Auguste Supper
Lehrzeit
Auguste Supper

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Zur Investitur kam die Tante heraufgefahren.

Im »Hirsch« stellte sie ein, und ebendaselbst war das große Mittagessen bestellt worden, weil Babette, die erst heute mit der Tante wieder abreisen sollte, sich entschieden dagegen verwahrt hatte, daß man »alle die Bauern« im Pfarrhaus habe.

Es war ein kühler, regnerischer Sonntag. Grau und schwer lag der Himmel über der Höhe, und aus den schwarzen Wäldern stiegen Dunst und Nebelschwaden.

Aber der Unbill des Wetters zum Trotz kamen die Leute in Scharen aus den Tälern heraufgestiegen und über die Höhe hergewandert.

Mit schwerklopfendem Herzen schritt ich an jenem Tag dem Kirchlein zu. Ich ging allein; ich hatte mich eigens dazu freigemacht. Die Tante mit den andern war schon voraus. 103

Wie gerne wäre ich in einen Winkel geschlüpft, wo niemand mich beachtet hätte; aber ich gehörte in den Pfarrstuhl und durfte mich dem nicht entziehen.

Wie gebannt saß ich an meinem Platz. Dann und wann knisterte das Seidenkleid der Konsistorialrätin Heller neben mir oder schneuzte sich einer der Herren, die hinter uns saßen.

Vikar Ehrhard, der auf unsrer Hochzeit der lustigste Gast gewesen war, war auch darunter. Er war vom Seminar und Stift her Martins Freund. Durch das schräge Gitterwerk des Stuhles sah ich über die dichtgedrängten Bänke im Schiff hin. Schwarze Hauben, glatte Stirnen, braune Gesichter erblickte ich, und in den Stühlen der ledigen Mädchen saß aufrecht, schweren Ernst auf der Stirne, das Agathle, meine Magd.

Da ging mir's durch den Sinn: ›Wenn das Agathle froher aussieht nach Martins Predigt, dann will ich annehmen, daß sie recht war.‹

Der Schulmeister Müller, der große Mann mit dem roten Gesicht und dem Doppelkinn, hatte sich's ausbedungen, daß am heutigen Tage er, nicht der Blinde, der gar kein Recht dazu habe, die Orgel spiele beim Gottesdienst.

Das war mir nicht recht. Ich wußte: ein Spiel wie damals, das wie silbernes, flimmerndes Netzwerk die Oede im Kirchlein durchleuchten 104 würde, war von den plumpen Händen des vierschrötigen Mannes nicht zu erwarten.

Schwerfällig erklang jetzt das Vorspiel. Es war ein Getöne, keine Musik. Auf einer guten, großen Orgel, in weiteren Hallen gespielt, hätten diese Akkorde vielleicht machtvoll gewirkt. Im Andersberger Kirchlein klangen sie brutal.

In den alten Choral Martin Luthers: »Ein feste Burg ist unser Gott«, leiteten sie über, und auch dieses Lied voll kühner Kampfesfreude und heller Siegeszuversicht, das sonst wie wesensverwandt zu meiner Seele sprach, es klang mir heute brutal, unedel unter den Händen des Mannes aus der Orgel. An die lichten Töne des Blinden, die vom Morgenstern sangen, mußte ich denken, und ich meinte, mein Herz hätte ruhiger geklopft, wenn der Ferdinand dort oben gespielt hätte.

Bei der Predigt saß ich regungslos. Ich wagte nicht aufzusehen.

Da saß ich, hielt immerzu mein Herz wie eine leere Schale dem Manne auf der Kanzel hin und bat in meinen Gedanken: ›Fülle sie, fülle die Schale!‹

Und die Worte, wie sie aus dem bärtigen Munde fielen, nahm ich auf und besah sie von allen Seiten wie eine Frucht, von der man sehen will, ob sie genießbar sei und ob kein Wurm daran nage. Ach, daß ich so mißtrauisch bin! 105

»Wo ihr in ein Haus kommt, da sprecht zuerst: ›Friede sei in diesem Hause!‹« hieß es im Text.

Des Sprechers Stimme blieb ruhig und gleichmäßig, als er das las. Mir war, als hätte sie zittern müssen, weil es so etwas Großes ist, was da von priesterlichen Männern verlangt wird.

Während der Einsegnung drückte die Tante unaufhörlich das Taschentuch vor die Augen. Ich hörte sie leise schluchzen und das Seidenkleid knistern, ich selbst aber blieb seltsam unbewegt. Alles, was da zu Martin gesagt, ihm gewünscht und von ihm gefordert wurde, kam mir so nebensächlich, so geringfügig vor gegenüber dem einen: »Wo ihr in ein Haus kommt, da sprecht zuerst: ›Friede sei in diesem Hause!‹«

Reglos, versunken in sonderbares Träumen saß ich da, bis alles vorüber war. Als die Leute standen zum Gebet, da fiel mir ein, daß ich mir des Agathles Gesicht als Gradmesser für den Wert der Predigt aufgestellt hatte.

Gespannt sah ich nach den Bänken der Ledigen hin. Das Mädchen stand und schaute nach meinem Stuhl herüber mit einem erregten, ängstlichen Zug im Gesicht. Auf einmal hob sie sachte die rechte Hand und machte eine Bewegung, als ziehe sie an einem Glockenstrang. 106

Das galt mir und sollte heißen, daß ich dem Mesner das Zeichen zu geben habe zum »Ausläuten«. Rasch holte ich das Versäumte nach, da sah ich, daß das Agathle aufatmete wie befreit und daß die Schultheißen vorne im Gestühl zufrieden mit den Köpfen nickten. Da kam eine große Ernüchterung, aber auch eine große Ruhe über mich. Mein aufgeregtes Herz tat keinen Schlag mehr zu hastig. Gemaßregelt und mit Grund zurechtgewiesen kam ich mir vor. Was meines Amtes war, sei's groß oder winzig, das wollte, das sollte ich erfüllen; mehr verlangte kein Mensch von mir hier oben.

Unaufhörlich rieselte der Regen den ganzen Tag. Das Mahl im »Hirsch« wäre still, vielleicht etwas gedrückt verlaufen, wenn nicht der dicke, lustige Vikar Ehrhard und Tante Elisabeth so gesprächig gewesen wären.

Der alte Bauer mit dem fertigen, scharfen Gesicht, der seinerzeit mit uns vom Tal heraufgestiegen und welcher der Schultheiß Feucht von Scherbach war, saß unfern von mir und trank rasch und viel.

Auf einmal hob er sein Glas: »Prost, Frau Pfarrer, so müeßet Se werde, wie d' Frau Konsistorialrat. Die ka's mit de Leut. Sie send e bißle z' still, Frau, e bißle z' maulfaul, nix für unguet. Aber Sie send au no jung, Sie könnet's no lerne.« 107

Der Alte sprach eindringlich, fast väterlich, offenbar ein wenig angeregt von dem Wein, den er getrunken.

Der Hirschwirt, der hinter mir die Schüsseln reichte, fiel ihm ins Wort. »Send z'friede, Schultes! D' Frau Pfarrer ist recht. Sie versteht's mit de Gäul und versteht's mit de Hund, drum sag i: sie hot 's Herz uf em rechte Fleck.«

»Mehr braucht's nicht,« warf der Blinde über den Tisch herüber ein.

Ich sah ihn rasch und mißtrauisch an. Aber sein Gesicht sah nicht aus, als ob er spotte.

Lauter und lärmender ward's in dem niederen Zimmer. Nicht alle, die da waren, wußten richtig Maß zu halten. Und der Bauer vom Wald spricht auch nüchtern rauh und laut, daß es fast wie ein Streiten klingt.

Mir ward heiß, eng und benommen.

Unbemerkt schlich ich weg, um den Kopf für einen Augenblick in Kühle und Stille zu tauchen.

Eine Türe drückte ich auf, auf gut Glück. Zwischen übereinander geschichteten Stühlen und Tischen hindurch schritt ich zum offenen Fenster. Auf den Garten ging's hinaus, in dem Akeley und spanische Wicken regennaß um die Rabatten hingen.

Unter mir, mit ausgestrecktem Arm leicht zu berühren, war das Bretterdach der Laube, auf 108 dem grüne Glaskolben standen, in denen etwas zum Destillieren aufgestellt war. Ich lehnte mich hinaus, froh der feuchten Kühle; da hörte ich Stimmen, die aus der Laube kamen.

Erst achtete ich kaum darauf, dann horchte ich, ohne es recht zu wollen.

»So komm doch ins Zimmer,« hörte ich eine Stimme, in der ich die des lustigen Ehrhard zu erkennen glaubte, »da außen ist's doch zu kühl zum Sitzen. Der Moserosch freut sich auch, wenn er dich gerade heute hier oben steht.«

Ein kurzes, stoßweises Lachen erklang. »Mach keine Sprüche, Dicker! Das glaubst du ja selbst nicht, daß der ›reine Tor‹ sich über etwas freuen kann, es sei denn über des Herrgotts Gnade und Barmherzigkeit.«

»Du,« sagte der Vikar dagegen, »laß mir den Moserosch zufrieden. Er ist ein ehrlicher Kerl.«

»Ach was, ein Holzscheit ist er! Mich verlangt's nicht, ihn zu sehen. Nur das Weib, Dicker, das Weib, das den Gottesjüngling genommen hat, die möcht' ich kennen.«

»Also komm doch, komm herein! Stell dein Fahrrad in die Bauernstube. Sie ist drin, die Frau Pfarrerin –«

Wieder klang das stoßweise Lachen. »Sag mir, Dicker, aber ehrlich, du bist mit dem 109 Moserosch ja immer eng liiert gewesen, kannst du dir vorstellen, daß der mal einem Mädel eine Liebeserklärung machen könnte? Hahaha. Holdselige Jungfrau, du Gebenedeiete unter den Weibern – ich liebe dir!«

Sie lachten jetzt beide. Ich stand und hatte die Hände ums Fensterkreuz geklammert und fühlte mein Herz bis zum Hals herauf klopfen.

