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Von dem Morgen an, wo sie auf Wunsch ihrer Schwester ihre ärmliche, kleine Farnsammlung Basil Haworth hatte zeigen müssen, war Cynthia nur noch äußerst selten allein in dem schattigen Verandazimmer zu finden.
Was das kränkliche, kleine Pflänzchen betrifft, das er so sorglich vor der Julisonne geborgen und in seinen heißen Händen den Hügel hinaufgetragen hatte, so war dieser jüngste und seltenste Zuwachs der interessanten Sammlung durch ein grausames Geschick allzu frühzeitig der Vernichtung anheimgefallen.
Als Lätitia danach fragte, versicherte Cynthia mit völlig überflüssigem Eifer, sie habe das armselige kleine Ding weggeworfen.
Dies entsprach völlig der Wahrheit: nicht nur weggeworfen hatte sie es, sondern auch mit großer Entschlossenheit in winzige Stückchen zerpflückt und dann die traurigen Reste unter einem Rosenbäumchen im Garten begraben, wo sie vor langer Zeit auch ein zärtlich geliebtes Kanarienvögelchen bestattet hatte.
Bei Cynthia hatte sich in neuester Zeit eine Vorliebe für weite, einsame Spaziergänge entwickelt. Litt sie unter den sengenden Strahlen der glühenden Julisonne, so suchte sie in den Wäldern Kühlung; senkten sich die linden Schatten des Abends hernieder, so wanderte sie am Ufer des Flusses entlang, und wenn es regnete, so saß sie einsam und allein in dem kleinen Stübchen unter der Dachrinne, wo die Passionsblumen ständig an die Fensterscheibe tippten.
Es war für Cynthia nicht erheiternd, die Zuschauerin abzugeben bei dem Drama, das sich im Wohnzimmer unten abspielte; gar zu leicht entstand angesichts derartiger zärtlicher Schaustellungen bei einem dritten das Gefühl, er sei zu viel. Wohl nahm Lätitia die Anwesenheit ihrer Schwester während der köstlichen Stunden, die sie mit ihrem Geliebten verbrachte, in gewohnter Gelassenheit hin; aber Basil Haworth errötete und wurde so nervös, wenn Cynthia da war, daß er auf die harmlosesten Gemeinplätze seiner geduldigen Penelope nur noch die zerstreutesten Antworten gab.
Cynthia fühlte sich gewissermaßen schuldbewußt, denn sie begriff, daß ihre Anwesenheit dem Brautpaare einen Dämpfer aufsetzte und die zärtlichen Ergießungen hemmte, auf die Lätitia nach so langen Jahren der Enthaltsamkeit und des Wartens Anspruch hatte. Sobald der Verlobte ihrer Schwester den Schleier von Passionsblumen, der die Veranda beschattete, zurückschob und in das dämmerige Zimmer trat, errötete und erbebte das junge Mädchen, und nach der ersten Begrüßung stahl sie sich leise hinaus. Dann eilte sie an den weißen Lilien vorüber, die nun anfingen, ihre stolzen Häupter zu neigen, und barg sich in den tiefen Schatten des Buchenwaldes oder wanderte an dem Fluß entlang, von dem aus die versengten, dürren Wiesen steil zu dem grünen, kühlen Wasser abfielen.
An einem schwülen Sommerabend wurde sie, als sie am Fluß spazieren ging, von ihrem schlichten Verehrer überholt, der unentschlossen zauderte, als er an ihr vorüberging. Sie bemerkte, daß er nach ihr zurücksah, und lächelte ihm gewohnheitsmäßig zu; denn Cynthia hatte die Gewohnheit, jedermann anzulächeln. Als er sie lächeln sah, hielt er zögernd den Schritt an und trat auf sie zu.
»Ich hoffe, Sie halten es nicht für eine Unverschämtheit, Fräulein Cynthia, wenn ich so frei bin, Sie anzureden?« sagte er unter fürchterlichem Erröten.
Mit seinem frischen, sommersprossigen Gesicht und seiner Riesenkraft war er das Bild eines hübschen, kräftigen Pächters, aber bei diesen Worten errötete er wie ein Backfisch.
»Was mag der Mensch nur wollen?« dachte Cynthia, während sie ihm mit ihrer tiefen, lieblichen Stimme sehr freundlich erwiderte: »Gewiß nicht! Ich hoffe, Frau Holders befindet sich wohl?«
»Danke schön, ja, meine Mutter ist ganz wohl, nur ist sie jetzt etwas in Sorge wegen meiner Abreise, und gerade darüber habe ich mit Ihnen sprechen wollen, Fräulein Cynthia.«
»Wegen Ihrer Abreise? Wollen Sie denn wirklich fortgehen?«
»Ja–a,« erwiderte er langsam, »in vierzehn Tagen reise ich ab. Ich gehe nach Amerika.«
»Allein?« fragte sie und legte für die Angelegenheiten des schüchternen Jünglings ein Interesse an den Tag, das sie nicht im mindesten fühlte.
