbar waren, dieses Klappern, das sie von nun an auf allen Wegen begleiten würde, in ihrer Vervielfachung, in ihrer Brechung und Wiederholung den Verlust noch einmal recht deutlich machen, bevor sie unterschrieb. Irgendwo in einem Winkel ihrer Vorstellungen kauerte wie ein Lurch das Wort der Nachbarin über den schlechten Anwalt ihrer Sache.

Man empfing Emma mit aller Liebenswürdigkeit, rollte ihr einen Stuhl herbei und umwarb sie mit einem Aufwand an schönen Worten, als besorge man, sie könnte noch im letzten Augenblick ihren Entschluß ändern und vom gütlichen Vergleich zurücktreten. Dann beeilte sich der Notar die Urkunde vorzulesen, mit der Emma gegen die einmalige Zahlung jener Summe auf die Geltendmachung aller Ansprüche verzichtete und sich für vollständig befriedigt bekannte. Um sie herum standen alle diese Männer, die alle zum Schein an ihrem Schicksal Anteil nahmen und unter denen sie nicht einen Freund hatte, sie fühlte, wie man sie belauerte, und in einer plötzlichen Anwandlung von Furcht, man könnte ihr am Ende auch noch dies Geringe entreißen, nahm sie die Feder und unterschrieb. Der Notar drückte sein Siegel auf, die Zeugen setzten ihre Namen bei, und der Vertreter der Straßenbahngesellschaft überreichte ihr sofort das gewichtige Kuvert.

Emma empfahl sich unter den Verbeugungen der Herren und klapperte das Stück Weges zu Frau Fodermayr hinüber. In ihrem Bein war eine neue Empfindung, ein leiser Schmerz, die ungewohnte Verbindung des Lebenden mit dem Leblosen hielt eine Art von Grauen vor sich selbst wach. Von Zeit zu Zeit blieb sie ermüdet stehen und ließ die Menschen an sich vorübergehen. Verwundert sah sie, wie rasch man mit zwei Beinen vorwärts kam. Sie kam sich wie mit einer Kette belastet vor, als schleppe sie ein Gewicht mit sich, eine schwere Kugel, an die sie für alle Zukunft geschmiedet war.

In Frau Fodermayrs kleiner Wohnung war es unbehaglich kalt, und es schien Emma, als habe man einen Teil der Möbel entfernt. An der Fensterbank saß Meister Anton, obzwar es doch Arbeitszeit war, und strickte, während seine Frau sich bemühte, ein kleines Feuerchen aus Funken anzublasen. Der Freude des Wiedersehens war eine Niedergeschlagenheit beigemengt, deren Grund Emma nach den ersten Worten zu erkunden begann. Sie ließ sich nicht irreführen und nicht ablenken, nahm alle Barrikaden, drang unaufhaltsam vor und fand endlich mit Bestürzung den Eingang zum Verständnis. Was Anton gefürchtet hatte, war eingetroffen. Man hatte ihn unter irgendeinem Vorwand entlassen; er war vergebens herumgelaufen und hatte keine Arbeit finden können. Nun, da er den Tatsachen gegenüberstand, hungerte er und fror wie ein Held und schlug alle Anfälle von Verzweiflung zurück; er richtete seine kleinmütig gewordene Frau auf und verwertete seine Liebhabereien, das Strümpfestricken und das Rahmenvergolden, zum Erwerb des Notwendigsten. Seine Erzählung war frei von Bitterkeit, von Vorwürfen und berichtete so schlicht, als spreche er von einem andern. Emma antwortete mit einem Trost und einer Bitte. Sie zwang ihre Wohltäter, ihren kleinen Besitz mit ihr zu teilen, und da sie es verstand, Frau Fodermayr in dem Glauben zu erhalten, ihre Gabe komme aus einem großen Überfluß her, besiegte sie alle Einwände und Widerstände. Frau Fodermayrs Phantasie hatte einen Glanz über Emmas Zukunft gegossen, sie sah Türme voll von Schätzen, sie hatte das Wahrscheinliche zur höchsten Potenz erhoben und nahm endlich, von der Not mürbe gemacht und von dem Gedanken an Rettung betäubt, was ihr Emma bot.