»Dein böses Maul hast du dir auch in die Philologie hinübergerettet, Hannes; da ist nichts drüber zu sagen –«

»Natürlich,« entgegnete die fremde Stimme wieder, »sollen die Theologen allein die bösen Mäuler haben? Aber in allem Ernst: sag mir, wie ist der ›reine Tor‹ zu einem Eheweib gekommen? Aus psychologischen Gründen ist mir das interessant.«

»Na, weißt du – Psychologisches ist da nicht viel dabei. Er ist der Schwestersohn der alten Heller, sie die Bruderstochter vom seligen Konsistorialrat. Die Heller hat den Moserosch zur guten Hälfte studieren lassen und die Frau Martha auferzogen – voilà tout. Zweckmäßigkeitsgründe.«

»Donnerwetter! Wie da alles klappt! Ja, Ja, das haben sie los, die von der Theologie, alles klappen zu machen. Nein, nein, laß mich nur sitzen, Dicker! Des Gottesjünglings Eheliebste interessiert mich nicht weiter!« 110

»Weißt du, was du bist, Hannes?«

»Ich –? Jawohl, ich bin der neueste Präzeptor am Lyzeum zu Wendlingen, Doctor philosophiae ›cum laude‹, Reserveleutnant, Sieger im Radrennen zu Mannheim, Inhaber der Rettungsmedaille für Errettung eines Menschen vom Tode des Ertrinkens – nota bene mit eigner Lebensgefahr –, Mitglied des Turnvereins –«

»Hör auf,« fiel lachend der Vikar ein, »ein alter Zyniker bist du und bleibst du.«

»Nicht schlecht,« rief laut der Fremde, »jetzt sei ich ein Zyniker, weil ich mich gefreut hätte, wenn in unserm Freunde Moserosch, alias der ›reine Tor‹, anläßlich seiner Hochzeit ein bißchen Menschliches aufgeglimmt wäre. O Dicker, was seid ihr doch für Kerle, ihr Stiftler!«

»Du bist doch auch einer, Hannes!«

»Eben drum! Ich kenn' mich aus. Und nicht um tausend Taler ließ' ich mir's abkaufen, daß ich dabei bin.«

»Na also, was schimpfst du dann!«

»Schimpf' ich denn? Fällt mir doch gar nicht ein. Gelobt habe ich die ganze Zeit. Weißt du, so heimlich gelobt. So nach des lieben Gottes Methode. Der liebt ja uns Menschen auch und wenn er uns noch so gottsträflich malträtiert. Oder lehrt man das jetzt anders? Zu meiner Zeit war's so. Aber ich bin nicht mehr 111 auf dem laufenden in puncto dieses. Man kommt schnell heraus, Dicker, du glaubst gar nicht, wie schnell.«

»O Hannes,« hörte ich den Vikar wieder, »du hättest eben doch auf die Kanzel gehört, dir läuft's wie Wasser.«

»Wasser ist gut,« rief auflachend der andre. »Hoffentlich meinst du wenigstens Wasser des Lebens. Man soll seinen eignen Stand nicht ironisieren. Du wirst mich nie ein schiefes Wort über die Schulmeisterei sagen hören. Und wenn zehnmal – Donnerwetter, jetzt wäre ich da beinahe in eine Sünde gefallen. ›In die Sünde fallen‹, das ist doch der technische Ausdruck? Nicht, Dicker? Zum Unterschied von ›sündigen‹ schlechtweg. Der alte Professor Müller hat dadrüber gelesen. Es war das Subtilste, was je geredet worden ist. Grün und blau ist mir geworden vor Bewunderung –«

»Also du kommst nicht mit ins Zimmer?« unterbrach hörbar ungeduldig der Vikar.

»Sicher nicht, Dicker. Wenn du mir zu melden gehabt hättest, daß der lange Moserosch in heißer Glut zu einem Weib entbrannt, also quasi – ich will damit aber lediglich den Unterschied markieren – ›in die Sünde gefallen‹ sei, dann hätte ich mir ihn und seine Gesponsin angesehen. Nachdem du aber nur zu berichten 112 hast, daß der Plan der Konsistorialrätin geklappt hat, nun flacht die Sache für mich ab. Die ganz kleine sittliche Entgleisung, die allenfalls für den Schnüffler und Liebhaber zu konstatieren bliebe, die hätte der Professor Müller selbst unbeanstandet in der Erbsünde mitschwimmen lassen. Ich tu's auch. Du auch. Es bleibt nichts Interessantes an dem Fall. Alles ist in Ordnung. Grüße den Langen von mir. Mein Genre ist er nicht. Aber ich hab' ihn ja auch nicht heiraten müssen. Für die Stoffel von Andersberg tut er's. Für mich wäre er zu vollkommen. Ich will ihn nicht stören an seinem Ehrentag. Mir ist die Sorte lieber, die je und je in die Sünde fällt. Vielleicht kommt's beim langen Moserosch später. Ich warte gern. Für heut ist nichts zu machen.«

Der Vikar lachte. »Dich plagt die Sehnsucht nicht, sonst würdest du so lang nicht warten wollen. Der Moserosch hat das Zeug nicht dazu.«

»Erlaube,« fiel der Fremde ein, »sind psychologische Subtilitäten dein Spezialfach oder das meinige? So ein baumlanger, starker, bärtiger Stiftler, der noch nie vom lieben Gotteswort und von seiner Tante losgekommen ist, dem eine Konsistorialrätin für Strümpfe, Hemd und Weib, Amt und Sonntagsbraten, Weltanschauung und Haustrunk sorgt – der hat das Zeug dazu doppelt. 113 – ›Sündigen‹ – ja das kann der ›reine Tor‹ nicht; aber ›in die Sünde fallen‹! – alle Wetter! ich wüßte keinen, der mehr alle Prämissen dafür hätte. Ganz besonders, wenn ›sie‹ danach ist, wenn –«

Ich konnte nicht mehr weiter hören. Die Türe ward hinter mir geöffnet, die Hirschwirtin kam, um Stühle zu holen. Sie schaute mich an. »Ist's Ihne net guet, Frau Pfarrer?«

»Ja,« sagte ich, »es war zu heiß für mich und zu laut.«

Sie nickte. »Sie sind's net g'wohnt. Mir macht's nix aus. Gucket Se no no e Weile zum Fenster naus. Oder ganget Se e bißle ins Gärtle nunter.«

Aber zum zweitenmal mochte ich den Lauscherposten nicht einnehmen. Hinter der Frau her ging ich zurück zu den Gästen und setzte mich still an meinen Platz.

Kurz nach mir trat Ehrhard ein. »Weißt du, wen ich da draußen in der Laube eben getroffen habe, Martin?« fragte er über den Tisch herüber.

»Nun?«

»Den roten Hannes, Marcus Tullius Cicero, wie er später hieß.«

Martin rückte den Stuhl. »Er soll doch hereinkommen, ruf ihn doch.«

Ehrhard winkte ab. »Er radelt schon 114 Scherbach zu. Auf einer Radtour kam er durch. Er ist drunten in Wendlingen am Lyzeum Präzeptor. Ganz zufällig lauf' ich an ihn hin. Er ist immer noch der Alte.«

»Ein feiner Kopf. Schade, daß er umgesattelt hat,« sagte Martin.

Ehrhard lachte. »Alter Schwärmer! Möchtest immer die Elite für uns haben.«

»Die feinen Köpfe machen noch keine Pfarrer,« sagte Tante Elisabeth salbungsvoll.

Ich weiß nicht, warum mich das ärgerte.

»Aber sie verderben auch die Pfarrer nicht,« warf ich hin.

Martin blickte mich an, wie ich da aus meiner Stille heraus auf einmal dreinredete. »Da hast du recht,« sagte er dann lächelnd.

Früh am Abend gingen und fuhren die Gäste davon. Tante mit ihrer Babette waren die letzten.

»Martha,« mahnte die Tante vom Wagen aus, »sorge gut für deinen Mann; das ist jetzt deine vornehmste Pflicht. Und stelle dich gut mit seinen Pfarrkindern!«

»Ja,« fiel die alte Magd ein, »mei Vater selig hot oft g'sagt: ›Mer weiß nie, wie mer d' Leut braucht.‹«

Die Pferde zogen an. Ich winkte stumm.

Wir stiegen hinauf in unser kühles, stark 115 dunkelndes Zimmer. Ich hob die Arme. Um Martins Hals hätte ich sie legen mögen und weinend tausenderlei fragen. So war mir.

Aber ich weinte nicht, und ich fragte nicht.

Eine große Scham war in mir, wenn ich Martins stillen Gleichmut sah. Scham und Stolz, die mich stumm machten.

