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Auf Antothrake

Zum Mittagszug, der nach Süden geht, hatte Elisabeth großes Geleite. Außer Adalbert gingen noch Bezug, Rudolf Hainx und Hecht auf den Bahnhof mit. Frau Agathe lag mit unerträglich gesteigerten Kopfschmerzen zu Bett, hatte Elisabeth eine matte, von der Wärme des Bettes welke und feuchte Hand gereicht und mit versagender Stimme einen Abschiedsgruß geflüstert. Der Bahnsteig war voll Menschen, aber, sobald man Bezug und seine Tochter erkannt hatte, gab man einen Raum um sie und ihre Begleiter herum frei, schied sie durch eine vom Respekt geschaffene leere Zone von der namenlosen Masse der übrigen Reisenden und beobachtete sie mit gespannter Aufmerksamkeit. Die Gerüchte vom Verlobungsfest im Haus Bezugs hatten die ganze Stadt hypnotisiert. Wer den Vorzug gehabt hatte, bei diesem Fest zugegen gewesen zu sein, tat sein Möglichstes, um durch die Bedeutung und den Glanz seiner Schilderung seine eigene Persönlichkeit strahlender hervortreten zu lassen. Alle Ereignisse gewannen an Umfang und Wucht, und was man von der fürchterlichen Szene mit dem Wahnsinnigen erzählte, war nicht minder geeignet als die Beschreibung des Festes, die Scheu vor Bezug noch zu erhöhen. Mit Befriedigung sah Bezug an dem ehrerbietigen Zurückweichen der Menge, daß er wieder um einiges erhöht worden war. Selbst die Gepäckträger, die sonst unter rücksichtslosem Geschrei und Drängen ihre schwerbeladenen Rollwagen durch das dichteste Gewühl schieben, wichen der geschützten Insel aus.

Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit vollzog sich der Abschied. Man sah, wie sich ein Dienstmann mit einem großen Rosenstrauß durch die Leute drängte und wie ihm der Strauß von Hecht, der den Mann offenbar erwartet zu haben schien, abgenommen wurde. Dann reichte Hecht mit einer kleinen Verbeugung den Strauß seiner Braut. Elisabeth nahm ihn entgegen, und fühlte durch den hellgelben Handschuh hindurch die Wärme der Hand, die den Strauß bis jetzt getragen hatte. Es ekelte sie an und am liebsten hätte sie die Blumen sogleich wieder hingeworfen, wenn sie nicht aller Blicke auf sich gerichtet gesehen hätte. Es war ein böses Lächeln, mit dem sie Hecht für sein Geschenk dankte. Indessen hatte sich der Stationsvorstand genähert und ein respektvolles Gespräch mit Bezug begonnen. Der bestellte Wagen stand schon auf einem Nebengeleise bereit, und wenn es den Herrschaften gefällig war, konnte sogleich eingestiegen werden. Wenn der Eilzug dann eingefahren war, würde der Wagen an den Zug angeschoben werden.

»Aber nicht als letzter Wagen,« sagte Elisabeth, »das kann ich nicht vertragen.«

»Bitte, wie Sie wünschen«, beeilte sich der Stationschef seine Bereitwilligkeit zu beweisen.

Unter der Leitung Annas und eines Dieners, der gleich ihr mitgenommen werden sollte, begann die Verladung des Gepäcks. Mit Staunen sahen die auf dem Bahnsteig Gestauten, wie viele Koffer und Kisten, Schachteln und Pakete nötig waren, um Elisabeth für einige Wochen Behagen und gewohnte Ordnung zu geben. Außer diesen als Handgepäck in den Sonderwagen verladenen Stücken wurde aber noch eine ganze Barrikade aus größeren Koffern und Kisten auf dem Bahnsteig errichtet. Die sollten als Frachtgut in dem Gepäckwagen des Eilzugs untergebracht werden. »Hörst du,« sagte der eine der Träger zu dem Diener Elisabeths, der hier nun die Arbeit überwachte, »dort dos Riesentrumm, dos schwere, dos mit dem Lastzug nachgeht ... dos is a Sarg, hat aner g'sagt ...« Der Mann war aus demselben Dorf wie der Diener und zeigte mit einem gewissen Stolz die alten vertrauten Beziehungen vor dem Publikum. Karl aber sah ihn mit allem Hochmut des erfolgreichen Mannes an, der einem in niederer Sphäre verbliebenen, einst Gleichstrebenden begegnet. Während der Träger die Kappe abnahm und mit dem roten Tuch die schwitzende Stirn trocknete, sah ihm Karl mit verächtlich hochgezogenen Mundwinkeln zu und sagte dann nach einer genügend langen Pause mit gemessenem Ton: »Das ist kein Sarg, sondern ein Sarkophag ...«

»Aha!« sagte der Träger und fragte nicht weiter, denn er empfand dunkel, daß ihn eine jede weitere Frage noch tiefer in Karls Schätzung herabsetzen mußte.

Das Drahtgeflecht, das unmittelbar vor der Einfahrt des auf dem ersten Geleise kommenden Zuges zum Schutz des Publikums herabgelassen wird, sank nieder und draußen, hinter den Dächern der Magazine und Heizhäuser verkündete eine Reihe geballt aufsteigender Rauchwolken, die wie aus einer ungeheueren Pfeife zu kommen schienen, das Herannahen des Eilzuges. Dann bog die Lokomotive um die letzte Kurve und fuhr, die lange Zeile der vollbesetzten Wagen hinter sich herschleppend, mit donnerndem Toben und unter dem betäubenden Zischen des Dampfes in den Bahnhof ein. Das Drahtgeflecht wurde hochgezogen, und die Reisenden beeilten sich, einen Platz zu suchen. Vom Stationschef geführt, bahnten sich Elisabeth und ihre Begleiter einen Weg durch das Getümmel, selbst jetzt noch, in der Aufregung des Einsteigens durch bereitwilliges Zurückweichen der Reisenden respektiert. Am Ende des Zuges ging die von Elisabeth gewünschte Verschiebung vor sich. Der letzte Wagen wurde abgekoppelt und der bestellte Separatwagen eingeschoben. Anna und Karl standen vor der geöffneten Tür. Als Bezug seine Tochter umarmte, sagte er leise, nahe an ihrem Ohr: »Ich will dir nur sagen, daß er ein Bild mitgenommen hat.« Und als ihn Elisabeth fragend ansah, setzte er hinzu: »Ein Bild, das nicht dir ähnlich sieht ...« Ohne eine Antwort zu geben, stieg Elisabeth, von Adalbert gefolgt, in den Wagen. Schon war das Getümmel des Einsteigens vorbei. Die Zurückbleibenden hatten sich von den Abreisenden gesondert. Gespräche an Fenstern ... Händeschütteln unter erschwerenden Umständen ... letzte Aufträge und Grüße. Der Stationschef stand in einiger Entfernung von der Gruppe um Bezug, als ein taktvoller Mann, der in einem intimeren Beziehungen geweihten Augenblick nicht aufdringlich erscheinen will. Nun war alles zur Abfahrt fertig. Eine Signalpfeife schrillte vorne, die Kondukteure hoben, einen Fuß schon auf den Trittbrettern, die Hände und der Zug setzte sich mit einem plötzlichen Ruck in Bewegung. Elisabeth stand am Fenster, Adalbert hatte auf der dem Bahnsteig abgewandten Seite Platz genommen. Nachlässig winkte Elisabeth ihren Begleitern zu. In diesem Augenblick sah Elisabeth, wie Hainx ihrem Bräutigam etwas zuflüsterte. Hecht fuhr auf, wie von einem Hieb getroffen und sah wild um sich; es schien, als wolle er sich auf den Wagen losstürzen. Aber Hainx hielt ihn am Rockärmel zurück, indem er mit einer grausamen und triumphierenden Miene nach Elisabeth hinsah. Da aber traf ihn ihr wilder und befehlender Blick, und plötzlich erblassend, senkte er vor ihrer Macht die Augen. Langsam in ein schnelleres Tempo gleitend, verließ der Zug den Bahnhof.

Elisabeth war mit Adalbert allein. Sie trat in das Wagenabteil und zog, nachdem sie die Gangtür vorgeschoben hatte, auch den Vorhang mit den eingewirkten Flügelrädern vor. Dann kam sie, sich an den Gepäcksnetzen über ihrem Kopf anhaltend, denn der Zug, der eben über das große Wechselsystem des Bahnhofs fuhr, rüttelte, stieß und schwankte, zum Fenster und ließ sich Adalbert gegenüber nieder. Mit abgewandtem Gesicht saß sie da und sah hinaus, als wäre sie ganz allein im Wagen. Sie hatte die Beine übereinandergelegt, so daß das übergeschlagene Bein, frei im Kniegelenk beweglich, bei jedem Stoß des Wagens baumelte und die Fußspitze manchmal gegen Adalberts Schienbein stieß. Mit zusammengezogenen Augenbrauen, ohne sich aber dieses Ausdrucks der Mißbilligung und Abwehr bewußt zu sein, sah sie Adalbert an. Ein verirrter Strahl der hochstehenden Sonne fiel in den Wagen. Und Adalbert sah auf der weichen Wange Elisabeths eine ganz leichte Puderschicht, die an den Flaum eines Pfirsichs erinnerte. Unter dieser Schicht schimmerte eine leicht gerötete zarte Haut. Von den Augen sah Adalbert nicht viel. Nur die leichte Bucht der Profillinie, die zu der klaren, nicht allzu hohen Stirne führte. Und in dieser Bucht einen schweren, schwarzen Schatten, den letzten Teil jenes dunkeln Sees, der unter den Augen lag. Es fiel ihm ein, was die Gräfin gesagt hatte. Und dann erinnerte er sich wieder der frivolen Künste Elisabeths bei dem Puppenspiel, die dazu bestimmt schienen, ihn zu umspinnen, deren Sinn sich gegen ihn richtete, um ihn zu verwirren und zu umfangen. Und diese sonderbare Laune, ihn als Begleiter mitzunehmen ... Unwillig rückte Adalbert von Elisabeth fort. Aber dann lächelte er. Er war stark und fest in sich. Die Zeit brutaler Wünsche lag so weit dahinter, wie die Höhle des Vaters, und die Zeit der furchtbaren Verwirrung, eines unklaren und rätselhaften Dranges, der ihn die Orchideenbeete vernichten ließ, war ihm fern und fremd. Mit Regina hatte er Achse und Pol seines Lebens gefunden. Und lächelnd dachte er an das gerettete Bild, das er auf dem Grund seines Koffers mit sich führte, wie an einen Talisman, dessen Besitzer kein böser Geist zu schaden imstande ist.