»Es ist ja kein Geschenk,« sagte Emma, »ich zahle nur eine Schuld zurück.«

Frau Fodermayr wollte die Hände der Retterin küssen; aber Emma umarmte sie und küßte sie auf die faltigen Wangen, in denen die Runen der Not zu lesen waren. Anton kam aus seinem Winkel hervor und gab ihr die Hand. Er sagte gar nichts, sah sie nicht einmal an, sondern starrte auf seine Frau, die beim Ofen stand und weinte; seine Mundwinkel waren herabgezogen, seine Augenlider zitterten.

Dann ging Emma rasch davon. Der Winterhimmel über dem kleinen Hof war klar und blau; aus einem eben geöffneten Küchenfenster stieg dichter Dampf wie aus einem Schornstein empor. Ein Teil dessen, was Emma so schwer und drückend über sich gefühlt hatte, hob sich und stieg auf gleich diesem Dunst. Ihr Weg zu dem Leinwandhaus Nikolaus Zenzingers lag frei vor ihr. Als sie den Platz erreichte, wo sie sein Atelier zu finden erwartet hatte, erschrak sie ein wenig. Einige Karren waren hier ineinandergeschoben, in denen die Straßenkehrer den Schnee wegzuführen pflegten, unter der Brücke rauschten die dunkeln Wasser des Mühlgrabens zwischen Resten schmutzigen Schnees. Zenzingers Atelier war abgebrochen; Emma fand sich bald zurecht. Der Winter war wohl für seine Kunst nicht günstig; es galt, den Schneider zu finden. Nachdem sie einige Wachleute, einen Greisler und eine Tabaktrafikantin befragt hatte, stieg sie die finstere, steile Stiege zur Wohnung des Schneiders hinauf. Inmitten seiner Tuchflecken saß der brave Mann und wies auf Emmas Erkundigung mit der Schere nach Zenzingers Tür.

»Ach Sie ... Sie kommen zu mir«, sagte Zenzinger und erhob sich von dem Tisch, auf dem Stöße von Ansichtskarten neben einigen Farbschalen und Pinseln lagen.

»Ich habe Sie aufgesucht.«

»Woher wissen Sie ...?«

»Ich habe mich durchgefragt.«

»Ich ... ich photographiere im Winter nicht. Es ist nicht möglich.«

»Was machen Sie denn im Winter?«

»Alles, was man von mir verlangt. Jetzt, sehen Sie, koloriere ich Ansichtskarten. Ich kann Sie nicht aufnehmen.«

»Ich will, daß Sie mich in anderer Weise aufnehmen. Ich komme, um Sie zu fragen, ob Sie mir gestatten, bei Ihnen zu wohnen.«

Zenzinger räumte eine Menge von Flaschen, Schalen und Glasscheiben von einer Kiste und bot Emma den einzigen Stuhl seiner Kammer an. Dann setzte er sich auf die Kiste, der Frau gegenüber, schlang die Hände ineinander und hob sie bis zur Höhe des Gesichts: »Warum, warum ... tun Sie mir das an?«

»Nehmen Sie meine Bitte ernst. Ich habe niemanden auf der Welt. Mein Mann ist tot. Den einzigen Freund, den ich hatte, wage ich nicht wiederzusehen. Meinen Unfall hat man mir recht schlecht bezahlt. Nun suche ich einen Schutz. Sie ... Sie! Es schien mir, als ob wir zwei zusammengehörten.«

Die zitternden Hände sanken herab und suchten auf der Kante der Kiste eine Stütze. Dann begann Zenzinger zu husten, öffnete zwei Knöpfe seines verfärbten, abgeschabten Winterrocks, gab sich einen Ruck, sank zurück, als fehle ihm die Kraft aufzustehen, strich an den Seiten des Rockes herab und fuhr plötzlich in die Tasche. Dazu murmelte er unter einem Zittern der Kinnladen vor sich hin. Und endlich hob er den Kopf und sah Emma mit einem so unterwürfigen und bewundernden Blick an, daß sie, sicher, ihn gewonnen zu haben und in jenem Gefühl der Verwandtheit, seine Hand ergriff. »Wenn es so ist,« sagte er, »wenn es so ist ... Ja dann gehören wir zusammen, wir zwei, wir gehören zusammen.« Die Riegel waren zurückgestoßen, und die beiden Menschen fanden sich auf der Schwelle. Von ihrer Ungewißheit befreit sah Emma ein zwar von einem trüben Himmel überdecktes, aber doch sicheres Land, einen Strand, an dem sie nicht mehr einsam war.