»Allein?« wiederholte er, und sein ehrliches, offenes Gesicht färbte sich plötzlich scharlachrot. »Ach, Fräulein Cynthia, die Frage können nur Sie beantworten!«
»Ich?« fragte das junge Mädchen überrascht, mit einem etwas hochmütigen Ton in der Stimme, und instinktiv trat sie etwas von ihm zurück.
»Ja,« wiederholte er lebhaft, »Sie würden niemals, niemals Ursache haben, es zu bereuen, wenn Sie mit mir gingen.«
»Ich mit Ihnen gehen? Was fällt Ihnen denn ein, Richard Holders!«
Ihre blassen Wangen röteten sich und ihre Augen blitzten vor Zorn.
»Ich liebe Sie, Fräulein Cynthia, und ich habe Sie immer geliebt,« erwiderte er demütig, während die Farbe auf seinen Wangen ging und kam; »aber ich habe nie gewagt, es Ihnen zu sagen, weil ich wußte, daß Sie sich hier, wo Sie bekannt sind, nie zu mir herabgelassen hätten; aber ich dachte jetzt, wo ich auswandere, würde die Sache vielleicht anders liegen.«
»Sie könnte nie anders liegen, Richard Holders,« erwiderte Cynthia kalt, aber nicht unfreundlich. »O, Fräulein Cynthia, Sie verstehen das nicht,« fuhr er lebhaft fort, »da drüben wäre das was andres! Ich habe Geld und Land genug, und ich würde für Sie arbeiten, so daß Sie wie eine vornehme, reiche Dame leben könnten. In Amerika würde Ihnen kein Mensch einen Vorwurf daraus machen, daß Sie einen Pächter geheiratet haben.«
»Um das handelt sich's nicht, Richard, Sie stehen mir jetzt schon völlig gleich. Sie sind reich, und ich bin arm und habe keinen Heller Vermögen;« unwillkürlich schauderte sie zusammen, »aber – aber ich könnte Sie doch nicht aus dem Stegreif heiraten – denn – denn ich liebe Sie nicht!«
»Wenn Sie mir etwas Hoffnung gäben, Fräulein Cynthia, liebste Cynthia! Wenn Sie mir nur versprächen, mich einmal zu heiraten, so würde ich warten, so lange Sie wollen. Ich will ein Ihrer würdiges Vermögen erwerben und dann zurückkommen und um Sie werben!«
Als der junge Mann so feurig und so ernsthaft sprach, und als sie sah, wie sein starker Körper vor Aufregung bebte, da zuckte der Gedanke durch ihren Sinn: so hat auch Basil vor zwanzig Jahren zu Lätitia gesprochen – und nun?
Sie selbst zitterte am ganzen Leibe und wurde sehr blaß, während sie seinen Worten lauschte: eine furchtbare Versuchung trat an sie heran.
»Ach, Sie kommen niemals mehr zurück,« erwiderte sie bitter; »wenn Sie erst ein Vermögen gemacht haben, so werden Sie in Amerika schon ein Mädchen finden, das es mit Ihnen teilt, und brauchen nicht nach Silverton zurückzukehren, um sich eine Frau zu suchen.« Trotz aller Anstrengung, die sie machte, zitterte ihre Stimme, und sie dachte bei sich selbst: »Ach, warum hat Basil in diesen zwanzig Jahren keine andre Frau gefunden? Warum ist er auch zurückgekommen?«
Der junge Mann lächelte und zeigte seine weißen Zähne, während seine kräftigen Züge einen milderen Ausdruck annahmen und seine Augen aufleuchteten. »O Cynthia,« rief er leidenschaftlich, »wenn Sie das sagen, so wissen Sie nicht, was Liebe ist! Nun denn, ich habe Sie schon geliebt, als Sie nur so hoch waren, und ich über den Kuchenteller weg nur Ihr Köpfchen habe leuchten sehen. Wenn ich überhaupt je an den Himmel und die Engel gedacht habe, so kommt das nicht von den Predigten des Pastors her, denn dem habe ich nie zugehört, sondern es kommt daher, daß ich gesehen habe, wie die Sonnenstrahlen in Ihrem Haar spielten, während ich Sie beobachtete. Wenn Sie mit Ihren weißen Kleidern und Ihrer goldenen Krone auf dem Kopf wirklich ein Engel im Himmel droben gewesen wären, so hätte ich mir nicht weniger träumen lassen, ich könnte Sie einmal zu besitzen hoffen; aber nun, da ich fortgehe, da Ihr Haushalt aufgelöst wird, liegen die Dinge anders, und vielleicht habe ich doch noch Aussicht.«
Ernsthaft, beinahe traurig, lauschte sie seinen Worten, die die glückliche Kinderzeit wieder vor ihr heraufbeschworen.