Er holte die Bibel, machte Licht und las. Ich hörte zu; aber meine Seele war woanders. Das Dach der Laube, die grünen Glasflaschen und die Stimmen von unten, spanische Wicken, Akeley und nasse Gartenbeete standen wie ein Bild vor mir. Ich kam nicht los.

*

Für den Hansjörg Hindermann, den Abgebrannten, und noch zwei andre baute die Gemeinde ein kleines Häuschen. Es liegt etwas abseits vom Ort, hat drei Stuben und eine Küche und sieht ärmlich, aber sauber und schmuck in die Welt. Martin hat die Sache mit dem Schultheißen hin und her besprochen, und jetzt ist's so geregelt worden, daß die Insassen eine kleine jährliche Miete bezahlen müssen, welche die Zinsen des aufgewendeten Kapitals deckt oder doch nahezu decken soll.

Erst daraufhin hat der Hansjörg sich bereit erklärt, vom blinden Ferdinand, bei dem er seitdem 116 wohnte, in das neue Haus überzusiedeln. »I laß mer von d'r G'meinde nix schenke, i gang net ins Armehaus,« sagte er feindselig, als man ihm zum erstenmal von dem Plan sprach, und dabei ist er geblieben, bis man ihm den Mietzins festsetzte. Und die zwei andern hat er aufgewiegelt und verhetzt, bis sie sich weigerten wie er und stolz taten wie er, obgleich sie's noch weniger nötig hatten. Der eine der beiden ist ein ehemaliger Schneider, ein kretinhafter Mensch, der nicht imstande ist, sich auf seinem Handwerk fortzubringen. Er heißt Andreas Pfrommer; sie nennen ihn aber »'s faul Andresle«. Er lungert im Dorf umher, tut da und dort eine Handreichung und verzieht jahraus, jahrein sein häßliches, sommersprossiges Gesicht zu idiotenhaftem Lachen. Ein Amt aber besorgt er mit mütterlicher Treue: er hütet armen Bauern, die ins Feld müssen und nicht genug Dienstboten haben, die Kinder.

Mit stillem Grauen habe ich im Anfang oft gesehen, wie der Kretin die kleinen Wesen auf den Arm nahm und an sein schmutziges Wams drückte; jetzt fühle ich kein Grauen mehr bei diesem Anblick. Ich weiß, kein Mutterherz kann wärmer für die Kleinen schlagen als das Herz unter dem schmutzigen Wams. Wie ein Tier, das sein Junges herzt, kommt mir der Mensch vor; ich glaube, er würde die Zähne fletschen, 117 wenn jemand feindselig den seiner Obhut vertrauten Wesen nahe käme.

Der zweite, der mit dem Hansjörg das Gemeindehäuslein teilt, ist der »Amerikaner«. Ein großer, vierschrötiger Mann mit ungemein breitem, aber weit vornübergebeugtem Rücken, Händen wie gewaltige Bärentatzen, weit abstehenden Ohren und einem breiten, roten Gesicht mit großer, starker Nase. Als ich den Amerikaner zum erstenmal sah, kam er mir vor wie ein Hüne aus grauer Vorzeit, den die Jahre verwittert, zerknittert und gebeugt haben, in dem aber noch Reste gewaltiger Kräfte schlummern müssen. Als ich ihn aber sprechen hörte mit seiner sonderbar hohen, weibischen Stimme, und als ich ihn schreiten sah, wie er schlotternd und ohne Halt einherstolpert, da merkte ich, daß der äußerliche Hüne einen innerlichen Zwerg birgt.

Der Gastwirt zum Lamm sei der Mann früher gewesen und ein Holzhändler dazu. Weil ihm nichts gelang, was er anfaßte, ging er mit vierzig Jahren nach Amerika. Farmer wollte er werden und als reicher Mann heimkommen zu seinem Weib, das er zurückließ. Aber mit dem Reichwerden ging's langsam. Das Weib verlor die Geduld. Mit einem Bräuknecht ließ sie sich ein, mit einem baumstarken Menschen, der ihr alle Woche das Bier brachte für die Wirtschaft. 118

Da kam sie in Schande, die Lammwirtin. Die Weiber im Dorf sahen sie nicht mehr an, und kein rechter Bauer ging mehr ins »Lamm«.

Aber das ehrlose Weib senkte den Kopf nicht tief.

Und als es dann so weit war, da trug sie selbst an einem Sonntag ihren Buben in die Kirche, daß man ihn taufe auf die Namen Heinrich Wilhelm Gottlieb.

Damals liefen die Weiber; aber der Pfarrer ließ Kirche und Sakristei zuschließen, und außer den Paten und der weisen Frau hat niemand gehört, was das Weib und ihr Bub abbekam dazumal.

Dem Lammwirt haben getreue Nachbarn alles nach Amerika geschrieben.

Niemand weiß, wie er's aufgenommen hat. Aber ein halbes Jahr danach kam er. Stärker hatte sich sein breiter Rücken gekrümmt, sein fahles Haar war grau geworden. Sonst war alles beim alten. Zwischen Tag und Dunkel kam er ins »Lamm«. Es war kein Gast in der Stube. Nur die Nähkätter saß in einer Ecke und stickte Kartoffelsäcke.

Und die Nähkätter hat mir alles erzählt.

»Grüeß de Gott an, Meile!« hat der Lammwirt gesagt.

Sein Weib saß hinter dem Gitterwerk in der 119 Schenke, hatte den Buben an der Brust und sah weiß aus wie eine Tote.

»Kennst me nemme?« fragte der Mann und lachte.

Da legte das Weib den Buben in seinen Wagen, zog den Kittel über der Brust zusammen und stand auf.

»Kennst denn du mi no?« fragte sie dagegen, hob den Kopf hoch und blitzte den Mann an mit ihren blanken Augen.

Er wollte eine seiner großen Hände auf ihre Schulter legen, da wich sie ihm weit aus.

»Wenn de eimol in deim Lebe a Ma sei witt,« schrie sie auf, »no regst mi nemme a, Xaver!«

Der Lammwirt stand und machte große Augen. »Ha, sell wär! – Du bist doch alleweil no mei Weib.«

»I,« lachte die Marie auf, »i –? Siehst denn net, daß i en Bube han?«

Der Mann sah hinüber nach dem Kind, das strampelnd auf den Kissen lag.

»Meile,« sagte er scheu, »denk, 's sei mei Bue, i will an nix andersts denke.«

Das Weib trat zwischen den Mann und den Wagen: »'s ischt aber net dei Bue, und i möcht au net han, daß 's dei Bue wär! Lieber will i gar kein Vatter zu meim Bube als di! Wärst 120 drübe bliebe z' Amerika! Wärst e Millionär worde oder was de witt! No mei Ma sollst nemme sei, no des net!«

Wie außer sich war das Weib, dann legte sie sich weit über den Schenktisch und weinte laut auf.

Der Lammwirt stand und starrte und rührte sich nicht, bis die Nähkätter aus ihrer Ecke herüberkam, um nach der Frau zu sehen, die wie in Krämpfen lag.

Da wandte sich der Mann schwerfällig zum Gehen.

Es hat dann viele langwierige Verhandlungen gegeben. Der Pfarrer und der Schultheiß, die Anverwandten der Eheleute und gar das Gericht legten sich ins Mittel; aber die Marie war nicht zu bewegen, wieder mit ihrem Mann zusammenzuleben.

Der Bräuknecht war nun seinerseits übers große Wasser, das Weib stand allein mit ihrem Buben; aber sie wollte vom Lammwirt nichts mehr wissen.

Sie mußte fort vom Anwesen. Bettelarm zog sie nach der Stadt, dort ihr Brot als Taglöhnerin zu verdienen. Das Gericht sprach die Scheidung aus.

Der Lammwirt hauste allein; aber er hauste rückwärts. Der Mann war kein Trinker und kein Spieler, und er tat bereitwillig, was so der 121 Tag von ihm forderte; aber es war, als ob die Zwergseele den Hünenkörper immer weniger zu dirigieren vermöge. Ohne Umsicht, ohne Tatkraft führte der Mann sein Geschäft. Stück um Stück bröckelte ab. Das »Lamm« ward verkauft und zur Gemeindemolkerei eingerichtet. Der Lammwirt bekam einen Posten bei dem neuen Betrieb. Aber es war wieder nichts. Er handelt jetzt dann und wann mit Mehl und Kartoffeln, Butter und Obst nach der Stadt; aber er fristet nur kümmerlich sein Leben mit diesem Kram, und kein Bauer wollte ihn im Hauszins behalten, weil er nie zahlte.

Das sind also die drei, die ins neue Häuslein gehören.

Der blinde Ferdinand sagt, so habe ihn lange nichts gefreut, wie das Zusammenkommen dieser drei und ihre Weigerung, ohne Hauszins in das Backsteinhüttchen zu ziehen.

»Stolz lieb' ich den Spanier,« hat er lachend ausgerufen, als ihm Martin die Sache erzählte, die auf dem Rathaus sich abgespielt hatte.

»Da steckt der Hansjörg dahinter, mein wackerer Hausgenosse, der würde lieber unter bloßem Himmel kampieren, als der Gemeinde etwas danken.«

»Sie haben recht,« sagte Martin, »der Hansjörg ist der Anstifter. Es ist merkwürdig, wie 122 unzerbrochen in dem heruntergekommenen Menschen Trotz und sogar Hochmut thronen. Ich habe nie eine starrere Menschenseele kennen gelernt.«

»Bauernblut vom hinteren Wald,« sagte der Blinde, »ich kenne diese Rasse. Das sind harte Gestalten, die bricht kein Sturm.«

»Die bricht Gott,« sagte Martin zuversichtlich.