In den ersten Tagen dieses neuen Bündnisses hatte Emma damit zu tun, die Formen ausfindig zu machen, in denen sich ihre Gemeinsamkeit ausdrücken konnte. Nikolaus Zenzinger mußte Schritt für Schritt zum Vertrauen geführt werden, sie mußte ihn auf Umwegen daran gewöhnen, jemand anderen für sein Leben sorgen zu lassen. Zuerst war er von dem Umschwung der Dinge so verblüfft, daß er alles mit sich geschehen ließ, dann kam die Periode der Auflehnung, und als diese durch List und Umsicht besiegt war, gab sich Zenzinger der neuen Ordnung wie einem Traume hin. Nachdem Emma eine Unterredung mit dem braven Schneider gehabt und seine Verfinsterungen erhellt hatte, zog sie trotz seines Bedauerns und seiner unterwürfigen Anerbietungen von ihm fort zu einer Witwe, die Vorhänge wusch und zwei kleine Kabinette vermietete. In Emmas Zimmer wurde der Tisch mit den Ansichtskarten und den Farbschalen aufgeschlagen, und während sie die Dächer rot, das Wasser und den Himmel blau und die Bäume grün bemalte, hämmerte, sägte und kleisterte Nikolaus nebenan an einem Werke, dessen Idee ihn durch ein Jahrzehnt verfolgt hatte. Seitdem ihm einmal einer seiner Kunden vorgehalten hatte, daß seine Bilder so schlecht seien, weil aus dem alten Kasten nichts Besseres herauskommen könne, ging sein Ehrgeiz dem Gedanken nach, sich selbst einen anderen Apparat mit allem Raffinement der Gegenwart zu bauen. Zeit und Umstände hatten ihn endlich gegen seinen Wunsch stumpf gemacht, hatten die Aufgabe aus seinem Gedächtnisse verwischt. Es gibt Geheimschriften, die auf ihrem Blatt Papier allen unsichtbar sind und erst hervortreten, wenn das Blatt über die Lampe oder an den Ofen gehalten wird. So tauchte nun in der Wärme, die aus Emmas Zuneigung über sein Alter kam, der alte Wunsch wieder auf, und Emma nahm es als ein erstes Zeichen beginnenden vollen Vertrauens, als Nikolaus von diesem Plan zu sprechen begann. Dieser Wunsch war zu verwirklichen, und seine Erfüllung war ja auch eine Aussicht für den Aufschwung des Ateliers. Sie schaffte das Material nach den Angaben Zenzingers herbei und nahm ihm die Arbeit ab, die ihm ein mildherziger Papierhändler übertrug, weil er in den Zeitungen von dem seltsamen Schicksal des Mannes und von seinem unbeugsamen Stolz gelesen hatte. Nun saß Nikolaus Tag für Tag vor seinem Werke, schraubte, maß und paßte ein, erfüllte die Wohnung mit allen Dünsten von Leim und Lack und schnaubte vor Eifer. Oft kam Emma auf die Schwelle, sah seinen weißen Kopf über irgendein feines Räderwerk gebeugt und seine Finger in hastiger Bewegung und trat lächelnd zurück, voll Freude, daß sie wieder lächeln konnte. So weltfern und entlegen, so abgeschieden von der Sphäre ihres Feindes erschien ihr dieser Zufluchtsort, daß sie sich wie in Katakomben verborgen vorkam und glaubte, seinem Gesichtskreis und seiner Macht entronnen zu sein. Seltener wurde die peinvolle Angst der Flucht; und die nächtlichen Andachten vor dem Haupt des Gatten waren zugleich Feste der Liebe und des Dankes. Kurz nachdem Emma die neue Wohnung gefunden hatte, holte sie ihr Heiligtum von Frau Fodermayr und wies ihm seinen Altar auf einer Kommode an, die, spinnenbeinig und länglich schmal, in keinem Stück dem bauchigen Ungeheuer in Fodermayrs Kammer glich.