Einige Stunden vergingen, ohne daß die beiden ein Wort gesprochen hatten. Elisabeth hatte ein Buch aus ihrer Handtasche hervorgeholt und zu lesen begonnen. Als sie die Handtasche herabhob, hatte sie sich nach dem etwas hoch angebrachten Gepäcknetz strecken müssen, und ihr schmiegsamer schlanker Körper zeigte dabei eine Schönheit der Linien, die Adalbert nicht entging. Er hatte eine Bewegung gemacht, als wolle er Elisabeth behilflich sein, aber sie hatte ihn so unwillig und fast zornig angesehen, daß er zurücksank. Dann saß sie mit dem Buch in ihrer Ecke und las, bis die Sonne ganz tief am Himmel stand. Sie kam mit einem rötlichen Schein in den Wagen, aber der vor die Gangtür gezogene Vorhang verhinderte sie daran, in das Abteil selbst zu dringen. So war nur der Vorhang in hellstes Licht getaucht, fast wie ein Transparent, das zu irgendeinem Fest angebracht wurde. Als Adalbert sich überzeugt hatte, daß Elisabeth nicht beabsichtigte, seine Dienste als Unterhalter in Anspruch zu nehmen, hatte auch er ein Buch vorgenommen. Station folgte auf Station, und da der Wagen Elisabeths an den Umsteigestationen verschoben wurde, brauchte man nirgends auszusteigen. Nur wenn man irgendwo anhielt, wo das Getriebe des Bahnhoflebens sich unmittelbar vor ihrem Fenster entfaltete, richtete Elisabeth einen gleichgültigen Blick auf die Menschen, die da vorübergingen. Es geschah, daß der eine oder der andere der Reisenden, die suchend die Wagen entlangschritten, diesen Blick auffing und erstaunt durch einen Augenblick des Zögerns Elisabeths Schönheit seine Huldigung erwies. In solchen Augenblicken empfand Adalbert einen ungemeinen Stolz darüber, daß er als einziger Begleiter dieser Frau auffallen mußte, und indem er sich nahe an das Fenster stellte, warb er um den Tribut der Fremden. Der eine oder der andere versuchte es auch wohl, mit der Kühnheit des Abenteurers in den Wagen einzudringen, mußte aber nach einem kurzen Wortwechsel mit dem Kondukteur davon abstehen.

Gegen Abend klopfte Karl an die Tür und erkundigte sich, ob das gnädige Fräulein in der nächsten Station, wo man längeren Aufenthalt habe, etwas zu speisen wünsche. Elisabeth bestellte, ohne Adalbert anzusehen und zu fragen, zwei kleine Mahlzeiten und eine Flasche Wein. Sie aßen, ein kleines Tischchen, das unter Elisabeths Gepäck mitgenommen worden war, zwischen sich. Ihre Knie berührten sich zwischen den schlanken Beinen des Tischchens. Noch immer hatte Elisabeth kein Wort gesprochen und Adalbert hatte trotzig bei sich beschlossen, keinesfalls zuerst das Schweigen zu brechen. Allmählich war ihm die Stummheit Elisabeths lästig geworden, und er legte sie sich als ein Zeichen der Verachtung aus. Bald nach dem Speisen wurde die Lampe entzündet. Elisabeth sah in die Flamme und das Licht floß über ihr Gesicht, die schönen, geraden Schultern und schien sich wie in einem Becken in ihrem Schoß zu sammeln und die gefalteten, ruhig liegenden Hände zu bespülen. Adalbert, der im Dunkel saß, konnte den Blick nicht von seiner Herrin wenden. Der Ausdruck ihres Gesichtes rührte ihn, irgend etwas näherte sie seiner Regina. Was mochte das sein? Sie sah so unendlich sehnsuchtsvoll in das Licht und alle Härten waren von ihr genommen, alle Wildheit und alle Zügellosigkeit, die oft auf ihrem Antlitz flammte. Plötzlich erhob sie sich und sagte leise: »Gute Nacht«. Darauf verließ sie das Abteil und ging in das Schlafkupee, wo Anna inzwischen alles zur Nacht vorbereitet hatte.

Adalbert saß noch eine Stunde in seiner Ecke und rauchte eine Zigarette nach der andern. Er sah zu, wie der blaue Rauch aufstieg, zuerst in unruhige Wirbel geriet und dann von der Zugluft des offenen Fensters erfaßt und in die Nacht hinausgerissen wurde. Manchmal flogen rasche Funken vorbei, oberhalb oder unterhalb eines rötlichen Mondes, der sich endlich aus einem Gewirr von Ästen am Horizont befreit hatte. Dann kam plötzlich die Erinnerung an Regina zurück, so mächtig, als habe sie den ganzen Tag unter einer Hemmung gelitten und erwache jetzt erst, in der Stille der Nacht zu rechtem Leben. Manchmal rasselte der Zug durch kleine Stationen, in denen nur einzelne trübe, verdrossene Lichter wie blinzelnd nach dem Zug sahen. Endlich stand Adalbert auf und hauchte einen Kuß in die Luft. »Gute Nacht«, sagte er und lächelte, als er sich erinnerte, daß Elisabeth vor einer Stunde dieselben Worte gebraucht hatte.

Er suchte seine Schlafabteilung auf, fand mit Behagen alles zu seiner Bequemlichkeit bereitgestellt, entkleidete sich und legte sich zu Bett. Plötzlich fiel ihm ein, daß er neben Elisabeth lag. Er hielt den Atem an, ob er nicht noch ein Geräusch vernehmen könne. Aber mit heftigen, gesteigerten Schlägen zerstückelte das Rasseln des Zuges jede Wahrnehmung. Trotzdem schien es ihm, als höre er zwischendurch und darüberhin ein leichtes, gleichmäßiges Atmen. Sie schlief wohl schon. Und mit einemmal, als er so dalag und sann und horchte, wurde er sich dessen bewußt, daß ihm Elisabeth leid tat. Da aber sah er wieder Bezug vor sich und entsann sich der brutalen Art, wie er sein Mitleid abgewehrt hatte. Sollte er sich auch von Elisabeth zurückstoßen lassen? Er beschloß, niemals zu verraten, was über ihn gekommen war ... Dann, als sei er mit diesem Entschluß am Ende einer langen Gedankenreihe angelangt, schlief er ein.

Am frühen Morgen erwachte er von einem Klopfen. »Bitt' schön,« sagte Karl draußen, »in einer Stunde sind wir in Triest.« Adalbert zog den Vorhang von seinem Fenster. Leichter Nebel lag über der Landschaft und ließ nur die nächsten Dinge erkennen.

Langsam kleidete er sich an, und als er aus der Tür trat, traf er gerade mit Elisabeth zusammen, die eben ihre Schlafabteilung verließ. Sie trug ein anderes Kostüm als am Tag vorher, eine Art Matrosenbluse mit freiem Halsausschnitt und losen Falten. »Guten Morgen,« sagte sie und reichte ihm eine kühle Hand, »wie haben Sie geschlafen?«

Adalbert erzählte, daß er noch aufgeblieben sei, Zigaretten geraucht und aus dem Fenster gesehen habe, und Elisabeth schien damit nicht unzufrieden zu sein.

»Unterhaltend waren Sie gestern aber nicht«, sagte sie und sah ihn an.

Adalbert war verletzt: »Sie hätten mir sagen sollen, daß Sie meine Dienste in Anspruch nehmen wollen ...«

Man fuhr in den Bahnhof ein und wurde vom Dienstpersonal der Jacht empfangen. Der Wagen stand vor der Bahnhofauffahrt und brachte sie durch das bald erwachende Leben des Hafens zum Schiff Bezugs, das mit hochgezogenen Wimpeln auf die Tochter seines Herrn wartete. Elisabeth war sehr gesprächig und plauderte über alle Dinge und Menschen, an denen sie vorbeikamen. Mit scharfem Blick erfaßte sie die Typen des südlichen Hafens und knüpfte an ihre Beobachtungen Erinnerungen an frühere Reisen, harmlos wie ein junges Mädchen, das sich freut, auf einige Wochen aus dem Haus zu kommen. Noch lag der leichte, dünne Nebel über dem Wasser, aber schon begann der Morgenwind an seinen Schleiern zu zausen und hatte hoch über den Masten der Schiffe schon den Himmel frei gemacht. Die Wimpel flatterten wie zur Begrüßung wehende Tücher. Am Fallreep empfingen der Kapitän und die zwei Schiffsoffiziere in großer Galauniform die Ankommenden. Der Kapitän, ganz rot vor Eifer und Beflissenheit, reichte Elisabeth die Hand, half ihr über die letzten Stufen und hielt hierauf eine kleine Ansprache in seinem schwerfälligen, mit italienischen Worten versetzten Deutsch. Elisabeth erwiderte ihm in italienischer Sprache, daß sie sich freue, sich wieder einmal seiner Führung anvertrauen zu können und daß sie auf gutes Wetter hoffe.

Adalbert stand, wenig beachtet, abseits und war froh, daß man sich nicht viel um ihn bemühte. Als sie an das Schiff herangekommen waren, hatte er den Namen auf dem Heck gelesen. In goldenen Buchstaben stand da: Regina maris, die Königin des Meeres. Dieser Name klang ihm wie ein Vorwurf, und er wußte doch nicht, wodurch er ihn verdient hatte. Er sprach ihn einige Male vor sich hin und erschrak fast, als sich ihm Karl näherte und meldete, daß ihn das Fräulein unten in der Kajüte zum Frühstück erwarte.

Der Kapitän war anwesend, ein noch junger, schwarzhaariger Mann mit befehlenden und feurigen Augen, der sich, so oft er noch das Glück gehabt hatte, Elisabeth auf seinem Schiff zu empfangen, immer wieder in sie verliebte. Er fühlte sich verpflichtet, als Hausherr dem Frühstück beizuwohnen, und saß Elisabeth gegenüber. Während er aß und mit vollen Backen kauend an der Unterhaltung teilnahm, verschlang er Elisabeth mit den Blicken. Plötzlich fragte er, mit einer halben Wendung nach Adalbert hin, ob das des gnädigen Fräuleins Bräutigam sei.

»Nein,« lachte Elisabeth, »nur ein Interims-Bräutigam; den richtigen habe ich zu Hause gelassen.«

Über den Köpfen der Speisenden begann der Lärm der Abreise. Der Kapitän fragte Elisabeth, ob sie wünsche, daß man den Hafen verlasse, und als sie erklärte, daß sie gerne der Abfahrt zusehen würde, gab er sofort den Befehl, die Vorbereitungen einzustellen. Nach dem Frühstück ging man auf Deck. Elisabeth voran, der Kapitän, der Adalbert fast gewaltsam zurückdrängte, dicht hinter ihr. Seitdem er wußte, daß Adalbert nicht Elisabeths Bräutigam war, behandelte er ihn als höchst überflüssigen Dritten, als einen unangenehmen Begleiter, dem man nicht deutlich genug zu verstehen geben konnte, wie lästig er war. Wenn Adalbert nur Miene machte, an Elisabeths Seite zu kommen, manövrierte der Kapitän so geschickt, daß er ihm immer den Weg abschnitt. Endlich gab Adalbert seine Bemühungen auf und blieb einige Schritte zurück, ohne weiter darüber zu zürnen, daß er nun wie ein Lakai seiner Herrin zu folgen gezwungen war. Die Matrosen und Offiziere taten ihr Bestes, um die Arbeiten des Abfahrens rasch und geschickt vor Elisabeth auszuführen. Während die durcheinanderlaufenden Taue gelöst wurden und der Anker rasselnd hochging, erklärte der Kapitän, soweit er imstande war, das ihm Selbstverständliche zu erklären, die einzelnen Handgriffe. Endlich faßte der Wind in die Segel, mit einer leisen Neigung zur Seite glitt die Jacht durch die im Hafen liegenden Schiffe hinaus. Noch immer lag der leichte Nebel über dem Meer, aber schon ganz dünn, daß man es nicht einmal für nötig fand, Signale zu geben. Adalbert stand da, die Hände auf die Bordwand gestützt und sah hinaus. Das Gefühl des Gleitens auf glatter Bahn ging in seinen Körper ein und machte ihn ganz wundersam froh, erhöhte sein Lebensgefühl, so daß er mit beiden Händen an der Bordwand zu rütteln begann. Die Sonne legte jetzt eine lange, glänzende Bahn über das Meer, und zu beiden Seiten dieser Bahn wichen die Nebel zurück. Immer breiter wurde die freie, glitzernde Fläche. Adalbert staunte hinaus.