»Ja,« gab der Ferdinand zurück und hob den Finger, »aber nur, wenn er es ganz besonders klug anfängt.«

Martin schaute den Blinden verwundert an und gab keine Antwort.

Ich begreife, daß Maria Stengel das Agathle ungern zurückgelassen hat. Mir ist's, als könnte ich sie schon jetzt nicht mehr entbehren.

Sogar Martin, der doch so in sich gekehrt ist und die Leute nicht braucht, er folgt oft mit den Augen dem Mädchen, und er horcht auf, wenn sie redet.

Etwas Sicheres, Gefestetes hat sie an sich, als könne sie nie aus ihrem schönen Gleichgewicht kommen.

Ich glaube, das Annmeile, die Frau, die die verrückte Grabschrift hat, steckt in dem Mädchen.

Auf meiner Mutter Grabstein, den ich nur ein einziges Mal gesehen habe, und der zu Heidelberg unter dem Efeu liegt, steht nur ein einziges, kurzes Wort, das mein Vater hat eingraben lassen. »Warum?« heißt das Wort. Nun meine 123 ich oft, zwischen den Grabschriften der beiden Mütter und dem Wesen der Töchter sei etwas wie ein Zusammenhang. Da ist das Agathle im Vorteil. An einem warmen Abend, als Martin und ich im Garten saßen und Agathle Bohnen von den Stangen brach, habe ich zu Martin von des Mädchens starker, sicherer Art gesprochen, und daß ich wollte, ich wäre so.

Ich will ganz ehrlich sagen, mit welchem Hintergedanken ich es tat: Es verlangte mich, aus meines Mannes Mund zu hören, daß ich ihm recht sei, so wie ich bin, und daß nicht alle Blüten gleiche Form und Farbe haben. Aber er sagte nichts dergleichen. Er nahm die Brille ab und legte die Hand über die Augen, als schmerzten sie ihn. »Ja,« sagte er dann leise, »eine ganz Besondere ist sie, eine, die Lautes still macht.«

Er hat recht, das ist's, was an Agathle so wohl tut. Aber sagen hätte er mir doch etwas andres sollen. Ich habe so dringend gewartet.

Das Mädchen zwischen den Bohnenstöcken sang bei der Arbeit ein Lied. Langgezogen, ganz leise kamen die Töne daher. Die Burschen und Mädchen von Andersberg singen diese Weise oft. Es ist ein seltsamer, schwermütiger Text. »Am schwarz und blauen Bande trag ich ein golden Kreuz« fängt es an, und es kommt vom Sterben darin vor und von der Liebe, die ewig bleibt. 124

Schweigend lauschte ich hinüber. Martin hielt immer noch die Hand vor den Augen und hatte den Kopf an das Lattengerüst der Laube gelehnt.

*

Agathles Vater, der Hansjörg, ist mir ein Problem. Er ist im Dorf verachtet; aber doch scheint es, als sei unter diese Verachtung eine Art Furcht gemischt, oder die seltsame Neugier, mit der man etwa vor den Käfig eines gefangenen Tieres tritt.

Martin hält sich fern von dem Mann. Er sagt, so etwas von Verhärtung sei ihm noch nie vorgekommen. Ferdinand Schmitz dagegen steckt oft mit ihm zusammen und behauptet, am Hansjörg Hindermann mache er Studien. Im funkelnagelneuen Gemeindehäuslein wollte ich den Alten besuchen. Aber er nahm mich nicht an. Er saß auf der Hausbank. Ich sah gut, wie er mir entgegenblickte. Dann schloß er die Augen und schlief. Er schlief so fest, daß ich und das faule Andresle, das mir beistand, ihn nicht wachrütteln konnten. Das zweitemal, als ich hinauskam, hieß es, er sei im Taglohn beim Herrn Ferdinand. Und dort draußen traf ich ihn später in dem Acker hinterm Haus beim Kartoffelgraben. Hinter ihm watete Hanne, des Ferdinand Haushälterin, in den feuchten, scholligen Furchen und suchte 125 spähenden Blicks, ob der Alte keine der nützlichen Knollen zurückgelassen habe.

Dann und wann bückte sie sich und hob mit ärgerlichem Murmeln eine auf; dann grinste vorne der Hansjörg, ohne sich umzublicken. Ich blieb lange unter der hinteren Haustüre stehen und sah unbemerkt den beiden zu.

Den Ferdinand und seinen Hund sah ich, scharf abgehoben vom klaren Himmel, weit drüben gegen die Pappeln am Scherbacher Weg hinschreiten.

»Hansjörg,« rief die Hanne, »i tät no an saubers G'schäft mache!« Der Mann hackte weiter, lachte kurz auf und gab zurück: »Des send Gustosache! I tät em liebste gar kei G'schäft mache!« Das Weib schüttelte an ihrer Schürze, die sie aufgenommen und mit Kartoffeln halb gefüllt hatte. »Pfui Teufel au!« rief sie verächtlich, »wenn mer au so 'rausschwätze mag!«

Der Hansjörg stand, stützte sich auf den Hauenstiel und sah auf einmal finster drein. »Pfui Teufel? was pfui Teufel? I han mi scho krumm g'schafft g'hät, Hanne, wo du no net host laufe könne. Und für was schafft mer denn?«

»O Hansjörg, wenn mer aber net schaffe tät – was no?« –

»No –,« rief der Alte lebhaft, »no könnt mer naliege und verrecke, und g'scheiter könnt ei'm nix passiere!« 126

Mir kroch es ganz kalt über den Rücken bei der brutalen Rede.

Die Hanne aber, sie stemmte den freien Arm in die Hüfte und sagte eiskalt: »No lieg doch na, Hansjörg, wer verwehrt dir's denn?«

Der Trinker rückte an seiner Zipfelmütze, spuckte dann in die Hände und rief über die Achsel zurück: »Guck für di, Hanne, und halt 's Maul!«

Die Haushälterin kam gegen die Tür und sah mich stehen.

»Meiner Lebtag!« rief sie aus, »do stoht jo d' Frau Pfarrer.«

»Ja,« sagte ich, »ich hab's wohl gehört, wie gottlos der Hansjörg daherredet.«

Die Hanne entleerte ihre Schürze in einen Weidenkorb, schüttelte sie dann, daß die Erde rundumflog, und meinte verächtlich: »Jo der – 's wär 'm angst, wenn'r sterbe müeßt! So lang's no Heibeerschnaps und Bier geit auf dere Welt, ist dem's lang recht.«

An einem Reisigbesen säuberte sie sich jetzt die Schuhe, die schwer waren von feuchten Erdschollen. »Kommet Se no 'rei, Frau Pfarrer,« lud sie ein, »mei Herr ist no e bißle außeg'laufe, er wird glei wieder do sei!«

»Nein, Hanne,« wehrte ich ab, »heute komme ich nicht zum Herrn Ferdinand, heute möchte ich zum Hansjörg.« 127

Das Weib schaute mich rasch, erschrocken an: »Hot 'r denn ebbes a'g'stellt?«

»Nein,« rief ich lachend, »sonst wär' doch der Polizeidiener da.«

Kaum merklich verzog sie die Lippen, als wolle sie lächeln.

»Au wenn d'r Pfarrer oder d' Pfarrere kommt, ist's meistens net recht sauber,« meinte sie.

Dann legte sie die Rechte an den Mund und rief unnötig laut: »Hansjörg, d' Frau Pfarrer will zu dir.«

Nicht eben allzurasch drehte der Gerufene sich um. »Zu mir?« fragte er gedehnt und verwundert.

»Ja,« rief ich, »mein Mann ging schon zweimal, nach Euch zu sehen, und traf Euch nie. Heute wollte ich mein Glück versuchen.«

Der Trinker ließ die Haue fallen und fuhr mit den Händen an der offenen Weste hinunter, als wollte er diese oder jene säubern. »Ja no,« rief er und stieg mit grinsendem Gesicht über die Furchen, »no will i Ihne Ihrem Glück net em Weg sei!«

Die Hanne sah mich an, kopfschüttelnd und empört. »Frech ist der Mensch wie e Muck,« sagte sie leise.

Der Mann schritt auf den Pumpbrunnen zu und hob den Schwengel. 128

»Hansjörg, alter Esel,« schrie grob die Haushälterin, »mer hot doch d' Wasserleiting!«

»Sell goht mi nix an,« gab der Alte zurück und pumpte, daß der Schwengel knarrte und ein dicker Wasserstrahl plätschernd und rasch verläppernd auf die Steine und über die schmutzigen, schnell untergehaltenen Hände des Mannes schoß.

»Soo ist 'r,« sagte die Hanne und machte eine sonderbar verurteilende, wegwerfende Geste, die mehr als viele Worte sagte.

Der Hansjörg trat her, die nassen, verkrümmten Hände schlenkernd. »So jetzt, was soll's, Frau Pfarrer?«

Ich fühlte etwas wie Befangenheit. Was wollte ich eigentlich bei diesem Männlein, das da vor mir stand und in kühler Neugier zu mir aufsah? Zuspruch irgendwelcher Art verlangte dieser Hansjörg nicht, und Zusprechen war auch nicht meine Stärke. Sollte ich sagen: ich habe es für meine Pflicht gehalten, einmal nach Euch zu sehen? Das mochte ich auch nicht. Denn wenn zu mir jemand käme, lediglich von seiner Pflicht getrieben, dem würde ich kein Stückchen meines Wesens zeigen. Geh! würde ich sagen, du tatest den Gang ja nur um deinet‑, nicht um meinetwillen.