Und eines Abends, als die Dämmerung Zenzingers Eifer in lässiges Behagen verwandelt hatte, nahm Emma das Tuch von dem Kopf, zeigte ihn dem Freunde und erzählte ihm, der noch nie darnach gefragt hatte, ihre Geschichte, die mit der des Kopfes so eng verknüpft war. Eleagabal Kuperus wurde im hellen Glanze sichtbar, und dann begann der lange und abschüssige Gang ins Dunkel:

»Ich bin mir nicht ganz darüber klar gewesen, wessen Feindschaft ich mir eigentlich zugezogen habe. Ich hätte es aber wissen können. Ich habe ihn ja kennengelernt, als ich in seinem Haus bedienstet war. Damals, als er mich zum erstenmal seinem Willen unterwerfen wollte, und als mich mein Mann von ihm befreit hat. Niemals aber hätte ich gedacht, daß der Zorn eines Menschen so nachhaltig sein könne. Und daß ein Mensch die Macht hat, seinen Zorn so wirksam fühlbar zu machen. Von dem Augenblick an, als ich seinem Unterhändler die Tür gewiesen habe, ist er wie ein böser Geist auf meinen Wegen gewesen. Bezug hat mich mit seinem Haß verfolgt. Er hat alle meine Hoffnungen zerstört, er hat mir alles entrissen. Jetzt aber – bin ich ihm hoffentlich entronnen. Es hat damit begonnen, daß der Verleger, der sich zuerst doch selbst um die Werke meines Mannes beworben hat, auf meine Briefe keine Antwort gegeben hat. Ich habe ihn schließlich selbst aufgesucht. Er hat mich nicht empfangen und mir durch seinen Buchhalter erklärt, daß er sich die Sache überlegt habe, weil er keinen Erfolg voraussehen könne. Ich habe über seine Kurzsichtigkeit gelacht und bin zu einem anderen Verleger gegangen, der zuerst für den Gedanken begeistert war. Aber nach kurzer Zeit begann er die Verhandlungen in die Länge zu ziehen und brach sie schließlich unter einer ähnlichen Begründung wie der erste ab. Bei einem dritten und einem vierten war es nicht anders. Auf welche Weise Bezug von meinen Plänen Kenntnis erhalten haben kann, weiß ich nicht; aber soviel ist gewiß, daß er alle Bemühungen vereitelt hat. Nun stand ich mit meinem Erbe da und konnte nichts für das Andenken meines Gatten tun; ich konnte meine Sendung nicht erfüllen; und ich begrub alles, was mir von seinen Arbeiten anvertraut war, in der kleinen Kiste, die Sie dort sehen. Der Kampf um mein eigenes Leben begann und mußte ausgefochten werden. Was habe ich alles versucht, um mich zu retten? Welchen Arbeiten habe ich mich unterzogen! Denn nun, da ich mir klar darüber geworden war, daß ich einen Feind hatte, wäre es eine niedrige Schwäche gewesen, nicht allen Widerstand aufzubieten. Je mehr ich mich bemühte, desto deutlicher fühlte ich den Druck einer ungeheuren Hand über meinem Schicksal; um so grausiger und schneller waren die Wirkungen der lauernden Gewalt. Es war immer dasselbe. Wenn ich dachte, irgendwo festen Fuß gefaßt zu haben, und wenn ich die Zufriedenheit meiner Arbeitgeber wachsen sah, dann kam ein erster leichter Stoß, ein Beben des Bodens, den ich unter mir glaubte. Man vermied es mich anzusehen, man wich mir aus, und endlich kam der Augenblick, wo man mir, oft stockend und widerwillig – ich sah es ganz gut – mitteilte, daß man auf meine Dienste verzichten müsse. Man bemitleidete mich, aber man folgte den Befehlen meines Feindes. Als Erzieherin, als Sprachlehrerin, als Schreiberin habe ich gearbeitet. Und überall war das Ende das nämliche. Ein bedauerndes Kopfschütteln und Achselzucken, wenn ich nach den Gründen fragte, ein Verstummen und ein verlegenes Bestätigen der Entlassung. Irgendwo im Dunkeln, unfaßbar wie ein Nebel, aber durchdringend und nach allen Seiten hin wirksam, hockte die abscheuliche Gewalt, der ich unterlag. Zuerst trug ich meine Dienste in den Blättern selbst an, dann, als mir das Geld dazu fehlte, stand ich zitternd vor den Anzeigen, unter den anderen, die nach Stellen suchten. Wenn es mir gelang, etwas zu finden, so