»Sie sehen das Meer zum erstenmal?« sprach ihn Elisabeth an. Sie hatte sich erst nach Adalbert umgeschaut, und als sie sah, daß er von dem Kapitän verdrängt worden war, ließ sie den übereifrigen Verehrer stehen und kam auf Adalbert zu. Mit einer entschuldigenden Bewegung der Hand sagte sie: »Mich hat die Abfahrt so sehr interessiert, daß ich beinahe Sie vergessen habe.« Adalbert war durch die Weichheit in Elisabeths Ton seltsam berührt und wurde ganz auf die Höhe gehoben, als sich der Kapitän zu nähern versuchte und von Elisabeth unzweideutig abgewiesen wurde. Sie ließ ihn sprechen und sah inzwischen ins Wasser, und wenn er dann fertig war, wandte sie sich wieder an Adalbert, um das unterbrochene Gespräch fortzusetzen. Der Kapitän wurde wütend und geriet immer mehr in Aufregung, bis er endlich nach einem drohenden Blick auf Adalbert die beiden allein ließ.

»Nehmen Sie sich in acht,« sagte Elisabeth mit gänzlich verändertem Ausdruck, fast ängstlich, und faßte Adalberts herabhängende Hand, »jetzt haßt er Sie, und der Mann ist gefährlich.«

Als Adalbert eine Bewegung geringschätziger Abwehr machte, fuhr sie fort: »Nein, mein Lieber, geben Sie acht. Gehen Sie nicht allein irgendwohin, wo ein rascher Stoß genügt, um Sie ins Wasser zu werfen. Ich bitte Sie, seien Sie nicht unvorsichtig. Der Mann hat mehr als ein Leben auf dem Gewissen. Mein Vater hat ihn gerettet und einen unbedingt ergebenen Diener gewonnen. Aber gegen Fremde kennt er keine Schonung. Es war unvorsichtig von mir, ihn so zu reizen. Aber Sie werden mir jetzt nicht von der Seite gehen, so lange wir auf dem Schiff sind.«

Adalberts Hand lag noch immer in der Elisabeths, und es schien ihm, als sei der warme Strom, der aus dieser Hand kam, irgendwie jenem Gefühl des Gleitens verwandt, das er vorhin empfunden hatte. Nun machte er sich sanft los. Aber er konnte es nicht verhehlen, daß er einen Augenblick lang diese Berührung als ein großes, fast schmerzhaftes Glück empfunden hatte.

Die Jacht fuhr zwischen Inseln durch, auf denen weiße Häuser und grüne Flecken wie Farbtupfen auf dem Braun und Grau der Felsen saßen. Manchmal kam dann wieder die Küste in Sicht. Die Sonne begann so mächtig zu werden, daß Elisabeth und Adalbert den Schatten des ausgespannten Segels aufsuchen mußten. Mittags mußten sie auf die Gesellschaft des Kapitäns verzichten. An seiner Statt hatte er den ersten Offizier geschickt und sich durch eine dringende Arbeit entschuldigen lassen. Der Offizier war ein schweigsamer Mensch, ein Deutscher, aber Elisabeth wußte ihn durch ihre Liebenswürdigkeit so anzuregen, daß er aus sich herausging und lustige Schiffergeschichten zu erzählen begann.

Nach dem Speisen lag Elisabeth lang ausgestreckt auf einem bequemen Stuhl unter dem Sonnensegel, und Adalbert saß neben ihr, sah auf das Meer hinaus und kam sich vor, als sei ihm der Schutz dieses Weibes anvertraut worden. So blieben sie bis gegen Abend, bis Elisabeth, scheinbar aus einem langen Dämmern aufwachend, ein Gespräch begann.

»Sagen Sie mir,« fragte sie, »was denken Sie eigentlich von mir?«

»Was ich von Ihnen denke? Wie soll ich das Ihnen sagen?«

»Es ist also nichts Gutes?«

»Nicht deshalb. Aber ich bin nicht klug genug, um über Sie zu einem Urteil zu kommen.«

»Weichen Sie mir nicht aus. Ich will, daß Sie sprechen. Wir Frauen haben es gern, wenn man sich mit uns beschäftigt. Wir wollen, daß man über uns nachdenkt.«

»Wenn ich also sprechen soll ... ich glaube, daß Sie nicht auf Ihrem Platz stehen.«

»Wie meinen Sie das?«

»Wie ich das meine ... Sie hätten nicht als Bezugs Tochter geboren werden sollen. Ich denke, Ihre Seele ist krank an dem Überfluß, der Sie umgibt. Sie hätten in einem strengeren Klima aufwachsen sollen.«

Elisabeth hatte die Augen geschlossen und schwieg. Adalbert aber fuhr, immer wärmer werdend, fort: »Ich meine: Sie haben die Arbeit niemals kennengelernt, und darum fehlt Ihnen das Gleichgewicht; vielleicht sehnen Sie sich manchmal nach einem Beruf.«

»Ist es kein Beruf,« sagte Elisabeth und sah Adalbert mit einem Blick an, der ihm eine seltsame Mischung von Schwärmerei und Hinterlist zu haben schien, »ist es kein Beruf, schön zu sein? Die Blumen, sehen Sie die Blumen an ... welchen Beruf haben die? Keinen andern, als zu schmücken.«

»Ich habe in einem sehr gelehrten Buch gelesen, daß sie deshalb so schön und duftend sind, um Insekten anzulocken. Die fliegen von einer zur andern und besorgen durch Übertragung des Blütenstaubes das Geschäft der Fortpflanzung.«

Adalbert erschrak vor der Veränderung, die in Elisabeths Zügen vor sich ging. Die schwärmerische Hingabe verschwand und zornig, haßerfüllt sah sie ihn an. In diesem Augenblick kam der erste Offizier und meldete, daß Antothrake in Sicht sei. Elisabeth stand auf und ging nach dem Bug, wo sie schwarz vor einem hellgelben Horizont stand, bis die Jacht die Anker herabließ. Zum Abschied kam der Kapitän wieder feierlich an die Treppe. Er versuchte sich zu beherrschen, aber nur mühsam hielt er sich zurück. Elisabeth ließ erst Adalbert einsteigen und folgte ihm, nachdem sie durch ein paar freundliche Worte die Laune des Kapitäns wieder etwas gebessert hatte.

Es war schon Nacht, als das Boot in den kleinen Hafen der Insel einfuhr. Eine doppelte Reihe von Fackeln beleuchtete den Weg vom Strand zu Bezugs Villa. Adalbert ging hinter Elisabeth her und sah die zwei Schatten, die sie in der beiderseitigen Beleuchtung warf, über den Muschelkies gleiten. Auf den Treppen der Villa erwartete sie die Dienerschaft, und Elisabeth gab Befehl, das Nachtessen für sie in ihren Zimmern zu servieren. Über Adalberts Unterkunft und Verpflegung gab sie keine Anordnungen, und als der Kastellan ihm mitteilte, daß man für ihn in der großen Halle gedeckt habe, ließ es Adalbert dabei bewenden.

Die große Halle war nach dem Meere zu mit einer Reihe von Säulen offen und mit einer Terrasse davor, die hoch auf steilen Klippen hing. Vor den Öffnungen der Säulenbogen lag das Meer in einem leuchtenden Schimmer, wie von innen erleuchtet, in dem jede der langrückigen, langsam rollenden Wogen ein Sprühen von Funken entzündete. Die schmalen weißen Wogenkämme liefen langsam durch den grünen Glanz. Adalbert kam sich hier in ein Reich des Seltsamen versetzt vor. Sein Weg hatte von dem heiteren freien Portikus durch enge Gänge geführt, die von nassen, massigen Mauern begrenzt waren. Er war auf schmalen Treppen durch mehrere Stockwerke geführt worden, bis sich ihm wieder weitere und freiere Räume geöffnet hatten, die in ihrem Stil an den Portikus erinnerten. Von der hohen Decke der Halle hing an einer starken Kette ein großer, schmiedeeiserner Kronleuchter herab, dessen Halter mit vielen Kerzen besteckt waren. Zwei Kerzen brannten in schmiedeeisernen Standleuchtern auf dem Tisch.

Der Kastellan, der Adalbert hierher begleitet hatte, blieb vor ihm stehen, die schwarze Mütze in der Hand, den kahlen Kopf in der Beleuchtung des über ihm hängenden Kronleuchters, mit einer Miene der Unterwürfigkeit, die Adalbert bei dem Dienstpersonal Bezugs selten genug zu sehen bekam.

»Führen Sie mich jetzt auf mein Zimmer«, bat Adalbert, und der Alte ergriff einen der Leuchter, die auf dem Tisch gestanden hatten, und schritt voran. Es ging wieder durch einige enge Gänge und über schmale Stiegen hinan, bis sie plötzlich von einem Altane aus wieder das Meer vor sich sahen. Aber es lag jetzt viel tiefer unter ihnen.

»Wir sind auf dem Turm«, sagte der Kastellan und öffnete eine eisenbeschlagene Tür in der Wand des letzten Aufbaues. Adalbert trat ein und fand ein wohnlich eingerichtetes Zimmer, in dem Teppiche und Bilder ein Behagen verbürgten. Ein kleiner Raum nebenan enthielt das Bett, den Waschtisch und einige geöffnete Türen verrieten eine Anzahl von Wandschränken. Mit einem Gruß und einem Dank verabschiedete Adalbert seinen Führer.

In einer Ecke des Zimmers stand Adalberts Reisekoffer. Als sein Blick auf den grauen, unscheinbaren Begleiter fiel, lenkten seine Gedanken in eine andere Richtung ein. Er suchte den Schlüssel hervor, kniete nieder und begann auszupacken. Da ihm die eine Kerze zu wenig Licht gab, unterbrach er seine Arbeit nach einer Weile und zündete alle Kerzen der beiden Räume an. Sie staken in von der Decke herabhängenden, eisernen Meeresungeheuern, Polypen mit einer Unzahl von aufwärts gekrümmten Fangarmen, deren Saugnäpfe als Dillen für die Kerzen dienten. Die eisernen Tiere schienen drohend über ihm zu schwimmen, und als er jetzt wieder vor seinem Koffer kniete, kam er sich vor wie ein Taucher, der auf dem Meeresgrund nach Schätzen sucht. Beklommen hielt er den Atem an und sah auf, denn er wollte ein Angstgefühl besiegen, eine Furcht, die ihm eine hinter seinem Rücken auftauchende Gefahr zu verraten schien. Ruhig hing der Polyp über ihm und trug die brennenden Kerzen in den Saugnäpfen. Adalbert zwang sich dazu, seine Sachen sorgfältig aus dem Koffer zu nehmen und in den Wandschränken des Schlafraumes unterzubringen. Je näher er dem auf dem Grund des Koffers verborgenen Bild kam, desto größer wurde seine Sicherheit und desto freier fühlte er sich von Angst. Aber er hielt sich zurück, um nicht vorzeitig das Bild hervorzunehmen, als wolle er sich durch diese Prüfung seiner Standhaftigkeit von neuem seines Talismans würdig erweisen. Endlich hob er die letzte Schicht ab und sah in das geliebte Gesicht.

Beglückt hob er es aus dem Koffer und hielt es vor sich hin, daß die Züge im vollen Licht lagen. Zuerst störte es ihn ein wenig, daß er die Sprünge der Leinwand und die Pinselstriche sah, die dieses Werk gebildet hatten. Aber dann war es, als gehe ein Hauch über das Bild hin und nähme alle Unzulänglichkeiten weg. Er sah das blühende Leben, und es war ihm, als sähe ihn das Weib mit lieben vertrauten Augen an. Nun ging er daran, es irgendwo sicher unterzubringen. Es sollte ihm nahe sein und durfte doch nicht von den Dienern, die in seiner Abwesenheit diese Zimmer betraten, gesehen werden. Nachdem er beide Räume abgesucht hatte, entschied er sich endlich dafür, es neben seinem Bett an die Wand zu hängen. Hier war ein Teppich über die Wand gezogen, der die Möglichkeit gab, in schweren Falten unbemerkt einen Schnitt anzubringen. Adalbert besann sich nicht lange und zerschnitt mit seinem Taschenmesser unter großem Kraftaufwand das starke Gewebe. Dann zog er den Teppich ein wenig auseinander und hängte das Bild an einen Nagel, den er im Vorzimmer aus der Wand gezogen hatte. Den Blick auf Reginas Antlitz gerichtet, schlief er ein.