»Das Agathle läßt Euch grüßen,« sagte ich ausweichend. 129

»Hansjörg, gang doch aufs Bänkle mit der Frau Pfarrer,« rief die Hanne.

Das leuchtete uns beiden ein. Durch den Hof und ums Häuschen schritten wir, dem Bänkchen zu, auf dem der milde Schein der Herbstsonne lag und ein paar gelbe, welke Blätter, die der Wind von dem Birnenbaum am Gartenzaun dahergetragen. Das Männlein bückte sich. Sorglich und ritterlich streifte er da, wo ich sitzen sollte, die Blätter weg. »Do sitzet Se na, Frau Pfarrer,« lud er ein.

Dann setzte auch er sich, so weit weg, als es anging, legte die Hände ineinander, die Ellbogen aufs Knie und schaute vornübergebeugt auf die Steinplatten.

Höflich im landläufigen Sinn sah das nicht aus; aber es sah aus, als wolle das Männlein sagen: »Jetzt rede du nur immerzu so lang und so viel du magst, ich will ganz gern zuhören.«

»Das Agathle läßt Euch grüßen!« wiederholte ich.

»Er nickte: »Jo, jo, sie ist recht, 's Agathle, sie denkt an ihren Vatter.«

»Und ob Euer Agathle recht ist, Hansjörg! Fleißig und froh und still ist sie, wie wenn inwendig in ihr immerfort die Sonne schiene.«

Der Alte richtete sich auf und sah mich überrascht an: »Jo weger, Frau, Se hänt's verrote! 130 Grad so ist mei Weib, mei Annemeile au g'wä! Immer, wie wenn d' Sonn scheine tät. Und se hot doch fast nie g'scheint,« setzte er leiser hinzu.

»Hansjörg,« sagte ich jetzt, »erzählet mir doch etwas von Eurem Leben und von Eurem Weib, und warum sie die Grabschrift hat!«

Der Trinker schaute über den Garten hin, über dem die lichte, weiche Herbstsonne lag, diese zartfingerige Sonne, die mild an die letzten Blätter, an die letzten Blüten greift, und die vergessen macht, daß der Herbst der Superlativ des bösen Wörtleins »herb« ist.

Der eingefallene Mund des Alten schien mir noch tiefer einzusinken. Es ist seltsam, wie der festgeschlossene, schmallippige, glattrasierte Mund den Bauerngesichtern da oben Eigenart, Charakter aufdrückt. Selbst das durch den Trunk entwürdigte Gesicht dieses Mannes war nicht widerlich, wenn der Mund den Ausdruck hatte, wie eben jetzt.

»Also vo mei'm Annemeile wöllet Se ebbes wisse? Ha no, Se dürfet no mei Agathle a'gucke, no wisset Se scho, wie se g'wä ist,« sagte er kurz, fast abweisend, als habe ich etwas gefragt, was mich nichts anginge.

»Ja,« meinte ich, »aber was habt Ihr denn erlebt, wie ist's denn gegangen, daß Ihr so –« ich erschrak und stockte. »Daß Ihr so heruntergekommen seid,« hatte ich fragen wollen. 131

Der Bauer nickte. »Daß i so sauf,« sagte er kaltblütig, unbewegt.

Auf einmal war's, als ob sein alter Rücken sich straffte. »Sie lass' i mer g'falle, Frau Pfarrer, Sie packet's am rechte Zipfel. D'r Hansjörg sauft net, weil 'r halt e Lump ist, er sauft, weil – ja no –« schloß er und machte mit der Rechten eine abwehrende Bewegung durch die Luft, »'s ischt scho, wie's ischt!«

Ich schwieg. Die Resignation, die unter ein ganzes Leben einfach einen Strich macht, hieß mich schweigen.

»Frau Pfarrer,« wandte sich der Hansjörg nach langer Pause zu mir, und sein Gesicht, ja seine Stimme kam mir verändert vor: »Sie müeßt's gar net wisse wölle, was i scho älles verlebt hau! 's ischt so: – die süßest Milch muß sauer werde, wenn mer no dervo schwätzt.«

Ich griff unwillkürlich nach des Alten verkrümmter Hand. »Hansjörg,« sagte ich erschrocken, »Ihr habt doch Euer Weib gehabt.«

Ich weiß nicht, warum ich gerade dies sagte. Mir kam es so vor, als ob zweie zusammen alles tragen könnten – alles.

Der Bauer zog seine Hand zurück. »Daß i se g'hät han, des weiß i erst, seit se g'storbe ist,« murmelte er; »vorher han i nix wie Sorge g'hät und Kreuz und Kummer und Aerbet – erst seit 132 's Annemeile unterm Bode liegt, weiß i, daß i au e Weib g'hät han. – Und was für e Weib!« –

Mir zog's das Herz zusammen, wie der Alte sprach. Gallige Bitterkeit lag darin und herbste Selbstanklage.

»Ja, so ist's immer,« sagte ich verträumt, aus irgendeiner Tiefe heraus, die ich selbst nicht kannte.

Der Alte sah mich an mit seinen rotgeränderten Augen. »'s soll aber net so sei, Frau Pfarrer!« murmelte er fast grimmig. »Hätt i Kreuz und Kummer und d' Aerbet hintenum g'schobe und mei Weib vornena g'stellt – i wär besser g'stande, Frau, viel besser. Oftmols hot me's fuchsteufelswild g'macht, daß mei Annemeile no hot lache könne, wenn weiß was hi g'wä ist. Du bist e leichtsinnigs Mensch, han i vielmols g'sait, mit dir ka einer zu nix komme. Wisset Se, was se no do hot? G'sunge hot se: ›Geh aus, mein Herz, und suche Freud!‹ – O, Frau Pfarrer, was mi des Lied verzürnt hot! Halt dei Maul! han i oft g'schrien, was ka denn einer Freud suche, wenn's ihm jedes Gerstle verhagelt! Hansjörg, hot se no g'sait, wenn mer d' Freud scho hätt, brücht mer se net z' suche. Grad unsereiner muß des Lied singe.«

Ich saß ganz reglos und ließ mir die linde 133 Sonne auf Gesicht und Hände scheinen. Und ich sah das Grab vor mir, neben des Pfarrers Monikale, wo das Immergrün wächst, und ich dachte, neben dem Annemeile müsse gut liegen sein.

Der Bauer tat einen tiefen Atemzug. »Der Stengel, wisset Se, d'r letzt Pfarrer, der ist oft und viel bei mei'm Weib g'steckt. I han's ällemol net leide könne, i han ällemol denkt: was braucht mer denn des Geläuf do! Zum Annemeile han i's g'sait: Horch, was tuet denn d'r Pfarrer so oft do! I mei, der sott sei'm G'schäft noch und du de dei'm! O Hansjörg, hot se g'sait und hot g'lacht, weißt denn net, daß mer au in d'r Woch äll Tag e halbs Stündle Sonntich han derf?

Und de Pfarrer, wie er amol unter d'r Stalltür g'stande ist, wo mei Weib grad g'molke hot, han i g'frogt: Herr Pfarrer, hot's denn 's Annemeile so nötig, daß mer immer noch ere gucke mueß? Do hot er halt laut nausg'lacht: O Hansjörg, hot 'r g'sait, merket Ihr's denn net, Euer Annemeile predigt, und der Pfarrer hört zu.«

Der Bauer schwieg und starrte vor sich hin. Ein Laufkäfer lief über den Weg, ein großer, grüngoldener, und ein Distelfink pickte an den Sonnenblumen.

»War sie von Andersberg, Euer Weib?« fragte 134 ich leise, nach langer Zeit. Er schüttelte verneinend. Ein feindseliger Ausdruck kam in sein Gesicht.

»Was schwätzet Se au, Frau Pfarrer! Z' Andersberg ist an andre Sort! Vo Stempflinge drübe ist se gebürtig g'wä, wo's in gute Johr Wei geit und in schlechte Essig.« Er lachte kurz auf und schwieg wieder.

Mich packte eine große Ungeduld. »Hansjörg,« sagte ich, »mit was bringt man denn Euch zum Reden und zum Erzählen?«

Er schüttelte langsam den Kopf. »Mi? – mit nix, wenn i net will.« Dann schaute er auf einmal lebendiger zu mir her: »Gucket Se, Frau Pfarrer: wenn mer in e tannes Scheit en Keitel treibt, no schlitzt's von obe bis unte; treibt mer'n aber in en hartholzene Stumpe, no tuet's kein Rucker! – So ben i! I be so e hartholzener Stumpe, mit dem mer net fertig wurd.« Wie trotziges Selbstgefühl klang's aus des Alten Rede und wie Hohn und Weltverachtung zugleich.

»Hansjörg,« gab ich betroffen zurück, »meine Fragen sollen kein Keil sein, ich möchte euch nur kennen, euch Leute da oben, weil ich doch unter euch lebe, weil wir doch zusammengehören.«

Hinter uns, aus dem offenen Fenster des Erdgeschosses, klang jetzt die Stimme des Ferdinand. Ueber die Aecker her war er gekommen und von hinten ins Haus getreten. 135

»Frau Pfarrer,« rief er mir zu, »nur nicht weich geben! So hartholzen wie er tut, ist der Hansjörg noch lange nicht.«

Ein gutes Lachen tönte zu uns heraus, dann trat auch schon der Blinde neben das Bänkchen.