war es doch immer wieder bald verloren. Irgendein Gefühl, eine törichte Scham hielt mich ab, die Hilfe des Eleagabal Kuperus zu suchen, der mir so freundlich gewesen war. Wenn ich es doch getan hätte, bevor es zu spät war! Denn ich glaube, er, bei dem ich so viel Wunderbares sah, ist der einzige, der gegen Bezug auftreten kann. Als ich auf dem Gipfel der Verzweiflung angelangt war, geschah, was es mir für immer unmöglich macht, mich ihm zu nähern. Die Aufregungen des Suchens, die Beschämungen des Verlierens machten mich krank. Eines Abends trat zum erstenmal dieser Zustand ein, der mich dann immer öfter überfiel und mich zeitweilig meiner Sinne beraubte. Ich weiß nicht, ob es der Hunger war, oder ob meine Nerven gelitten hatten. Fieber oder Wahnsinn, irgend etwas kroch an mich heran, umklammerte mich und preßte meine Glieder, daß ich vor Schmerz schrie. Das erstemal ließ es nach meinem Schrei von mir ab. Eine Stumpfheit folgte, in der mir alles gleichgültig war. Wenn man mich mit Nadeln gestochen, mit glühenden Zangen gepeinigt oder gevierteilt hätte, so hätte ich wohl nichts davon gefühlt. Ganz fremde Gedanken, frech und träge wie Kröten, bemächtigten sich meiner, erfüllten mich ganz und verwandelten mein Ich. Nach einigen Stunden verging dies, und ich stand, als erwachte ich aus einer Hypnose. Wenn Sie an Fernwirkungen glauben, so werden Sie es begreiflich finden, daß ich vor diesem Zustand zitterte. Denn ich zweifelte nicht, daß ich in diesen Stunden dem Einfluß Bezugs unterlag, daß er meinen Willen gebrochen hatte, und ich schämte mich, daß ich mich selbst so völlig verlieren konnte. Nun raste ich umher und versuchte es von neuem, aus seinem Bann zu kommen. Hundertmal ermahnte ich mich, Eleagabal Kuperus aufzusuchen, aber wenn ich schon auf dem Wege zu ihm war, wurden mir mit einemmal meine Glieder so schwer, daß ich mich kaum bewegen konnte. Dann kroch es wieder hinter mir her, umklammerte mich und entriß mir in der folgenden Stumpfheit mein Ich. Immer länger dauerten die Umklammerungen, und immer länger war ich danach von fremden Gedanken erfüllt. Unterwirf dich ihm, redete es in mir, geh zu ihm, bring dich seiner Macht zum Opfer, gib ihm den Kopf, den er verlangt. Nun erschien mir nicht mehr Bezug, sondern mein Gatte als Feind. Seltener wurden die Stunden, in denen ich mir selbst angehörte. Auf der Straße, in meinem Zimmer fühlte ich den scheußlichen Polypen hinter mir, etwas glotzte mich unaufhörlich mit starren Augen an, und oft glaubte ich schlängelnde Schatten neben mir zu sehen, glatte Fangarme, die mich umspielten, Rüssel oder Fühler mit Händen an den Enden, die meine Bewegungen begleiteten. Man beobachtete mich, bewachte meine Gedanken, umspann mich mit Netzen. Eine Unsicherheit kam über mich, als ob mein Körper und meine Gedanken ihren Schwerpunkt verloren hätten und ich unfähig sei, das Gleichgewicht zu bewahren. Durch eine ungemein verdünnte Luft taumelte ich weiter, und dann wieder war es, als ob sich die Atmosphäre zu einer Gallerte verdichte, in der mein Körper stecken blieb und versank. Diesen Martern meiner Lungen gesellte sich ein häufiger Wechsel von Hitze und Kälte. Ich glaubte, mein Körper müsse einschrumpfen und zu Staub zerfallen; und wenige Minuten später war es mir, als reiße mich die Kälte auseinander, als werde mich jetzt ein Sprung durch die Mitte meines Leibes töten. Dies war die dritte Art von Erscheinungen, und von dieser bis zur folgenden Umklammerung wurden die Zwischenräume immer kürzer. Aber das furchtbarste war doch, daß ich in diesen Zeiten der Ruhe, in diesen Stunden der Willensfreiheit außerstande war, die Gedanken, die mich vorher erfüllt hatten, von mir fernzuhalten. Nachdem ich mich lange gewehrt hatte, gewannen sie die Übermacht, als hätten sie sich durch die häufige Wiederholung allzu