Als er morgens erwachte, war sein erster Gedanke, den Teppich vor das Bild zu ziehen. Es gelang ihm, die Falten so übereinander zu schieben, daß niemand vermuten konnte, daß sie etwas verbargen. Die Kerzen in den Saugnäpfen der eisernen Polypen waren herabgebrannt, und schwerer Dunst erfüllte das Zimmer. Adalbert entdeckte, daß seine Zimmer keine Fenster hatten, sondern daß das Licht von oben einfiel. Die Räume waren durch Glasplatten abgeschlossen, über denen er den blauen Himmel sah. Ab und zu zog eine einzelne weißglänzende Wolke von links nach rechts über die runden Felder. Nach einigem Suchen fand Adalbert eine Stange, die in einem Gelenk am Rahmen der Fensterplatten befestigt, dazu diente, die Scheiben aufzuheben. Er stieß die Fenster auf und empfand bald die Wirkungen der frischen Luft.

Nachdem er sich angekleidet hatte, versuchte er selbständig den Weg zur Halle zurückzufinden. Er glaubte die Stiegen wiederzuerkennen, die er am Abend hinaufgeführt worden war, bog in Gänge ein, kreuzte Korridore, und kam durch Galerien, von denen er plötzliche Blicke auf das Meer oder in düstere Binnenhöfe hatte, bis er endlich eingestehen mußte, daß er in diesem Gewirr von Gängen und Räumen fehlgegangen war. Nun versuchte er sich zurechtzufinden, und begann noch einmal seinen Weg zu suchen, planmäßiger, systematischer als vorhin. Einmal glaubte er irgendwo eine Stimme zu hören, ein Lachen, ein Geräusch von geöffneten Türen, und er ging rasch dem Schall nach. Aber diese plötzliche Wendung brachte in sein System Unordnung, und als er niemanden fand, der ihn zurechtgewiesen hätte, war er vollständig verwirrt und ging nunmehr blind drauflos. Dieses Gefühl war ihm durchaus nicht unangenehm, eine abenteuernde Laune bemächtigte sich seiner und gab ihm ein, daß am Ende seiner Irrfahrten irgendeine liebenswürdige und lohnende Überraschung warte. Der Wechsel zwischen dunkeln Mauerbogen, schmalen Wendeltreppen und heiteren, freien Altanen, offenen Säulenhallen und vorspringenden Erkern, schien etwas in ihm zu lösen und für unvorhergesehene Erlebnisse bereit zu machen. Wenn er in offene Räume trat, in denen der Seewind herrschen konnte, empfand er dankbar die erfrischende Luft, und wenn er das Meer erblickte, nickte er ihm zu wie einem guten Freund.

Endlich kam er in einen Raum mit großen Fenstern. Er trat an die Brüstung und übersah jenseits einer tiefen Schlucht einen Teil dieses mächtigen Schlosses. Über Klippen baute sich eine Terrasse auf, und dahinter strebte eine weite Halle mit schimmernden Säulen empor. Noch weiter zurück lag der Turm mit dem Aufbau, in dem seine Wohnung war. Neugierig wandte er sich um und schritt auf einen Vorhang zu, der im Hintergrund des Raumes den weiteren Weg zu verschließen und zugleich zu verraten schien. Als er den Vorhang zurückzog und eintrat, sah er sich Elisabeth gegenüber, die in einem weißen Morgenkleid auf einem bunten niedrigen Diwan lag.

Sie nickte ihm lächelnd zu: »Nun, wie gefällt Ihnen mein Schloß, Adalbert?«

Adalbert verneigte sich, ging auf sie zu, und aus irgendeinem Antrieb tat er etwas, was er noch nie getan hatte, er ergriff die Hand Elisabeths und küßte sie.

»Ein sonderbares Schloß,« sagte er heiter, »wie verzaubert. Man kann sich nicht zurechtfinden.«

»Sie haben doch den Weg zu mir gefunden. Ich habe Sie erwartet.«

»Sie haben mich erwartet?« Adalbert folgte dem Blick Elisabeths und sah mit Erstaunen den Sarkophag Omphales hinter dem Diwan stehen. Allerlei sonderbare Dinge lagen oben darauf, Wurzeln wie es schien, kleine Figuren und Gläschen, und in der Mitte stand eine glitzernde Kugel, die mit schiefgestellter Achse in ein Lager gefügt war. Über die opalisierende Oberfläche der Kugel zogen von Zeit zu Zeit weißliche, wolkenartige Gebilde, die sich immer erneuerten, so daß es schien, als sei das Ding von inneren Dämpfen erfüllt. Und nicht minder erstaunt war Adalbert, als er sah, daß der Frühstückstisch in der Mitte des Raumes für zwei Personen gedeckt war.

»In diesem Schloß«, sagte Elisabeth lächelnd, »herrscht nur mein Wille.«

»Hoffentlich«, sagte Adalbert scherzend, »hat er mehr Dienerschaft unter sich, als ich auf meinem Weg zu sehen bekommen habe.«

»Die Dienerschaft ... die habe ich von Ihrem Weg entfernt. Sie sind nicht sehr wohlerzogen, die Leute hier. Sonst, müssen Sie wissen, lebt der Kastellan allein in diesem Schloß. Nur wenn jemand zu Besuch kommt, werden ein paar Leute in den nächsten Fischerdörfern verständigt. Es tut manchmal recht wohl, nicht immer die glatten Gesichter und höflichen Manieren der allzu gut Abgerichteten um uns zu sehen.« Mit einer einladenden Bewegung nach dem Tisch erhob sich Elisabeth. »Wollen wir jetzt nicht frühstücken?«

Adalbert saß Elisabeth gegenüber, und während des Mahles hielt sie ein munteres Gespräch im Gang. Vom Meer, das vor dem einzigen Fenster des Zimmers bis zur Hälfte des Rahmens emporzusteigen schien. Sie wies mit ausgestrecktem Arm nach einigen Fischerbooten, die mit weißen Segeln draußen kreuzten, und zeigte Adalbert die langgezogene Rauchfahne eines unsichtbaren Dampfers. Bei dieser Bewegung öffnete sich das leichte Morgenkleid, und Adalbert sah ein Stück der weißen Brust. Er schloß die Augen. Lachend stand Elisabeth vom Tisch auf. »Gehen Sie jetzt«, sagte sie, »und sehen Sie sich meine Insel an.« –

Von dem griechischen Portikus aus wandte sich Adalbert einem kleinen Pinienwäldchen zu, das ihn durch die schöne Lage auf einem breiten Felsrücken anzog. Im Schatten der Bäume lag er da, ließ kleine Steinchen durch die Finger gleiten und folgte dem Weg der Segler, die dunklere Streifen auf dem blauen Grund hinter sich herzuziehen schienen. Dann ging er landeinwärts. Die Sonne stand schon hoch, und die Felsen, zwischen denen ein schmaler Weg immer weiter in die Einsamkeit führte, strahlte eine glühende Hitze aus. In stetiger Steigung schien der Weg einem Gipfel zuzustreben, von dem Adalbert einen Überblick auf die ganze Insel zu haben hoffte. Unter der sengenden südlichen Sonne wurden Adalberts Gedanken matt und taumelten der Ruhe zu. Endlich fühlte er, daß er inmitten des heißen nackten Gesteins seinen Weg nicht fortzusetzen vermochte. Er wollte umkehren und blieb stehen. Aber irgend etwas trieb ihn weiter, widerstrebend wankte er zwischen den Felsen den immer schmaler werdenden Weg entlang. Immer bizarrer türmten sich die Wände neben ihm auf, schienen den Pfad plötzlich abzuschneiden und schlossen ihn in Kessel ein, in denen eine kochende Luft den Atem benahm. Der Weg, der noch kaum erkennbar weiter kroch, verlor sich endlich ganz und Adalbert raffte sich zur Umkehr auf. Aber kaum hatte er einige Schritte in der Richtung nach dem Strand getan, als ihn eine furchtbare Angst erfaßte. Eine Stimme schien ihm zuzuflüstern, daß er etwas versäume, wenn er seinen Weg nicht fortsetze. Wieder mußte er diesem Gebot gehorchen und schob sich mühsam über die steilen Hänge, ließ sich über Felsplatten hinab und glitt in engen Furchen von kaum erreichten Höhen hinunter.

Ein großer dunkler Vogel flog über ihn hinweg. Es war ihm wie ein Zeichen, diesem Flug zu folgen. Atemlos, mit brausendem, brennendem Blut, das in seinem Kopf und seinen Pulsen tobte, kam er wieder auf eine Höhe. Ringsum starrten wirre, zackige Felsen, nackte und glühende Risse, über denen die Luft zitterte. Erschöpft sank er hin. Da sah er zu seinen Füßen in einem Kessel einen grünen Wiesenfleck, von einem schmalen, hellen Bach durchströmt. Das war sein Ziel, das fühlte er, und er begann langsam über den Abhang hinabzuklettern, von einem quälenden Durst angefeuert, der ihm in diesem Augenblick als das Treibende bei seiner Wanderung erschien. Indem er sich an den biegsamen Ranken einzelner Gesträuche oder an langhalmigen dürren Grasbüscheln festhielt, gelang es ihm den grünen Wiesenfleck zu erreichen, und aufatmend wollte er auf das Wasser losgehen, als er an einer Stelle, an der er noch einen Augenblick vorher niemand gesehen hatte, ein Mädchen erblickte, das mit dem Rücken gegen ihn zugewendet dastand und irgendwohin zu horchen schien. Adalbert stand sogleich still und wagte nicht mehr einen Schritt zu machen. Dasselbe Gefühl, das ihn vorhin vorwärts getrieben hatte, eine mit Grauen gemischte Angst, bannte ihn jetzt an seinen Platz. Er sah das Mädchen an, und irgend etwas wollte ihm an ihr bekannt erscheinen. Die rührende Linie vom Kopf zu Hals und Schultern brachte ihn in eine Richtung, in der etwas sehr Liebes, Vertrautes, Freundliches lag. Aber es war, als ob Adalberts Gedanken und sein Erinnerungsvermögen hier auf eine Hemmung stießen. Er war außerstande, bis zu dem Namen vorzudringen, der seine Verzauberung gelöst hätte, und zerbrach sich nur immerfort den Kopf, wie das Mädchen wohl so plötzlich hierher gekommen war. Er hatte doch ganz genau gesehen, daß die kleine grüne Oase leer vor ihm gelegen hatte. Und er hatte nicht bemerkt, daß außer ihm irgend jemand über die Felsen herabgeklettert wäre.