Er streckte mir die Hand hin und sein Hund drängte sich freudig an meine Knie.

Der Hansjörg stand auf. »So, Frau Pfarrer, jetzt gang i wieder, jetzt hänt Se jo ein zum Ausfroge.«

Lachend drückte der Blinde den Alten nieder. »Das könnte Euch passen, Hansjörg! Ihr bleibt da, und ich setze mich dazu: Tres faciunt collegium.«

Der Bauer schüttelte den Kopf: »Des verstand i net.«

»Ist auch nicht nötig,« gab der Blinde im Niedersitzen zurück, »vom Ferdinand könnt Ihr schon einmal etwas auf Treu und Glauben hinnehmen.«

»Net gern,« sagte der Bauer kurz, »was mi ongoht, des will i au verstehe.« –

»Recht habt Ihr,« rief der Blinde, »ist nur schade, daß Ihr nicht auf den Pfarrer studiert habt.«

Der Hansjörg sah feindselig drein. »Sie lachet über mi,« sagte er mißtrauisch; »aber i be net so dumm, wie i aussieh.« –

Der Blinde machte mit seinem Stock Striche auf den Steinplatten und gab gleichmütig zurück: 136 »Wer hält Euch denn für dumm, Hansjörg? Stellt Euch doch nicht an wie ein böser Hund, der um sich beißt, wenn man ihn streicheln will.« Dann stieß er hart mit seinem Stock auf den Boden und fuhr fast heftig fort: »Merket Ihr denn nicht, daß diese Frau da nicht hergekommen ist, um Euch aus dem pfarramtlichen Säcklein Bettelbrocken hinzuwerfen? Sie will doch holen bei Euch, lernen bei Euch, wie immer ein Mensch beim andern holen und lernen soll. Heraus mit der Farbe! Erzählet einmal von des Johann Georg Hindermann verhunztem Leben, wie wenn es Euch nichts anginge.«

Der Bauer sah reglos vor sich hin und sagte lange nichts. Dann drehte er langsam den Kopf dem Blinden zu. »So, Herr Ferdinand, Sie glaubet also an, daß mei Lebe verhunzt ist?«

»Natürlich glaub ich das,« antwortete lebhaft der Blinde. »Wenn ein Bauer, der einmal ein strammer Kerl war, der auf einem schönen Hofgut saß und das beste, bravste Weib von der Welt hatte, – wenn der als ein bettelarmer Schnapslump da neben mir sitzt, – dann glaube ich, daß sein Leben ein verhunztes ist.«

Ich sah des Hansjörg feuchte Arbeitshände zittern und über sein Gesicht einen Zug von grimmigem Trotz gehen. »Und wer hat's denn verhunzt, wer?« stieß er heiser hervor. 137

»Wer?« gab der Blinde unbewegt zurück, »zuallermeist der ungebärdige, wilde Kerl, der in dem Hansjörg steckt. Und dann haben noch viele dazu geholfen; aber sie hätten's nicht gekonnt, wenn ihnen nicht eben dieser Hansjörg jederzeit in die Hände gearbeitet hätte.«

Die roten Aeuglein des Bauern hingen starr an dem Sprechenden. Es war ein großes Staunen in diesem Blick, ein ungläubiges Staunen, das etwa sagte: Also so stehen wir miteinander?

Dann stand er ganz langsam von seinem Sitz auf, fuhr sich mit dem schmutzigen Handrücken über Stirne und Nase und sagte, sich zum Davongehen wendend: »Also – wenn Sie's so g'nau wisset, wie's ist, – zu was braucht mer no mi? Verzählet Sie's der Frau Pfarrer in drei Teufels Name!«

Ueber den Hund, der am Boden lag, schritt er weg und er hielt den Kopf mit bösem Blick tief gesenkt, wie ein gereizter Stier.

Der Blinde lachte leise auf und horchte auf den verhallenden schweren Bauernschritt. Dann wandte er sich zu mir. »Wieder einmal ist sie abgeglitten, die Axt,« sagte er. »Wo und wie immer ich diesem knorrigen Klotz beikommen will, ist's nichts. Bin nur begierig, wer zuletzt den Kerl noch meistert!«

»Merkwürdig,« fuhr er nach einer langen, 138 stillen Pause fort, »merkwürdig, wie zäh und unausrottbar und unzerstörbar der Trotz in diesem Manne ist. Da schreitet das Leben und der Tod, der Haß und die Liebe, das Glück und das Leid über solch ein Jammermännlein hin. Es wird krumm und lahm, voll Narben und Beulen, zerschunden und ausgedörrt; aber es gibt sich nicht, und es duckt sich nicht.

Wenn unsereiner irgendeine Last zu tragen hat, gleich schickt er seine Seele aus, einen Helfer zu suchen, der mittrage. Dieser Hansjörg aber nimmt alles grimmig auf die eignen Schultern. Seit ich ihn kenne, steht er allein. Abseits von den andern und abseits von einem Höheren, den er sich feindlich glaubt. Schade um diesen Kerl. So oft sein Schicksal an ihn herantrat und hat ihn gefragt: Biegen oder brechen? da hat er's trotzig aufs Brechen ankommen lassen.«

»Und ist er, der ins Trinken kam, nicht gebrochen?« warf ich ein.

Der Blinde antwortete nicht sogleich, dann sagte er langsam: »Oft meine ich, der Hansjörg könne eines schönen Tags sein Laster abwerfen wie ein betrügerischer Bettler den Höcker oder das falsche Stelzbein, und er könne dann wieder aufrecht dastehen vor aller Augen. Ich möcht's nicht beschwören, daß der Alte, sobald's ihm der Mühe wert erschiene, wieder ein tüchtiger Kerl 139 zu sein, nicht auch ein tüchtiger Kerl sein könnte. Das klingt Ihnen unwahrscheinlich, Frau Martha; aber wissen Sie nicht, daß es Wurzelknollen gibt, die Jahre lang vertrocknet in einem Winkel liegen können, und die sofort, wenn sie in den rechten Boden kommen, Blätter und Blüten treiben?« –

»Und welches wäre nach Ihrem Dafürhalten der richtige Boden für den Hansjörg?«

Wieder blieb der Blinde eine Zeitlang still. Dann sagte er ernst: »Er müßte sehen dürfen, daß schlecht immer schlecht und gut immer gut heißt bei uns da oben und anderwärts auf der Welt. Und er müßte es erleben und erfahren dürfen, nicht bloß damit vertröstet werden und es nicht bloß erzählen hören, daß Recht Recht bleibt auf Erden. Dem Hindermann frißt, wie schon so vielen Tausenden vor ihm, die alte Geschichte das Mark aus den Knochen, die Geschichte, daß es dem Gottlosen so wohl gehet auf Erden und daß der Gerechte muß Unrecht leiden.«

Ich sagte nichts. Es war mir schwer und trüb zu Sinn.

Da reckte sich der Blinde auf und fuhr sich über die Stirne. »Kopf hoch, liebe Frau,« sagte er, als habe er mir ins Herz gesehen, »das mit der großen Ungerechtigkeit in der Welt, das ist wie der Nähkätter ihr grimmiges Gesicht: 's ist nur obendrauf so. Solch ein alter, blinder Kerl 140 wie ich, der sieht deutlich, wie eben alles nach ewigen, freundlichen Gesetzen geht, die das ganze, scheinbar so wirre Getriebe in glattem Gang erhalten.«

»Ja,« sagte ich, »und bei dem glatten Gang, da kommt bald der eine, bald der andre unter die Räder.«

Der Blinde nickte und lächelte. »Sicher, Frau Pfarrer, ganz sicher. Wie Kinder in einem Saal voll arbeitender Maschinen, so stehen wir Menschen noch in Gottes Welt. Bald bringt da eines ein Glied in die Räder, bald wird dort ein andres hineingestoßen. Aber langsam, ganz langsam wird das Kindervolk Menschheit älter. Langsam, ganz langsam lernen sie die sausenden Ungeheuer erst fürchten, dann verstehen, dann benützen. Seltener wird einer zermalmt, seltener greift einer ungeschickt ins Räderwerk. Und einmal, ganz ferne dort hinten, wo die Röte der Ewigkeit am Himmel steht, – einmal wird die Zeit kommen, da jeder, jeder in dem weiten Saal weiß, wie und wozu die tausend Räder schnurren, die tausend Riemen sausen, die tausend Schifflein fliegen, die tausend Spindeln schwirren – und dann gibt's frohe, sichere, helläugige Menschen Gottes, die kühn durch alle Gänge schreiten.«

Es blieb lange still auf unserm Gartenbänkchen. Der Ferdinand hielt seine blinden Augen der 141 Sonne zu gerichtet, und ich sah in sein blasses Gesicht, auf dem es lag wie große Zuversicht und große Kraft.

Da kam mir ungewollt, fast unbewußt der Gedanke: Warum sieht das Antlitz mit der Brille und dem schwarzen Bart nie aus wie dieses? Wo fehlt's denn dort?

»Was hat denn der Hansjörg Hindermann erlebt?« fragte ich hastig, wie man fragt, wenn man auf der Flucht vor hetzenden Gedanken ist.