tief eingegraben. Ich erzähle Ihnen alles dies so genau, damit Sie sich ein Urteil darüber bilden können, ob ich die Verantwortung für das trage, was ich tat. Denn wenn ich auch gewiß bin, daß ich in meinen Anfällen unter dem Einfluß Bezugs stand, so kann ich doch nicht daran glauben, daß ich in den Pausen, wo ich ganz klar dachte, wo alle körperlichen Begleiterscheinungen von mir gewichen waren, auch seiner Macht erlag. Eine Zeitlang suchte ich mich selbst vor mir damit zu entschuldigen, daß ich eine Nachwirkung seines Einflusses annahm und daß ich meine Verirrung nicht so sehr meiner Schwäche als seiner Bosheit zur Last legte. Aber als ich wieder den Mut zur Aufrichtigkeit hatte, bekannte ich mir, daß niemand anderer als ich selbst jene unheilvolle Stunde zu verantworten hat. Es gibt Dinge, um die man bis zum Äußersten kämpfen muß; da gibt es keine Entschuldigung des Schwachwerdens. Das sind die Dinge des Glaubens, für die Hunderte von Menschen die gräßlichsten Qualen erduldeten. Nachdem ich eine Zeitlang, Wochen hindurch Widerstand geleistet hatte, stieß ich mich selbst aus den Reihen der Helden und Märtyrer und beraubte mich selbst der Freundschaft des Eleagabal Kuperus. Er hatte mir aufgetragen, den Kopf meines Gatten niemals von mir zu geben, und dieses stillschweigende Gelöbnis aus einer feierlichen Stunde durfte ich nicht verletzen. Eines Tages geschah aber – in einer Zeit der Ruhe, bei voller Besinnung – folgendes. Ich ging im Zimmer auf und ab, sah aus meinem Fenster auf Höfe und in Baumkronen, in denen die Spatzen lärmten; alles war mir ganz klar, und ich erinnere mich sogar der Wolken, die über der Domkirche standen; ich kann mich also keineswegs damit trösten, daß ich unter Bezugs Einfluß stand; denn es fehlten alle Anzeichen davon und insbesondere jene Verschwommenheit, in der mir die Außendinge dann immer zerflossen. Plötzlich, als werde etwas Längstvorbereitetes nur enthüllt, als falle der Vorhang vor einem vollbrachten Werke, stand der Entschluß in mir fest, mein Elend zu beenden. Warum quälte ich mich so sehr, warum ließ ich meine Seele so martern, wenn nichts anderes zu tun war, als zu Bezug zu gehen und ihm das Haupt meines Gatten zu bringen. Ich wußte, daß ich befreit war, wenn ich mich seinen Wünschen gehorsam zeigte. Ohne mich einen Augenblick länger zu bedenken, machte ich mich zum Ausgehen fertig, hüllte meines Gatten Kopf in Tücher ein, als wäre er eine Ware oder ein Kürbis, und schlug den Weg zu Bezugs Palast ein. Nicht stumpfsinnig und ergeben ging ich hin, sondern selbstbewußt, wie jemand, der zu einem ehrenvollen Vergleich geht, bei dem beide Teile gewinnen. Bei vollem Bewußtsein, muß ich Ihnen wiederholen. Und ich war schamlos genug, mir selbst einzugestehen, daß ich bereit sei, nicht nur meines Gatten Kopf, sondern mich selbst Bezug hinzugeben, wenn er es von mir verlangen sollte. Zuerst schenkte ich den Leuten auf der Straße wenig Aufmerksamkeit. Ich ließ die Spaziergänger und die Geschäftigen vorbeigehen und sah nur manchmal in einen oder den andern der Laden, in denen Toilettengegenstände und Eßwaren ausgestellt waren, als suche ich schon jetzt die Dinge aus, die ich nach dem Vertragsabschluß mit Bezug zunächst zu kaufen hatte. Als ich aus den lärmenden Straßen des Geschäftslebens in die breiten, ruhigen Gassen des vornehmen Viertels kam und das Gewühl der Menschen sich auflöste, bemerkte ich eine Frau vor mir. Sie ging ungefähr zwanzig Schritte vor mir denselben Weg. Sie trug ein in Tücher gehülltes Paket im Arm und irgend etwas an ihr kam mir bekannt und zugleich seltsam grausig vor. Meine Neugierde war erweckt, und ich ging rascher und rascher, um einen Blick auf ihr Gesicht zu tun, und zugleich zitterte ich vor Angst, als müsse mir dieser Blick etwas Schreckliches zeigen. Aber so sehr ich mich