»Nein,« sagte sie sanft, mit einem mitleidigen Ausdruck in ihren Augen; »Sie haben jetzt so wenig Aussicht als damals.«
»So lieben Sie also einen andern,« erwiderte er bitter; »denn sonst würden Sie mich nicht so kurzer Hand abweisen, Cynthia.«
Eigentlich war kein Grund ersichtlich, warum Hals, Wangen und Stirn Cynthias sich mit Purpurröte bedecken, warum ihr Herzschlag stocken und ihr Atem so schwer gehen sollten.
»Sie haben kein Recht, so zu mir zu sprechen, Richard Holders,« erwiderte sie heftig; »Sie benützen den Umstand, daß Sie mich allein und schutzlos treffen, um mich zu beleidigen!«
Ihre Stimme bebte vor Entrüstung und Zorn; damit wandte sie dem thörichten Pächterjungen den Rücken und eilte rasch über die Wiese zurück. Richard blieb am Ufer stehen und sah ihr mit schmerzverzerrtem Antlitz nach. »Sie ist in den Pfaffen verliebt,« brummte er grimmig, als er ihr nachsah. »Nun werde ich sie niemals wiedersehen,« flüsterte er traurig vor sich hin, als er am Flusse stand und ihr nachblickte, bis sie mit gesenktem Haupte und im Abendsonnenschein leuchtendem Haar in dem von der Wiese nach dem Garten führenden Pförtchen verschwand. Nicht ein einziges Mal hatte sie zurückgeblickt, und mit ihr verschwand auch die Sonne ganz vom Horizont und ließ nur noch einen langen, flammenden Streifen am Himmel zurück; der Fluß zu Richards Füßen nahm in den tiefen Schatten, die sich auf ihn lagerten, eine dunkel purpurne Färbung an, und langsam kam der graue Abendnebel heraufgekrochen.
Brennende Thränen, wie sie nur die bitterste Enttäuschung den Augen eines Mannes erpreßt, traten in seine Augen. Er hatte sein Leben noch vor sich, er besaß Gesundheit, Freiheit, Kraft, Männlichkeit und Geld; die ganze Welt stand ihm offen. Auch die Liebe eines Weibes und lustiges Kindergekreisch mochten ihm beschieden sein in seiner neuen Heimat über dem Ocean; aber seufzend wandte er sich ab, und heiße Thränen brannten in seinen Augen.
Oben traf Cynthia mit Lätitia und ihrem Verlobten zusammen. Basil führte seine Braut am Arm, und die kleine, flinke Gestalt trippelte neben ihm her in dem raschen Schritt, den sie sich auf den eiligen Gängen zu ihren »lieben Armen« in Little Silver angewöhnt hatte.
Cynthia hatte das so schlecht zusammenpassende Paar noch nie außerhalb des Hauses gesehen, und es kam über sie wie eine Offenbarung.
Sicherlich hatte die arme Lätitia noch nie so häßlich und alt ausgesehen, als in diesem Augenblick, wo sie in der Helle der Abendbeleuchtung an der Seite des Geliebten ihrer Jugend den Hügel hinaufstieg. Nun bemerkte Cynthia, was sie bisher nie bemerkt hatte, und wunderte sich, wie mager und verfallen dies teure, traute Wesen war. Das plumpe, grobe Kleid, das kleine, viereckige Tuch, das die schmalen Schultern überflüssigerweise noch eckiger erscheinen ließ, der fuchsige schwarze Hut, kurz, alles, was sie um und an sich hatte, diente nur dazu, die grausame Verschiedenheit des ungleichen Paares noch schärfer hervortreten zu lassen.
»Sie ist das liebste, edelste Weib der Welt,« sagte sie streng zu sich selbst, »und er ist ihrer gar nicht würdig!«
Das liebste Weib der Welt blieb in der Mitte des Weges stehen, küßte sie, kniff sie in ihre glühenden Wangen und lenkte Basils Aufmerksamkeit darauf.