Der Ferdinand schien aus weiten Fernen zurückzukommen. »Ach so, unser Freund Hansjörg,« sagte er und streichelte mit dem Stock des Hundes Rücken, was Nero wohlig sich streckend sich gefallen ließ.

»Also kurz und bündig: der Hansjörg ist eines schwerreichen Vaters Sohn. Eine einzige Schwester hat er gehabt, die war des Gemeinderats Lörcher Weib. Der Lörcher ist ein braver Kerl, der in der Furcht Gottes sein Andersberger Leben lebt; aber drüber hinaus ist weiter nichts mit dem Lörcher. Das Bärbele Hindermann hat er dazumal geheiratet, weil es seiner Sippe der Gulden wegen recht war, und das reiche Bärbele Hindermann hat den Lörcher geheiratet, weil er ein stattlicher und dazu ein gutmütiger Kerl war, weil sie allerlei zuzudecken hatte und wohl auch fürderhin zudecken wollte, und weil ihr Bruder, 142 der Hansjörg, nach des Vaters frühem und jähem Tod erklärte, entweder müsse seine einzige Schwester jetzt ein ehrbares Leben führen oder er schieße sie tot. Da wählte die Bärbel mit ihren neunzehn Jahren die Ehrbarkeit, die ihr der zwanzigjährige Bruder vorschlug; sie heiratete den viel älteren Lörcher, der dadurch ein reicher Bauer wurde, gebar ihm nach Jahresfrist eine Tochter und starb daran.

Der Hansjörg und ich standen auch am Sterbebett. Und da ich dazumal noch einen guten Rest von Augenlicht hatte, sah ich, wie das junge, lebensgierige Weib dem Bruder einen haßerfüllten Blick zuwarf, und ich hörte, wie sie, unbekümmert um ihren stillen Gatten, der daneben stand und das Kind auf dem Arm hatte, flüsterte: ›Hättest mi net zum Heirate zwunge, no müßt i heut net sterbe!‹ –

Der Hansjörg sah ganz gelb aus im Gesicht und flüsterte zurück: ›'s stoht doch e Vatter do für dei Kind, leicht hätt's möge anderst sei.‹

Als sie tot war, sagte der Bruder auf der Stiege zu mir: ›I han's wölle recht mache, und i tät's no emol so mache.‹

Des alten Hindermann Stiefbruder, der damalige Schultheiß von Ellerbach, war der Pfleger für die minderjährigen Bruderskinder. Wie er sich mit dem Lörcher, dem Witwer seines Mündels, 143 auseinandergesetzt hat, weiß ich nicht; aber daß er mit dem Hansjörg bös zusammenkam, das weiß ich.

Der Reichtum, den der alte Hindermann hinterlassen hatte, bestand zumeist aus prächtigen Wäldern. Dann war ein Steinbruch da, der über den Bahnbau im Tal eine Goldgrube war.

Aber in der Goldgrube hat hauptsächlich der Pfleger gegraben. Wenigstens ist der dazumal so unter der Hand wohlhabend geworden. Die Advokaten, die der Hansjörg nach seiner Volljährigkeit hinter den Schultheißen hetzte, nahmen nicht diesem, sondern ihrem Klienten das Geld ab. Es war alles in Ordnung, nur der Hansjörg sah es nicht ein. Und das Schlimme war, daß er seine Ansicht nicht für sich behielt. Ich habe ihm in jener Zeit zugeredet und zugeredet; aber es war, wie wenn man in glostendes Feuer mit der Feuergabel fährt: so oft die Luft hinzukann, flammt es auf. ›Recht muß Recht bleiben,‹ schrie der Hansjörg, und da meinte er immer sein Recht und wollte von andrer Leute Recht gar nichts hören.

Das kostete böse Summen. Und wenn einmal die Beleidigungen, die Verleumdungen hinüber- und herüberstiegen, wenn dazu noch das gute, schwere Bauerngeld herausmuß aus dem hartverschlossenen Beutel, – dann wächst der Haß 144 wie Unkraut im Maienregen, dann wird's böser und immer böser.

Als der Steinbruch auf Umwegen und durch mancherlei Hände hindurch aus des Hansjörgs Hand in die des Schultheißen von Ellerbach gekommen war, da hat sich der Hindermann zum erstenmal einen Rausch getrunken. Das war bei der Lammwirtin, bei des Amerikaners Weib, die dazumal noch in Ehren war.

›Hör auf, Hindermann,‹ sagte die, ›hör auf, du kommst in wüste Sache nei!‹

›I tu, was mi freut, Lammwirte, mach's du au so!‹ rief der Bauer und trank weiter.

Um jene Zeit hat die Lammwirtin mit dem Brauknecht angebandelt. Das alles sah ich kommen. Dazumal hatte ich meine Augen noch. Sie waren zwar schlecht, und ich sah nicht so hell wie heute; aber ich hatte immer der Zeichen acht, und wo ich gute oder böse Knospen schwellen sah, da wußte ich, daß bald gute oder böse Blätter kommen würden.

Als der Steinbruch vertan war, fand der Hansjörg die Anna Maria. In der Stadt fand er sie, als er zu einem Advokaten fuhr. Sie war im Dienst; war eines armen Bauern Tochter und hatte Heimweh. So ging das leicht. Ich meine immer, sie hat aus Heimweh, aus Sehnsucht nach Stall und Aeckern und dörflichem Leben 145 den jungen Bauern mit der finsteren Stirne genommen. Doch weiß ich's nicht. Eine Zeitlang wurde die Stirne heller. Das Annemeile war ein Weib danach. Wie das Agathle, so war sie. Nur vielleicht etwas schmächtiger am Körper.

Und dieser schmächtige Körper hat zwölf Kinder geboren. Und immer wieder war doch kein Kind im Haus, und kein andres Lachen da als das, welches das Annemeile zwischen ihr Schluchzen hinein aufzubringen suchte für den Hansjörg. Des Bauern Stirn war schon lang wieder finster. Und dann blieb das Agathle endlich da, ein einziges von zwölfen.

Aber das mit den Kindern, die kamen und gingen, das war nicht die einzige Bürde, die das Annemeile trug in jenen Jahren. Oft ist's, als wolle das Schicksal eine Belastungsprobe machen, als lege es Gewicht um Gewicht auf, die Kraft der beladenen Schultern bis aufs äußerste zu prüfen. Durch einen großen Teil von des Hansjörgs schönem Wald sollte dazumal die Eisenbahn geführt werden. Der Hindermann war einer von den seltenen Bauern, die in ihrem Wald nicht die klingenden Gulden sehen und schätzen. Sein Stolz und seine Freude war das weite, alte, wohlgepflegte Revier, in dem er der Herr war. Und nun wollten sie kommen und weite Strecken roden, und die Stämme, die der Bauer fast Stück um 146 Stück kannte, fällen, die jungen Schonungen zerstören.

Der Hansjörg sagte nein und nein und nein.

Man bot ihm die höchsten Preise – er tat's nicht. Man bat, man belehrte, man drohte – er tat's nicht. Man wollte ihn selbst einen Preis machen lassen –, er tat's nicht. Seinen Wald wollte er behalten, den Wald, den er schon als Bube durchstreift und von den Vätern überkommen hatte, den Wald, an dem sein Herz hing.

Und wieder kam's zum Aeußersten.

Und mit dem Wald war fast das ganze dafür erlöste Geld kaput, Geld, das allerlei Ratgeber, allerlei Winkeladvokaten, allerlei Halbdiebe einsteckten; alles Leute, die heute wohlhabend und geachtet sind. Damals habe sogar ich hartschlägiger Mann mich nicht mehr zum Hansjörg getraut. Nur das Annemeile war bei ihm. Und das Annemeile habe ich zuzeiten gestellt auf der Straße. Und mit meinen dreiviertelsblinden Augen habe ich gesehen, wie das Weib auf die Zähne biß, daß die Tränen nicht kamen, und wie sie hervorwürgte: ›'s ischt sicher au für ebbes guet, Herr Ferdinand, sonst wär's anders gange.‹ Das war eine, das Annemeile!

Und im ersten Frühling, als die Eisenbahn durch des Hansjörg Wald fuhr, da entzündete ein Funke das dürre Gras und Laubwerk einer 147 Böschung. Und das Unglück wollte, daß das Feuer weit und tief hineinfraß in den Waldteil, der dem Hansjörg geblieben war. Der Hansjörg machte nicht viel darüber. Er trank sich nur einen Rausch.

Und weil er nicht viel drüber machte und sich einen Rausch trank wie bei einem Freudenfest, so sagten gewisse Leute zu Andersberg, der Hansjörg habe den Wald selbst angezündet wegen der Entschädigung und aus Zorn. Gewisse Leute gibt's überall, und überall sind sie von der gleichen Sorte.

Es gab eine Untersuchung, die den Hansjörg rein wusch. Aber sie wusch ihm die Erkenntnis nicht mehr aus der Seele, daß ein Teil der Andersberger ihn, den Hindermann, für fähig gehalten hatte, ein Brandstifter zu werden. Ueber das kam er nicht hinüber.

Zu dem unehrlichen Pfleger, den falschen Ratgebern und dem Fiskus, der ihm seinen Wald abgenommen hatte, kamen jetzt als weitere Feinde die Andersberger, die eignen Dorfgenossen. Und das ist das Schlimmste. Das heißt: als locker gewordener Stein aus einer festgefügten Mauer fallen. Das ist der Anfang vom Verwittern, vom Ende.