bemühte, ihr vorzukommen, sie blieb immer in gleicher Entfernung von mir, anscheinend ohne sich zu beeilen. Immer bekannter kam mir diese Frau vor, jede ihrer Bewegungen, die Haltung des Kopfes, und ihr Gang, schienen mir vertraut. Im hellen Sonnenschein schritt sie vor mir über die Straße, gerade dort, wo ich die Straße kreuzen mußte, um zu Bezugs Haus zu kommen; sie bog in die Nebengasse ein und hielt immer meine Richtung. Ich glaube, ich bin hinter ihr hergelaufen, aber ich konnte ihr nicht näher kommen. Endlich ging sie geradewegs auf Bezugs Haus zu und mit einem furchtbaren Schlag, der durch meinen ganzen Körper ging, erkannte ich nun unzweifelhaft, daß sie dasselbe Ziel hatte wie ich. Ich wollte stehen bleiben und mich, außer mir vor Angst, verstecken; aber irgend etwas trieb mich vorwärts, trug meine erstarrten Glieder weiter und zwang mich dieselbe Richtung einzuhalten. Eben in dem Augenblick, als sie die oberste Stufe der Treppe erreicht hatte, setzte ich meinen Fuß auf die unterste. Da – es war mir, als sei ich gestorben – wandte sie sich nach mir um und ich sah mich – mir selbst gegenüber. Das war ich und doch nicht ich, denn ich stand ja unten und hielt den Kopf meines Gatten im Arm. Plötzlich aber ... ich starrte sie noch an, ohne mich zu regen, fielen die Tücher von dem Paket, das sie trug, und mit beiden Händen hielt sie mir das Haupt meines Gatten entgegen. Da, mit einem plötzlichen Stoß kam mir die Kraft, dem ersten Antrieb des Lebens, dem Trieb zur Flucht zu folgen. Ich lief und lief durch den Park an die Grenzen der Stadt, über Felder und Wiesen, kam wieder in Vorstädte, rannte fremde Straßen auf und ab; als ich bei Einbruch der Nacht zu mir kam, bemerkte ich, daß ich den Arm, in dem ich den Kopf getragen hatte, noch fest an mich gepreßt hielt. Aber der Kopf war fort. Ich wußte aus irgendeinem Grunde, der in mir war, ohne daß ich hätte angeben können, woher, daß ich den Kopf nicht verloren hatte, ich stieg zu meinem Zimmer hinauf und machte Licht. Da stand der Kopf unter seiner Glasglocke, als ob ich ihn niemals fortgenommen hätte, und auf einem Stuhl lagen die Tücher, in die er gehüllt gewesen war. Die Nacht war schrecklich, von Reue und Angst erfüllt. Mehr als jemals fürchtete ich, die Anfälle, in denen Bezug mich beherrschte, können wiederkehren, und ich war sicher, daß ich mich würde töten müssen, wenn sie noch einmal kämen. Aber ich blieb frei von ihnen, in dieser Nacht und am folgenden Tage, und sie sind nicht wiedergekommen. Seit diesem schrecklichen Erlebnis bin ich von ihnen verschont. Ich habe mich nicht bemüht, eine Erklärung für das Unerklärliche zu suchen. Mein Gatte hat mir verziehen, ich selbst aber konnte es noch nicht. Am Morgen nach der Nacht, in der ich mir seiner Verzeihung bewußt wurde, kam die Frau, die früher bei uns als Bedienerin gewesen war. Sie hatte von meiner Not gehört und mich lange vergebens gesucht; und sie weinte nun vor Rührung, als sie mich gefunden hatte. Sie überredete mich, zu ihr zu ziehen, und sie schützte mich solange, bis mein Schicksal den Weg nahm, auf dem ich nun zu Ihnen gelangt bin.«

Nikolaus Zenzinger saß vor Emma, strich mit der Hand über sein weißes Haar, daß die von der Arbeit aufgewirbelten Strähne glatt in die Stirn sanken, und sah nach dem Kopf, als wolle er von ihm eine Antwort auf ungesprochene Fragen holen. Dann erhob er sich und deckte das Tuch über die Glasglocke. Das weiße Gesicht verschwand aus der Dämmerung. Er wünschte etwas zu sagen, was seinen Anteil gezeigt hätte. Aber es fiel ihm nichts ein. Da ging er zu Emma hin, nahm ihre Hand und sagte: »Ja, ... ja ... wir bleiben schon zusammen, Frau Emma.« Und erstaunt, bestürzt und erschrocken fühlte er einen Kuß auf seiner runzligen und zitternden Hand.


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