Plötzlich wandte sich das Mädchen nach Adalbert um, als habe es von dort, wo er stand, einen Ruf vernommen. Es war Regina. Der Name fiel Adalbert plötzlich ein, und heiß und brausend ergoß sich eine wilde Freude durch ihn. Alles was sich mit diesem Namen verknüpfte und die ganze Reihe der vorhin gehemmten Gedanken und Empfindungen war mit einmal da. Er fragte sich nicht, wie es möglich sei, daß Regina plötzlich hierher kam, er genoß nur das unerwartete Glück, sie zu sehen. Ein Ausdruck freudigen Erstaunens in Reginas Gesicht und eine Bewegung nach ihm zu schienen anzuzeigen, daß auch sie ihn gesehen hatte und über dieses Zusammentreffen beglückt war. Adalbert wollte eben, ein Gefühl der Schwere überwältigend, Regina entgegengehen, als neben ihm ein zweites Mädchen zum Vorschein kam, die von hinten genaht sein mußte und auf Regina zuging. Und dieses zweite Mädchen – Adalbert erschrak so sehr, daß seine Kinnladen zu klappern begannen – war Elisabeth. Weder sie noch Regina schienen Adalbert bemerkt zu haben, trotzdem er doch ganz nahe stand und Reginas Blicke ihm selbst gegolten zu haben schienen. Was hatte das zu bedeuten? Warum taten die zwei, als sähen sie ihn nicht, und wie war Elisabeth hierhergekommen? Welcher seltsame Zufall hatte sie alle drei hier in dieser Wildnis und Einsamkeit zusammengeführt? Adalbert sah, wie sich die beiden Mädchen gleich Freundinnen begrüßten, wenigstens sah er ein freundliches Lächeln auf dem ihm zugewandten Gesicht Reginas. Er sah auch, wie sich ihre Lippen bewegten, als spräche sie. Aber er hörte keinen Laut. Nur das Rauschen des Baches zog sich wie ein breites Band durch die Stille. Woher kannten die zwei Mädchen einander? Alles dieses Seltsame und Sonderbare legte sich bedrückend auf Adalbert, und wieder wuchs die Angst, die einen Augenblick durch plötzliche Freude verdrängt gewesen war. Um allen Fragen und diesem Druck der Angst ein Ende zu machen, wollte Adalbert auf die beiden Mädchen losgehen und sich ihre Antwort erbitten. Aber er vermochte den Fuß nicht vom Boden zu heben, wie man oft in bangen Träumen an allen Gliedern gelähmt ist. Er wollte rufen, aber die Zunge lag schwer und unbeweglich in seinem Mund, und die Kehle hatte keinen Ton. Er war vollständig gebannt, unfähig sich zu bewegen, ein gefesselter Zuschauer der Szene, die sich vor ihm abspielte, als ob er nicht vorhanden wäre.

Elisabeth hatte ihren Arm in den Reginas gelegt, und die Mädchen gingen in einem eifrigen Gespräch, von dem nicht ein Wort hörbar war, am Ufer des Baches auf und ab. Sie kamen in regelmäßigen Pausen ganz nahe an Adalbert vorbei, und mit Grauen sah er die Bewegungen des Sprechens, die von keinem Ton begleitet waren. Regina schien unbefangen und herzlich, in Elisabeths Gesicht aber sah Adalbert einen Zug, der ihm irgendwie gefährlich und drohend vorkam. Er lauerte gleichsam unter einer verstellten Freundlichkeit. Während sie auf Regina einsprach, versteckte sich ein Entschluß im Hintergrund, der keiner guten Gesinnung entsprang. Adalbert hatte in diesen Tagen Elisabeths Mienen mit solcher Aufmerksamkeit geprüft, daß er sich nicht zu irren glaubte. Wie ein gefährliches Raubtier, das mit seinem arglosen Opfer spielt, erschien ihm Elisabeth neben Regina. Außer sich vor Angst, versuchte er es immer wieder, zu den beiden hinzutreten und durch seine Dazwischenkunft ein Unglück zu verhüten, das sich für Regina vorbereitete. Aber er war gebannt und konnte sich nicht regen. Immer eindringlicher schien Elisabeth zu sprechen, und Regina, die anfangs mit geduldiger Aufmerksamkeit zugehört hatte, nahm eine abweisende Miene an, je länger Elisabeth sprach. Offenbar wollte sie Regina zu irgend etwas überreden, und diese weigerte sich fest und entschieden, es zu tun. Der Ausdruck in den Mienen der beiden Mädchen war so sprechend, daß Adalbert alle Phasen eines Kampfes wahrzunehmen glaubte. Als Reginas Weigerung nunmehr in einem abwehrenden Kopfschütteln bestand, wurde Elisabeth immer heftiger und erregter. Nicht mehr freundlich, sondern fordernd und befehlend sprach sie mit ihr, und deutlicher erkennbar wurde der drohende und gefährliche Zug in ihrem Gesicht. Aber Reginas Antwort war dasselbe starre und entschlossene Nein. Plötzlich faßte Elisabeth, wie von Zorn überwältigt, Regina an der Schulter und rüttelte sie heftig hin und her. Regina erblaßte, faßte Elisabeths Hände und stieß sie von sich. Da sah Adalbert, wie in Elisabeths Augen ein Feuer aufflackerte, in dem ein dunkler und fürchterlicher Entschluß gehärtet war.

Rasend vor Verzweiflung tobte Adalbert gegen seinen Bann. Und als er das Vergebliche seines Ringens gegen eine unerbittliche Macht erkannte, erstarrte er in tödlicher Furcht und fühlte sich schwer werden wie Blei.

Indessen war in der Szene vor ihm eine Verwandlung eingetreten. Elisabeths Gesicht hatte einen anderen Ausdruck angenommen, sie schien die andere um Vergebung ihrer Heftigkeit zu bitten und legte wieder schmeichelnd ihren Arm um die Hüfte Reginas. Und Regina lächelte rasch besänftigt und von Elisabeths heuchlerischer Miene getäuscht. Noch einige Male gingen die Mädchen am Ufer des Baches auf und ab, dann ließen sie sich, mit dem Rücken gegen Adalbert im Gras nieder. Zuerst setzte sich Regina, legte die Arme um die emporgezogenen Knie und sah vor sich hin. Der Rücken war leicht gekrümmt, und die rührende Linie der Schultern fiel sanft zu den Armen ab. Im Augenblick, in dem sich Elisabeth neben sie niederließ, nahm sie einen Gegenstand aus ihrem sandfarbenen Gürtel und verbarg ihn rasch in der Hand auf dem Rücken. Adalbert sah das plötzliche Funkeln eines kleinen Dolches.

Er wollte aufschreien, ein Wort der Warnung rufen, aber er vermochte es nicht. Nur den Kopf brachte er mit einem Ruck zurück. Da standen die Felsen rings um den grünen Wiesenfleck und sahen mit grauen, zerfurchten Gesichtern hinab. Wilde, steinerne Fratzen starrten, verwitterte Felshäupter reckten sich über rauhe Schultern ... Adalbert sah alte Bekannte aus frühen Tagen, die Galgenvögel vom Hexenstein und wußte sich von Freunden umgeben. Sie sahen ihn aufmerksam an und schienen auf ein Wort von ihm zu warten. Plötzlich lösten sich zwei rissige, ungeheuere Arme von der Seite einer der Felszacken ab und hoben sich zu dem Haupt empor. Adalbert sah, wie der Felsenkerl den schweren Kopf abhob und ihn schwebend hielt, als wolle er Elisabeth mit ihm zerschmettern. Dabei sahen ihn die leeren steinernen Augen, seines Befehles gewärtig, immerfort an. Aber in der Angst, daß der stürzende Block mit Elisabeth auch Regina töten könnte, legte Adalbert alle Kraft des Verbotes in seinen Blick. Der Felsenkerl schüttelte den Kopf ein wenig und setzte ihn wieder auf die Schultern.

Die beiden Mädchen saßen noch immer am Ufer des Baches, wie es schien in ein freundliches Gespräch vertieft. Aber Adalbert sah das Glitzern des Dolches auf dem Rücken Elisabeths und sah, wie ihre Finger sich krampfhaft spielend vom Griff lösten und wieder um ihn schlossen. Sein Entsetzen war so furchtbar, daß er einen Schleier vor seinen Augen herabsinken sah. Plötzlich bekam das helle Gewebe dieses Schleiers zwei blutrote, rasch sich vergrößernde Flecken. Elisabeth hatte, indem sie sich erhob, als wolle sie an den Haaren Reginas etwas in Ordnung bringen, ihren Dolch zweimal in den Rücken Reginas gestoßen. Der Oberkörper der Getroffenen sank vornüber und aus den beiden Wunden drang in quellenden Stößen das Blut. Elisabeth war aufgesprungen und stand hochaufgerichtet neben Regina, die sich zur Seite gewälzt hatte und mit grauenvoll verzerrtem Gesicht zu ihr aufsah. Langsam öffneten sich die Finger der Mörderin und der Dolch fiel neben ihr zu Boden.

In diesem Augenblick zerriß der Bann, der Adalbert festgehalten hatte. Er schrie auf, wankend lief er auf Regina zu und warf sich neben ihr zu Boden. Aber als seine Hände nach ihrem Leib tasteten, löste sich ihre Gestalt auf, zerfloß in der Luft, und Adalbert sah die Stelle, wo die Geliebte noch eben gelegen hatte, leer. Nur eine Sekunde war es ihm, als sähe er sie noch undeutlich, wie unter dem grünen Gras, ein Stück in den Boden gesunken. Er schaute auf; auch Elisabeth war fort. Stöhnend erhob er sich, sah wild um sich, schrie noch einmal auf und fiel dann bewußtlos hin.

Als er wieder zu sich kam, war es Abend, der Kessel von den Schatten der umstehenden Felsen erfüllt. Adalberts Kopf war schwer, und seine Gedanken kamen nur ganz langsam zurück. Auf den Knien liegend versuchte er sich zu erinnern, was zuletzt gewesen war. Eine fürchterliche Tat und hier ... hier hatte sie blutend, entstellten Gesichts neben ihm gelegen, während die Mörderin in trotzigem Triumph daneben stand. Aber nun war nichts mehr da ... und da war auch kein Wiesenfleck und kein Wasser ... Mehr unter einem fremden Willen, als eigener Erwägung folgend, erhob sich Adalbert und versuchte unter großer Mühe zu gehen. Zu seinen Füßen klirrte etwas. Adalbert bückte sich und hob einen kleinen Dolch mit silbernem Griff auf. Er steckte den Dolch in die Tasche.

Quer über den Kessel flog ein großer schwarzer Vogel, wie ein Schatten über den noch hellen Himmel. Indem Adalbert der Richtung seines Fluges folgte, kam er an einem Vorsprung der Felsen vorbei, der einen schmalen Spalt verbarg. Hier hatte der Felskessel einen Ausgang, und Adalbert, der ohne zu überlegen sich durch die Engen des mannigfach gewundenen Spaltes schob, gelangte nach einigen Kletterstellen, die er wie im Traum überwand, auf eine kleine Hochebene. Das Meer lag vor ihm, und in nicht allzu großer Entfernung sah er auch das Schloß Bezugs. Auf einem der kleineren Türme brannte unter dem rasch sich verdunkelnden Himmel ein mächtiges, offenes Feuer. Es griff mit lodernden Armen gegen den Himmel.

Der Kastellan stand mit einem Diener, der eine Fackel hielt, unter dem Portikus und schien Adalbert zu erwarten: »Kommen Sie endlich?« rief er ihm entgegen. »Das Fräulein hat schon zehnmal nach Ihnen gefragt.«

»Wann ist das Fräulein zurückgekommen?«

»Zurückgekommen? Sie ist nicht zurückgekommen ... Sie war den ganzen Tag im Schloß.«

»Lügen Sie nicht,« schrie Adalbert, »ich habe sie ja draußen gesehen, hören Sie ...«

»Ich lüge nicht, Herr ... ich war fast den ganzen Tag um das Fräulein herum. Sie blieb in ihrem Zimmer. Dann machte sie einen Gang durch die Burg, blieb längere Zeit in der großen Halle, saß mit einem Buch auf der Terrasse, aber sie las nicht viel, glaube ich, hielt das Buch im Schoß und sah nur immer auf das Meer. Gegen Abend ließ sie sich dann Ihr Zimmer zeigen ...«

»Mein Zimmer ... und was wollte sie?«

»Ich weiß es nicht. Sie schickte mich hinaus und blieb wohl eine Viertelstunde darin allein. Was ist Ihnen, Herr? wie sehen Sie aus?«

»Nichts, nichts«, erwiderte Adalbert und lehnte sich an eine Säule, weil er fühlte, daß er nicht länger allein zu stehen vermochte.