»Wie herrlich du aussiehst, mein Liebling, welch prächtige Farben du hast! Du mußt jeden Tag spazieren gehen, Cynthia, die Bewegung bekommt dir so gut. Sieh nur, Basil, wie gut sie aussieht!«
Da der ehrenwerte Basil Haworth die ganze Zeit über Cynthia mit so verstohlener Bewunderung in seinen Blicken betrachtet hatte, daß ihre Wangen wie blühende Rosen erglühten, so wäre er ganz in der Lage gewesen, bejahend zu antworten; allein er that nichts Derartiges. Nur seufzte er, ließ Lätitias Arm fallen und schlug in der sinnlosesten Weise den harmlosen Heckenrosen die Köpfe ab, als empfinde er ihre Schönheit und Lieblichkeit wie eine persönliche Beleidigung.
»Wir haben nun alles ausgemacht, liebes Herz,« erklärte Lätitia ihrer Schwester, während sie demütig hinter ihrem Bräutigam dreinging, »du mußt auch unsre Flitterwochen mit uns verleben.« Cynthia errötete und krümmte sich innerlich, wahrend das liebe Geschöpf weiterplauderte. »Weißt du, ohne dich wäre ich keinen Augenblick glücklich. Ich könnte dich unmöglich einen ganzen Monat entbehren, mein Liebling, und würde keine Nacht mehr schlafen können, weil ich immer an dich denken müßte. Basil ist damit einverstanden; es ist ihm ganz recht, wenn du mitgehst.«
Cynthia getraute sich nicht, ihn anzusehen; schweigend ging sie neben Lätitia her und zertrat die Blumen, mit denen der Bräutigam ihrer Schwester unfreiwillig ihren Pfad bestreute.
An der Gartenthür blieb er stehen, und Lätitia eilte voraus, um zum Nachtessen noch Salat zu schneiden. »Ich habe diese Anordnungen nicht getroffen,« begann er verlegen und wurde rot bis an die Haarwurzeln; »ich habe versucht, Lätitia davon abzubringen; aber ihr ganzes Herz hängt daran. Es thut mir furchtbar leid, aber – aber – ich habe es ihr nicht abschlagen können.«
Mit schamroten Wangen und verächtlichem Blick drehte sich Cynthia nach ihm um. Sie wollte die Annahme gar nicht aufkommen lassen, daß der Anblick von Lätitias Glück in dieser geheiligten Zeit ihr irgendwie peinlich sein könne.
»Und warum hättest du das thun sollen?« fragte sie kalt. »Lettice und ich haben uns unser ganzes Leben lang nie getrennt – warum sollten wir es jetzt thun?«
»Ich bitte um Vergebung,« erwiderte er mit heiserer Stimme, »ich wußte nicht, daß es dein Wunsch war. Ich dachte, du möchtest vielleicht lieber hier bleiben.«
»Wo Lätitias Glück in Frage kommt, habe ich überhaupt keine eigenen Wünsche,« gab sie in kaltem, gemessenem Tone zurück, der hart und mitleidlos in sein Ohr fiel. »Was immer ihr angenehm sein mag, ist genügend Glück für mich.«
»Thust du aber auch recht daran, dies Opfer zu bringen?« fragte er mit erstickter Stimme, als schnüre ihm jemand die Kehle zusammen; »bedenke dein eigenes Leben – deine Jugend.«
»Es ist kein Opfer,« erwiderte sie mit unzerstörbarer Ruhe.
An den verwelkenden Lilien und den Rosensträuchern vorüber waren sie den Weg hinaufgegangen und standen nun vor Cynthias Lieblingsrosenstock, unter dem der Kanarienvogel und die vergrabenen Schätze ihrer Jugend lagen.
»Für dich nicht!« sagte er bitter.
»Nein, für mich nicht!« erwiderte sie mit einer Stimme, die so fremd und kalt und verächtlich klang, daß Cynthia selbst sie kaum wieder erkannte.
Sprachlos und tief beschämt wandte er sich ab; denn von der andern Seite kam ihnen Lätitia mit einer Hand voll frischen, grünen Lattichs eilends entgegen.
»Wie ist's nur möglich, daß ich dies kleine, verschrumpfte Wesen je geliebt habe?« fragte er sich bitter.
Ueber das junge Mädchen aber kam eine große Schwäche, während sie dastand und gedankenlos eine Rose zerpflückte, die sie von dem kleinen Grabe zu ihren Füßen gebrochen hatte. Schwankend erreichte sie das Haus und kam an diesem Abend nicht mehr herunter.
Während der ehrenwerte Basil Haworth unten mit einer genügenden Zuthat von Essig und Oel seinen Salat verspeiste, lag sie oben auf ihrem kleinen, weißen Bett, und ihre Hände krampften sich in die Kissen hinein, während ein wilder Aufruhr in ihrem Herzen tobte.