Elisabeth saß in der großen Halle an einem gedeckten Tisch und sah auf, als sie Adalberts Schritte hörte. Rasch erhob sie sich und ging ihm entgegen. Sie trug ein phantastisches Gewand, etwa wie eine indische Königin, reich mit Perlen besetzt und einen kleinen goldenen Elefanten vorne an der Brust. Das Kleid war vom Hals bis zu den Brüsten durchsichtig, und die Arme waren nackt, von leichten, flatternden Schleierflügeln umweht. »Sie haben sich unsere Insel gründlich angesehen,« sagte sie, »werden Sie Ihre Spaziergänge immer bis in die Nacht ausdehnen?«

Adalbert starrte sie an und wich vor ihr zurück.

»Was haben Sie? Bin ich ein Gespenst?« lächelte sie mit einem Anflug von Selbstbewunderung, der Adalbert Grauen einflößte. »Und wie sehen Sie aus?« Als Adalbert noch immer schwieg, fuhr Elisabeth plötzlich den Kastellan an, der hinter Adalbert eingetreten war: »Was stehst du noch? Wenn ich dich brauche, werde ich klingeln.« Adalbert sah dem Alten nach; es war ihm, als ob er einer ungeheueren, immer wachsenden Gefahr allein gegenüberstehe. Er vermochte sich nicht zu regen und leistete keinen Widerstand, als ihn Elisabeth jetzt unter dem Arm nahm und zum Tisch führte. »Kommen Sie,« sagte sie im Ton leichten Ärgers, »warum stehen Sie so da? .. Trinken Sie ein Glas Wein, wenn Ihnen nicht ganz wohl ist. Nur stehen Sie nicht so da.« Adalberts Finger berührten leicht die kühle Haut von Elisabeths Arm und er erschauerte. Aus einem alten Krug, der den bärtigen Kopf eines Mannes darstellte, goß Elisabeth einen dunklen, schwer duftenden Wein in den Becher, der vor Adalberts Platz stand.

»Trinken Sie!«

Er trank. Und er trank noch ein zweites Mal; aus keinem anderen Grund, als weil es Elisabeth so wollte. Die Wirkung des Weines trat fast augenblicklich ein. Mit einem Male sah Adalbert die Gegenstände in doppelter Schärfe und alle Schleier, die vor seine Sinne gesunken waren, rissen mit einem Ruck. Er hörte die Brandung des Meeres, voller und lauter als gestern abends und dazwischen ein feines Pfeifen, wie von einem beginnenden Sturm.

»Das Meer ... das Meer«, sagte Adalbert und deutete mit dem Arm hinaus.

»Es wird eine wilde Nacht werden«, sagte Elisabeth. »Bleiben Sie ... wohin wollen Sie gehen? Auf die Terrasse? Nein bleiben Sie ... und essen Sie zuerst.«

Adalbert gehorchte und aß von den Speisen, die ihm Elisabeth auf seinen Teller legte. Die einzelnen Bissen sanken schwer in ihn hinein, er fühlte, wie sie sich in ihm ansammelten und die Wärme seines Körpers erhöhten. Und von einem plötzlichen Durst gequält, trank er noch einige Becher des schweren, fast schwarzen Weines. Zu seinem Erstaunen fühlte er sich leichter werden. »Glauben Sie,« sagte er mit einmal, indem er sich vorbeugte und Elisabeth fest in die Augen sah, »glauben Sie an diese Verdoppelung unseres Körpers? Nicht im Traum, sondern im wachen Zustand ...«

»Was meinen Sie ...?«

»Ich meine, ob Sie es für möglich halten, daß ein Mensch zu gleicher Zeit an zwei verschiedenen Orten sein kann?«

»Wie haben Sie sich solche Geschichten in den Kopf gesetzt?«

»So antworten Sie doch«, schrie er zornig und faßte Elisabeths Handgelenk. Sie überließ ihm willig ihren Arm und sah ihn stumm an, mit einem Flimmern der Augen, das Adalbert erschreckte. Zitternd ließ er sie los und murmelte vor sich hin: »Aber nein, aber nein ... wie sollte so etwas möglich sein ... und warum nicht? warum nicht? wenn es im Traum ...«

»Hören Sie: ich glaube, Sie sind krank. Und ich hasse die kranken Menschen ... ich hasse sie. Ich will nicht, daß Sie krank werden ... ich will es nicht. Meinen Bruder, den hasse ich ... man sollte ihn einfach erschlagen ... so ein Tier ...«

In diesem Augenblick stieg ein Gedanke in Adalbert auf. Er kam sich ungeheuer schlau vor, und es war ihm, als habe dieser Gedanke irgendwo schon lange auf ihn gewartet. Wenn es nicht gelang, Elisabeth auf dem geraden Wege zum Sprechen zu bringen, so mußte er sie plötzlich überrumpeln. Indem er scheinbar auf ein anderes Thema überging, wollte er diese Überrumpelung vorbereiten.

»Ihr Bruder ...«, sagte er: »mir tut er leid. Ich kann mir nicht helfen. Und wie ist das eigentlich gekommen ... man spricht so vieles ... merkwürdiges Zeug ...«, dabei fühlte er nach dem Dolch in seiner Tasche. Er war da, er war da.

Aufmerksam sah ihm Elisabeth bei dieser neuen Wendung ins Gesicht. Dann schlug sie die Augen nieder, griff nach einem Teller mit Obst und zog ihn zu sich heran. Adalbert schien es, als fliehe ein sonderbarer Schimmer über ihr Gesicht, wie ein höhnisches Lächeln.

»Wie das gekommen ist ... das ist eine lange Geschichte. Eigentlich eine unheimliche Geschichte, wenn man in ungewöhnlichen Dingen gerne Absonderliches findet. Die Leute haben damals so vielen Unsinn geschwätzt ... das war der Grund, weshalb auch Papa aus der Stadt weggezogen ist. Sie werden auch sicher irgend etwas davon gehört haben ... bei dem Fest, als der Bruder ausbrach.«

»Unsinniges Zeug ... aber ich glaube ...«

»Es kommt immer nur auf die Zusammenhänge an. Die Leute sind geneigt, ein Nebeneinander oder ein Nacheinander in Beziehungen zu setzen, irgendwie als Ursache und Wirkung zu verbinden. Übrigens ist es zu spät, und Sie werden müde sein ... nicht wahr? Also weniger Betrachtungen und mehr Historie. Ich erzähle Ihnen also alles Nebeneinander und Nacheinander und Sie können dann nach Ihrem Belieben Beziehungen finden und verbinden. Der Vater fing also, wie Sie vielleicht wissen werden, als Spielzeugfabrikant an. Mit mechanischen Puppen und Tieren legte er den Grundstock zu seinem Vermögen. Es war damals eine günstige Zeit für diese Industrie. Die Sache war neu und man konnte oft sehen, daß sogar Erwachsene, wenn sie unsere Magazine besuchten, mit besonderem Vergnügen bei den beweglichen Dingern stehenblieben. Es muß damals ein merkwürdiger Spieltrieb in der Welt gewesen sein, ein bemerkenswerter Mangel an Ernst, eine fast sträfliche Harmlosigkeit und eine Gleichgültigkeit allen wichtigeren Angelegenheiten gegenüber. Vor ein paar Tagen habe ich ein Buch in die Hand bekommen, eine Kulturgeschichte des Jahrhunderts, deren Verfasser sagt etwas Ähnliches über diese Zeit. Mein Vater scheint immer einen guten Blick für den Zug der Zeit, vor allem für ihre Schwächen gehabt zu haben. Er kam ihnen jederzeit weit entgegen und stand sich immer gut dabei. Wenn ich an damals zurückdenke, so scheint es mir, als ob mein Vater viel dazu beigetragen hätte, jene Zeit so zu verläppern und verspielt zu machen. Jeder große Mann, jede besondere und gewaltige Tat wurde sogleich von ihm für seine Industrie verwertet. Dieser Eindruck mag vielleicht dadurch verstärkt worden sein, daß ich als Kind diese Sachen immerwährend um mich sah. Die Welt, in der wir als Kinder leben, ist uns auf immer unverlierbar, und ich glaube, daß es keine Erlebnisse gibt, die in ihren Wirkungen den Kindheitserlebnissen gleichkommen. Übrigens – ich selbst habe vor den mechanischen Spielereien meines Vaters immer Furcht gehabt. Diese beweglichen, das Leben nachäffenden Puppen und Tiere waren mir unheimlich. Ich verstand nicht, wie andere an den Dingen Vergnügen finden konnten, die mir Grauen machten. Und ich war durchaus nicht dazu zu bringen, diese Spielwerke in mein Kinderzimmer aufzunehmen. Eine leblose Puppe, ein totes Stück Holz waren mir lieber als der tadelloseste Mechanismus. Eines Tages kam der Vater mit einem nachdenklichen Gesicht zum Mittagstisch, noch mürrischer als sonst, und gab der Mutter, die damals noch nicht krank war, auf ihre Fragen keine Antwort. Erst nach langem Drängen sprach er in abgebrochenen Worten von einem Gedanken, der ihn ganz in Anspruch nahm. Er hatte auf einem Jahrmarkt in einer kleinen Stadt, die er in Geschäften zu besuchen pflegte, einen Kletteraffen gesehen. Irgendein Jahrmarktsvagabund hatte das Spielzeug gezeigt. Es war ein kleiner Affe, der mit unglaublicher Behendigkeit und dem Leben abgelauschten Bewegungen an einem Strick hinaufkletterte. Der Vater war von dem Spielzeug entzückt und wollte dem Vagabunden seine Erfindung augenblicklich abkaufen. Aber damals war mein Vater noch im Beginn seiner Bahn und konnte nicht ohne weiteres jeden Betrag zahlen. Der Vagabund verlangte eine bedeutende Summe, der Vater wollte nicht soviel dranwenden, und so konnten die beiden nicht handelseinig werden. Verdrossen ging mein Vater weg und vergaß über seinen Geschäften den Kletteraffen und seinen hartnäckigen Erfinder. Als er sich aber gegen Abend wieder an das Spielzeug erinnerte und als genialer Geschäftsmann sich den großen Zug ausrechnete, den er mit diesem Artikel machen konnte, überlegte er bei sich, daß es nicht schlau gewesen war, dem Mann nicht die Summe zu zahlen. Er lief sogleich nach dem Markt, aber die Buden waren geschlossen, die Gassen zwischen ihnen leer, nur der Nachtwächter wankte verschlafen herum. Nun rannte er in seiner Angst, daß er etwas versäumt haben könnte, in die Herberge, wo die Jahrmarktsleute einkehrten. Der Vagabund war hier nicht zu finden. Noch die halbe Nacht fragte der Vater in sämtlichen Wirtshäusern der Stadt nach und machte, als er fertig war, den ganzen Weg noch einmal. Nirgends wußte man etwas von dem Besitzer des Kletteraffen. Mein Vater war wütend und machte sich die bittersten Vorwürfe. ›Du wirst sehen,‹ sagte er zur Mama, ›daß ich ein vortreffliches Geschäft aus der Hand gelassen habe. Oder ... du wirst es nicht sehen ... ‹ Plötzlich stand er vom Tisch auf – ich sehe ihn noch vor mir – und sagte: ›Und ich werde es doch machen ... ich werde es machen ..., dieses Geschäft.‹ Sie kennen ja meinen Vater. Je schwieriger eine Sache ist, desto mehr reizt sie ihn. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, Kletteraffen zu erzeugen, und seine ganze Spannkraft war auf dieses Ziel gerichtet. Über sein vollständiges Versinken in diese Arbeit war meine Mama, die damals gerade mit meinem Bruder schwanger war, sehr unglücklich. Sie hat seit jeher das Bedürfnis gehabt, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der ganzen Familie zu stehen und alles um sich bemüht zu sehen; und sie glaubte durch ihren Zustand ein besonderes Recht auf diese Aufmerksamkeit zu haben. Der Vater aber schloß sich in sein Zimmer ein und kam oft tagelang nicht zum Vorschein. Nur die Mechaniker der Fabrik wurden zu langen Beratungen eingelassen. Ich war natürlich neugierig, was mein Vater in seinem Zimmer trieb, und es gelang mir eines Tages, einen Augenblick zu erspähen, als mein Vater das Zimmer verließ und die Türe offen blieb. Da standen lange Tische rings an den Wänden, mit Werkzeugen und Teilen von mechanischen Figuren, eine Hobelbank war da und ein kleiner Ofen, auf dem irgendein Brei oder Leim kochte. Es roch jämmerlich in dem geschlossenen Raum. Und wie ich so hinsah, war es mir, als ob sich diese Dinge alle bewegten und auf mich zukröchen ... Da wurde mein Abscheu wieder stärker als meine Neugierde, das Grauen überwältigte mich, und ich lief davon. Wochenlang dauerten die vergeblichen Versuche meines Vaters, er wurde immer mürrischer und geriet immer tiefer in den Bann seines Wunsches. Eine Idee, die ihn einmal so erfaßt hat, kann sich bei ihm bis zu einer Art Wahnsinn steigern. Selbst ich, die ich die Vorgänge um mich doch mit kindlicher Unbefangenheit sah, bemerkte, daß der Vater verfiel. Die Mutter weinte über ihre Vernachlässigung. – An einem schönen Frühlingstag ging ich mit der Gouvernante spazieren und kam in die Vorstadt, wo auf einer großen Wiese zwischen neuerbauten Häusern eine Menagerie aufgeschlagen war. Ich bat so lange, bis die Gouvernante mit mir hineinging. Noch ganz voll von den großen Eindrücken, kam ich nach Haus und erzählte von den Elefanten und Löwen und Affen. Mein Vater, der am Tisch saß und anfangs gar nicht zugehört hatte, horchte auf, als ich von dem Gorilla erzählte. Plötzlich sprang er auf, wollte etwas sagen, besann sich aber und ging zur Tür hinaus. Am andern Tage brachten einige Männer auf einem Wagen einen großen in Tücher gehüllten Gegenstand, eine Kiste oder dergleichen. Ich sah aus dem Fenster und bemerkte, als sich die Tücher beim Abladen etwas verschoben, Käfigstangen darunter. Das viereckige Ding wurde mit großer Vorsicht in das Arbeitszimmer meines Vaters gebracht. Ich war ganz außer mir; denn ich glaubte bestimmt zu wissen, daß irgend etwas Besonderes, Geheimnisvolles darin steckte. Am Abend erfuhr ich in der Küche, daß sich der Vater einen großen Affen habe ins Haus bringen lassen. Ein weiblicher Affe, sagte die Köchin, für die einer der Männer das Tuch des Käfigs ein wenig gehoben hatte, und der sei noch viel gräßlicher als ein Männchen. Mit solchen Augen habe er sie angesehen. Als ich fragte, wozu der Papa wohl das Tier habe bringen lassen, zuckte sie die Achseln. Dann zog sie mich plötzlich an sich und murmelte, indem sie mich unzähligemal auf die Stirn und das Haar küßte: ›Wenn nur kein Unglück g'schieht, wenn nur kein Unglück g'schieht.‹ Ich habe mir diese Szene genau gemerkt, weil sie eigentlich dem Wesen unserer Marie so wenig entsprach. Sie war breitschultrig wie ein Dragoner, hatte eine laut schallende, männliche Stimme, und war, so gern sie mich hatte, sonst wenig zu Zärtlichkeiten geneigt. Ich habe sonst niemals wahrgenommen, daß sie ihre Stimme gedämpft hätte. Selbst wenn sie an irgendwelchen häuslichen Vorgängen etwas auszusetzen hatte, tat sie es so, daß man es draußen vor der Türe und unten auf dem Hof mit aller Deutlichkeit hören konnte. Darum fiel mir damals ihr scheues Wesen auf. Ich glaube, sie hatte Furcht. Es dauerte nicht lange, so hatte sie auch mich angesteckt. Unser Stubenmädchen trug dazu bei, mich aufs äußerste zu erregen. Sie erzählte mir eines Abends in der Dämmerung, daß die Affen die Lieblinge des Teufels seien. Ab und zu suche er sich einen Affen aus, um in ihn hineinzufahren. Früher sei er mit Vorliebe in die Menschen gefahren, aber seit ihm Christus das verboten habe, halte er sich an die Affen. In der Nacht darauf hörte ich ganz deutlich einen lauten Schrei. Ich erwachte, hörte noch einen Schrei, und darauf ein lang anhaltendes Geheul. Nun besann ich mich, daß mein Zimmer über dem Arbeitszimmer Papas lag. Das war der Affe, der da schrie, sagte ich mir. Die Gouvernante schlief mit mir in meinem Zimmer. Ich rief sie an, aber sie hörte mich nicht, sie schlief einen soliden, englischen Schlaf. Da zog ich die Decke über die Ohren und lag die ganze Nacht wach. Mit meiner Angst und meiner Aufregung flüchtete ich am Morgen zu meiner Miß. Sie sah mich an, schüttelte den Kopf, befühlte meine Stirne, und griff nach meinem Puls; denn sie war die Kaltblütigkeit in Person, ruhig wie eine Säule und führte alle seelischen Erregungen auf Affektionen des Magens zurück. Der Papa hatte einen Affen bei sich; gut, was war weiter daran, der Affe schrie bisweilen bei Nacht; gut, er langweilte sich vielleicht, oder er träumte vom Urwald. Ich täte auch besser, zu schlafen und zu träumen. Nun ging ich zur Mama und begann meine Furcht auszuweinen. Die Mama wußte schon davon, sie hielt sich die Ohren zu und schrie: »Hör' auf, hör' auf ... ich will nichts davon wissen.« Nun war ich wieder allein und meinen Phantasien überlassen. Noch zwei Nächte lag ich schlaflos, immer in fürchterlichster Erwartung des Schreies, aber ich hörte nichts, nur ab und zu ein leises Grunzen, wie von einem Tier, das sich etwas behagen läßt. Endlich, nach fast einer Woche, kam der Vater zum erstenmal aus seinem Arbeitszimmer hervor. Er sah sehr schlecht aus, als ob er die ganze Zeit über nicht geschlafen habe. Ich lief auf ihn zu und bat ihn, den gräßlichen Affen aus dem Haus zu geben. Die Mama stand dabei und sah den Papa ganz sonderbar an. Nach einer Weile strich mir der Papa über das Haar und sagte: »Ja ... ja ... sehr bald ... ich bin bald fertig.« Dann ging er wieder davon und ließ sich einen ganzen Tag nicht mehr sehen. Am zweiten Tag darauf saß ich gerade bei der Mama im Zimmer und spielte. Da kam die Köchin, die dem Vater immer das Essen zu bringen hatte – sie durfte es gerade nur durch den schmalen Türspalt reichen – und begann: »Gnädige Frau, ich muß Ihnen etwas sagen.« Als ihr Blick auf mich fiel, trat sie an Mama heran und flüsterte die Fortsetzung ganz nahe an ihrem Ohr. Kinder beobachten meist weit schärfer, als die Erwachsenen geneigt sind anzunehmen. Ich sah, daß die Mitteilung der Köchin auf die Mama einen schrecklichen Eindruck machte. Sie verfiel in eine Art von Krämpfen, faßte sich aber nach einer Weile und erhob sich. So hatte ich die Mama noch niemals gesehen. Wie eine Heldin stand sie da. »Kommen Sie,« sagte sie, »aber wie ...« »Er hat heute vergessen, wieder abzusperren«, sagte Marie. Dann gingen sie, und ich schlich trotz meiner Furcht leise hinter ihnen drein. Vor der Tür des Arbeitszimmers stand die Mama einen Augenblick still, dann riß sie die Tür plötzlich auf. Ich war noch zu weit hinten, um einen Blick in das Zimmer machen zu können. Ich hörte nur, wie die Mama einen Schrei ausstieß, und sah, wie sie lang hinfiel. Die Köchin zerrte sie rasch von der Schwelle und warf die Tür zu. Nun entstand ein Tumult, man lief hin und her, bemühte sich, die Mama zum Bewußtsein zu bringen, und trug sie, als das nicht gelang, auf ihr Zimmer. Der Arzt kam, ein paar Stunden später eine fremde Frau. Ich wollte zur Mama, aber man ließ mich nicht zu ihr. Sie sei krank und müßte Ruhe haben. So waren lauter fremde Leute um Mama, denn der Papa kam nicht zum Vorschein. Zwei Tage später erfuhr ich, daß ich einen Bruder bekommen habe. Und als habe der Papa nur auf diesen Augenblick gewartet, kam er aus seinem Arbeitszimmer. Strahlend, vergnügt, und als ich auf ihn zulief, hob er mich auf und küßte mich. »Ich habe einen Bruder, Papa«, schrie ich; denn ich faßte das so vergnüglich auf, als habe ich ein lang ersehntes Spielzeug bekommen. Da setzte er mich schnell hin, sah mich an, strich sich über die Stirn, murmelte etwas, das ich nicht verstand, und ging dann zu Mama. Als ich meinen Bruder endlich zu sehen bekam, war ich enttäuscht. Mit einem solchen dummen, hilflosen Ding war ja nichts anzufangen. Ich sagte das dem Papa. Er tröstete mich und brachte mir einen Affen, der an einem Strick in die Höhe klettern konnte. Mit einem Stolz, der aus jedem Wort und jedem Blick sprach. Aber ich schrie und lief davon. Das Ding flößte mir noch mehr Grauen ein, als alle anderen mechanischen Spielzeuge aus Papas Fabrik. Aber andere Leute dachten nicht so wie ich. Papa hat mit seinen Kletteraffen den Weltmarkt erobert, und ist durch diese Erfindung ein reicher Mann geworden.«

Das leise, feine Pfeifen draußen hatte sich zu lautem Brausen gesteigert. Der Wind hatte sich gedreht und fegte Wellen türmend über die offene See. Adalbert, der die Geschichte Elisabeths heraufbeschworen hatte, um inzwischen eine Überrumpelung vorzubereiten, hatte fast vergessen, was er gewollt hatte. Er saß da und sann dem Gehörten nach.

»Und der Affe?« fragte er endlich.

»Nach ein paar Jahren hat mich die Köchin wieder in der Dämmerung auf den Schoß genommen. »Er ist tot,« sagte sie, »sie haben ihn heute umgebracht.« »Wer ist tot?« »Der Affe.« Ich schüttelte mich vor Entsetzen und war doch wie befreit. Und dann erfuhr ich, daß man ihn im Garten verscharrt hatte. Da erfaßte mich die Lust, mir das Ungeheuer anzusehen. Ich schlief wieder eine ganze Nacht lang nicht. Etwas trieb mich an, wie man oft willenlos gerade dem Gräßlichen, das man vermeiden will, entgegengetrieben wird. Ich habe seitdem diesen Reiz des Grauens oft genug genauer kennengelernt. Alles Heldentum ist diesem Trieb in etwas verwandt. Gegen Morgen schlich ich mich in den Garten. Meine Gouvernante schlief wieder ihren englischen Schlaf und hörte nicht, wie ich unter meinen Spielsachen den kleinen Spaten hervorsuchte, mit dem ich meine Sandbauten auszuführen pflegte. Es war noch ziemlich düster unter den alten Bäumen. Aber ich brauchte doch nicht lange zu suchen, bis ich die Stelle fand, wo man den Affen verscharrt hatte. Es war leicht zu erkennen, wo die Erde frisch aufgewühlt worden war. Mit meinem Spaten ging ich an die Arbeit. Man hatte es mir nicht allzu schwer gemacht. Nach ein paar Stichen stieß ich auf einen Gegenstand. Ich warf die Erde fort und griff in die Grube. Da bekam ich einen Teil eines haarigen Pelzes zu fassen. In einem Anfall von Wahnsinn zerrte ich an dem Ding, und plötzlich brachte ich einen Arm hervor, an dem eine Hand mit Menschenfingern saß. Da brüllte ich, als ob mich ein Gespenst beim Kleide hätte, ließ meinen Spaten liegen und rannte davon.«

Adalbert trank ein Glas des schweren, schwarzen Weines, und das Toben in ihm war eins mit den Schlägen der Brandung unten an den Felsen. Plötzlich warf er das Glas, in dem noch ein Rest des Weines war, im Bogen von sich, daß es auf dem Boden zersplittere, und schrie: »Warum erzählen Sie mir das? ... Warum? ... Warum? ... Was hat das mit Ihrem Bruder zu tun?«

»Mit meinem Bruder?« Elisabeth hatte ein Bein über das andere geschlagen und ihre Hände um das Knie geschlossen. Sie sah vor sich hin, ohne das Toben Adalberts auffallend zu finden. »Mit meinem Bruder? ... Er wurde mir, als er in die glücklichen Jahre der Drolligkeit kam, ein willkommener Spielgefährte. Aber das dauerte nicht lange. In seinem vierten Jahr bekam er zum erstenmal den Anfall, der ... nun Sie haben ihn ja gesehen. Das steigerte sich mit den Jahren, kam immer öfter und verließ ihn zuletzt nur noch selten. Er ist unglücklich; denn ich glaube, in seinen lichten Augenblicken kommt ihm das Bewußtsein seines abschreckenden Elends. Die Ärzte können da nicht helfen. In der Stadt aber tauchten Gerüchte auf und gingen so lange um, bis der Vater sich entschloß, den Mittelpunkt seines Wirkens zu verlegen.«

Adalbert saß in sich zusammengesunken, den Kopf auf der Brust. Langsam löste Elisabeth ihre Hände vom Knie, stand auf und ging auf die Terrasse hinaus. Dort stand sie an der Brüstung und schaute auf das Meer. Adalbert sah sie nur auf kurze Augenblicke, wenn der Sturm den dunkeln Vorhang vor einem seltsam erhellten Himmel zerriß. Da tauchte sie plötzlich aus der Finsternis auf, ihre Schleier wehten um sie, so fremd und nicht zu ihrem Leib gehörig, als hätten sie die langen Arme zerfließender Gestalten gepackt und suchten sie hinabzuziehen. Jetzt war der Augenblick gekommen, dachte Adalbert. Leise nahm er den Dolch aus der Tasche, legte ihn auf den Tisch, und schob ihn durch das Gewirr der Teller, Schüsseln und Gläser bis unmittelbar vor Elisabeths Platz. Es gab einen ganz hellen leichten Klang, als der Stahl gegen den gerippten Fuß eines grünlichen Weinpokals stieß. Einen Moment lang schwebte der Klang wie ein kleines silbernes Wölkchen über dem Tisch. Es war, als habe er Elisabeth gerufen. Sie wandte sich und kam aus dem Bereich des Sturmes zurück. Ihr Haar war zerzaust, und einzelne Strähne hingen wirr ins Gesicht. Sie nahm einen von ihnen und strich ihn wie liebkosend hinter das Ohr. Adalbert dachte an das Haupt der Medusa, das er einmal irgendwo gesehen hatte, und es war ihm, als seien auch Elisabeths Haare lebendige züngelnde Schlangen, die sie mit zärtlichen Bewegungen beruhigte und zähmte. Er sah ihr ins Gesicht. Ihre Augen glommen. Schlangenbändigerin! dachte er. Plötzlich erblickte sie den kleinen Dolch neben ihrem Teller. Sie nahm ihn auf. »Mein Dolch,« sagte sie, »wie kommt der hierher?«

»Ihr Dolch?« fragte Adalbert und faßte mit beiden Händen die Kante des Tisches.

»Ja ... ich vermisse ihn schon seit Mittag. Wo haben Sie ihn gefunden?«

Da stieß Adalbert mit einem Ruck den Tisch von sich. Es war eine Art von Krampf, dem die Berechnung der angewandten Kraft fehlt. Nur eine plötzliche Bewegung, in der sich die Anspannung der Nerven löste. Und zugleich eine Äußerung des Instinktes, der einer drohenden Gefahr wehren wollte. Der schwere Tisch hob sich, neigte sich nach der anderen Seite, stand einen Augenblick lang auf zwei Beinen und stürzte dann um. Alles Geschirr und alle Gläser, die Schüsseln mit den Resten der Mahlzeit klirrten und zerbrachen auf dem Steinboden. Adalbert stand da, bleich wie die Wand und streckte eine Hand gegen Elisabeth aus. Einer der Teller, der durch einen Zufall unversehrt geblieben war, kam im kurzen Bogen aus dem Trümmerhaufen hervorgeschossen und begann gerade vor Adalbert einen Kreiseltanz. Er wirbelte auf vergoldetem Rand einige Male herum; dann wurde seine Drehung flacher, und endlich kam er mit kurzem, plumpem Klirren zur Ruhe.

Noch immer standen sich Adalbert und Elisabeth lautlos gegenüber.

Plötzlich schrie sie auf: »Adalbert!« und es schien, als wolle sie auf ihn zugehen. Da zog er sich Schritt für Schritt zurück, immer die Augen fest auf ihrem Gesicht. Als er die Tür erreicht hatte, riß er sie auf und sprang mit einem Satz hinaus. Er lief durch die Gänge und Hallen, über Treppen auf und ab, von einer fürchterlichen Angst gehetzt, ohne zu wissen, was er wollte.

Rasch trat Adalbert in sein Turmzimmer, warf die Tür hinter sich zu und sperrte ab. Dann tastete er im Dunkeln zu einem Stuhl und setzte sich so schwer hin, daß die Füße knackten. Sein Körper war eine träge Masse, über die sein Wille keine Macht mehr hatte. Er fühlte, daß er mit seiner Kraft zu Ende war. Nun saß er im Dunkeln und wagte nicht, Licht zu machen. Der Sturm stieß mit schweren, nassen Flügeln gegen das Gemäuer und schwang sich, wie wenn er auf der Plattform einen Augenblick geruht hätte, mit einem heulenden Gelächter davon. Alle Galgenvögel des Hexensteins rasten durch die Luft. Nach einer Weile, die Adalbert wie im Chaos zugebracht hatte, empfand er einen Strahl von Kraft und Helle. Hier war ja Rettung. Hier war sein Schutz vor dem Grauen, das ihn überall umlauerte: Reginas Bild. Und nun vermochte er aufzustehen und die Lichter in den Saugnäpfen des Polypen zu entzünden.

Dann ging er in das Schlafzimmer und zog den Vorhang vor dem Bild zurück. Mit einem Schrei taumelte er gegen das Bettgestell, mit beiden Händen den Kopfteil erfassend, starrte er auf die leere Wand.

Das Bild war weg.

Der Nagel war da, an dem es gehangen hatte; aber das Bild war verschwunden. Unter dem Nagel war ein roter Fleck an der Wand. Mit zitternden Fingern strich er über die Wand, um sich zu überzeugen, ob seine Augen nicht etwa geblendet waren. Der rote Fleck fühlte sich feucht an, und als Adalbert seine Finger ansah, fand er sie rotgefärbt. Blut? ... War das nicht Blut, was da an seinen Fingern klebte? ... Blut an der Stelle, wo das Bild gehangen hatte? ... Halb wahnsinnig vor Angst warf sich Adalbert auf das Bett hin. Keuchend, wie nach einer fürchterlichen Hetze lag er da ... den Blick starr auf die Decke gerichtet, wo über den Glasplatten die Nacht starrte. Er war vollständig seiner Besinnung beraubt, und es erschien ihm nur ganz richtig, daß die Nacht ein rundes, schwarzes Auge hatte, mit dessen unverwandtem Blick sie ihn festhielt. Plötzlich kam Leben in dieses Auge ... ein weißlicher Schleier mit grünem Geäder schob sich vor ... und preßte sich fest an die Glasscheibe des Auges ... aber das war kein Schleier, das war ein Krötenbauch, weißlich, mit grünen Adern ... ein Krötenbauch, der sich gegen die Glasscheibe preßte.

Und mit einemmal kam ihm auch die Besinnung zum Teil zurück. Das Ding da über ihm war nicht im Auge der Nacht, sondern er war ja in seinem Turmzimmer, und hatte die Glasscheiben des Daches über sich ... und was sich da außen gegen die Platten preßte, war das fürchterlichste von allen Nachttieren ... die Sturmkröte ...

Die Sturmkröte ...!

Er fuhr auf und rannte davon ... der Schlüssel seiner Tür drehte sich schwer im Schloß, verzweifelt wandte er alle Kraft an, riß die Tür endlich auf und raste die Treppen und Gänge entlang ... zu ihr ...

Zu ihr!

Sie mußte ihn retten ... eine Helle umfloß ihn, er sah den Vorhang vor sich, griff wild in die Falten und stürzte in Elisabeths Zimmer ... Atemlos, blind stand er da und hielt sich noch an den Falten des Vorhangs.

Vor ihm, am Rande des Sarkophags saß Elisabeth ... nackt ...

Einen Augenblick lang hörte Adalbert einen Ruf: Zurück! Ein lauter, gellender Ruf, und der vermochte so viel über ihn, daß er eine Bewegung machte, sich zu wenden. Aber da hob Elisabeth die Arme, er sah die kleinen blonden Haarbüschel unter ihren Achseln, er sah das Zittern ihrer Brüste ... »Komm«, sagte sie.

Eine Flamme schoß durch ihn, und der Sturm eines schrecklichen Triebes machte ihn taumeln. Blind stürzte er vorwärts und umklammerte ihre nackten Schenkel.

»Ich wußte, daß du dich mir im Grauen vermählen wirst«, sagte Elisabeth und beugte sich über ihn, daß ihre Haare auf seine Schultern fielen.

»Um meinen Verstand ... um meinen Verstand hast du gespielt«, schrie Adalbert.

»Und habe deinen süßen Leib gewonnen ...«

Adalbert fühlte, wie sich ihm die Schenkel Elisabeths entgegenpreßten. Mit wilden Küssen fiel er über ihr duftendes Fleisch her, wühlte seinen Kopf in ihren Schoß ...

Elisabeth zog ihn empor, schlang sich eng um ihn und sank dann in fester Umklammerung mit ihm in den mit weichen Kissen und kostbaren Decken angefüllten Sarkophag der Königin Omphale ...

 

Ende des ersten Bandes.


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