Noch war der Hansjörg vermögend genug, um für die Gemeinde ein unbequemer Feind zu sein. 148

Er tat kein Unrecht; aber er hörte auf, vom Andersberger Recht etwas zu halten.

Er griff niemand an; aber er wußte zu zeigen, daß er keiner sei, den man ungestraft der Brandstiftung zeihen dürfe.

Starrer und immer starrer wurde der Bauer. Wo man etwas von ihm verlangte oder erwartete, da versagte er; wo man ihm entgegenkommen wollte, da wich er voll Hohn zurück. Ich kann nicht jeden Fall erzählen. Auf seinem Grund und Boden mußte man die Quellen fassen und das Reservoir bauen für die Wasserleitung, welche die ganze Gemeinde ersehnte.

›Noi,‹ sagte der Hansjörg, ›des Wasser brauch i, daß i lösche ka, wenn i wieder irgendwo a'zünd han.‹ Und er lachte dazu sein böses Lachen, das jede Hoffnung auf gütliches Auseinanderkommen abschnitt.

Da gab's wieder Prozesse, die den Hansjörg ärmer, trotziger und verbitterter machten.

Damals schwur er, von dem Wasser, das die Gemeinde ihm gestohlen, nie einen Tropfen zu benützen.

Die Anna Maria ist wie ein Prellbock zwischen der Gemeinde und dem Bauern gestanden. Das ist ein böses Amt und doch ist's so oft Weiberamt.

Sie hat nichts tun können als immer die 149 ersten und schlimmsten Stöße auffangen. Das hat sie nach und nach zermürbt, wie manches Weib unter des Mannes Art zermürbt.

Langsam aber unaufhaltsam hat auf diese Weise der Haß, dieses gefräßigste Ungeheuer, dem eisenharten Mann alles unter den Händen weggefressen. Sein Geld ging drauf, sein Weib fing an zu kränkeln, die Freude am anererbten Besitz, an der Scholle der Väter verschwand mit der Erkenntnis, daß ein unbegriffenes, fremdes Recht Stück um Stück abbröckeln, wegreißen konnte, trotz allen Wehrens und Widerstrebens.

Der Bauer schüttelte den Kopf immer stärker über den Lauf der Welt, er wurde mehr und mehr ein Verächter, der Gift in sich hineinfraß.

Ich weiß Zeiten, da ich mich nicht an den Hansjörg heranwagte, weil ich nichts zu sagen wußte auf seine Reden. Man hat ja wohl seine Sprüchlein bereit; aber bei Wolkenbrüchen hilft kein Schirm, und ein ehrlicher Mann schämt sich auch, immer mit Wechseln auf den lieben Gott zu operieren, da doch kein Mensch weiß, wie, wann und ob sie eingelöst werden.

Da habe ich denn immer nur gesagt: ›Hansjörg, du mußt durch! Beiß auf die Zähne und hau dich durch!‹

Und die Anna Maria hat immer leiser ihr 150 Lieblingslied gesungen: ›Geh aus, mein Herz, und suche Freud.‹

Der Stengel hat ihr's dann auf den Grabstein schreiben lassen.«

Der Blinde reckte sich jetzt und kehrte mir sein Gesicht zu. »Das, Frau Pfarrer,« sagte er, »ist so in Bausch und Bogen die Geschichte vom Johann Georg Hindermann. Wenn der liebe Gott, wie das so die landläufige Ansicht ist, uns Menschen erziehen will durch unser Schicksal, dann, meine ich, hat er sich beim Hansjörg in den Mitteln vergriffen. Ich will übrigens nichts gesagt haben. Ich habe schon ein paarmal die Erfahrung gemacht, daß der blinde Ferdinand dem lieben Gott ganz unnötiger- und verfrühterweise am Zeug geflickt hat. Nur gut, daß gerade er das am wenigsten übelnimmt; ja, ich meine sogar, ich sehe ihn dann lächeln, sein Gotteslächeln, das warm und hell macht. Denn er hat nichts lieber, als wenn wir Kleinen und Kleinsten zutraulich und ohne Furcht an den Spuren seiner Füße herumtasten und dabei in aller Kinderehrlichkeit unsre winzige Weisheit auskramen.«

Ich hörte mit stiller Seele dem blinden Mann zu. Ueber die Höhe her kam der Abendwind, und die hohen Stengel der braunroten Malven, die zwischen den Sonnenblumen am Gartenzaun 151 festgebunden waren, nickten mit den freigelassenen Gipfeln.

Auf einmal lachte der Blinde und tastete nach meiner Hand. »Ehrlich, Frau Pfarrer, Sie sind gelehrt worden, anders zu denken?«

Ich erschrak fast. Es ist immer, als lese einem der Ferdinand im Innersten.

Da ich nicht sogleich Antwort gab, fuhr er fort: »Wundern Sie sich nicht darüber, das ist ja so einfach. Der Herr Pfarrer hat seine Gottesgelahrtheit aus ganz andern Quellen. Aus Quellen, aus denen der Ferdinand Schmitz nur kurze Zeit trank, weil er über den Büchern zu erblinden und vielleicht auch zu erlahmen drohte. So habe ich denn dazumal die Gelehrsamkeit und noch vieles andre dazu niedergelegt und bin schlichtweg ein Schulmeisterlein geworden. Als auch das der Augen wegen nicht mehr ging, bin ich den Andersberger Bauern, dem Hansjörg, dem Lörcher, dem Schultes, dem faulen Andresle, der Nähkätter, dem Annemeile, dem Agathle und Konsorten ins Kolleg gelaufen, und das tue ich jetzt immer noch. So ist denn meine Weisheit eine ganz andre geworden als die, welche Sie vom Herrn Pfarrer kennen. Und sie ist auch noch gar keine fertige Weisheit, wie beim Herrn Pfarrer und seinen Gewährsleuten. Denn ich lerne immer noch dazu von Tag zu Tag. Und mancher Tag stößt mir 152 das um, was mir der andre aufgebaut hat. Aber das kränkt mich nicht. Ich sehe daraus, daß noch Leben in der Geschichte ist.

Am liebsten möchte ich über alle meine Anschauungen das schreiben, was manche Kaufleute obenan an ihre Preislisten schreiben. ›Nur bis zur Ausgabe der nächsten gültig!‹« Er lachte fröhlich auf und fuhr nach kurzer Pause fort: »Entsetzen Sie sich nicht, liebe Frau Pfarrer; es hört sich schlimmer an, als es ist. Sehen Sie, der echte, rechte Verlaß auf einen Menschen muß nicht daher kommen, daß der Mensch immer der gleiche, sondern daß der Mensch immer ehrlich ist. Die Ehrlichkeit muß das Unveränderliche, das Stabile in uns sein – alles andre darf wechseln. Wer sich der Unveränderlichkeit seines ganzen inneren Menschen rühmt, der ist nicht klüger als einer, der sich darüber freuen würde, daß sein lebendiges Fleisch glücklich versteinert sei.«

Ich saß still und befangen. Es kam mir vor, als sei es meines Amtes, etwas dagegen zu sagen.

Meinen Mann fragte ich im Geiste um die richtige Antwort, und da fiel mir auch schon etwas ein.

»Ferdinand,« entgegnete ich, »es ist doch eine Wahrheit da, eine ewige, einzige, unverrückbare. Eine Wahrheit, die man erreichen und vertreten kann, heute, morgen und alle Tage.« 153

»So,« murmelte der Blinde, – »so, – gibt es das?«

Ungeduld überkam mich. »Das wissen Sie doch, Ferdinand, daß es das gibt! Sie sind doch auch ein Christ.«

»Aha,« stieß er hervor und pfiff ganz leise durch die Zähne, »daher geht der Wind –«

»Ja,« sagte ich kurz, »daher geht er.«

Der Blinde lehnte sich an die Hauswand zurück und ließ die Lider über die leblosen Augen sinken.

»Gut,« sagte er, »gut.« Nach langem Schweigen fuhr er fast eintönig fort: »Manchmal möchte ich doch sehen können, und wenn es nur für eine Minute wäre.«

Ich schwieg und er setzte hinzu: »In Ihr Gesicht möchte ich zum Beispiel sehen können, wie das aussieht.«

Beklommen fragte ich: »Warum das?«

»Weil es schwer ist, nur immer in die blinde Nacht hineinzureden.«

»Ferdinand,« entgegnete ich leise: »Es sitzt da eine Frau, die immer hungrig ist und immer sucht und überall herumhorcht.«

Er lächelte: »Das beste Publikum für einen, der etwas zu sagen hätte und gerne auskramen würde –«

»Ferdinand,« bat ich, »reden Sie doch!« 154

»Was soll ich denn sagen? Es ist doch alles seit Jahrhunderten fix und fertig und niet- und nagelfest; alles amtlich sanktioniert und approbiert, da braucht man keinen blinden Schulmeister von Andersberg, daß der noch seinen Schnabel daran wetze.«

»Ach,« sagte ich ganz müd und mutlos, »jetzt wollen Sie auch nicht mehr, und an Sie habe ich doch immer zuerst gedacht, wenn ich etwas fragen wollte!«

»Haben Sie so viel zu fragen?« gab er fast lauernd zurück. Aber sein Ton warnte mich nicht. Ich wollte vorwärts.

»Ich habe täglich und stündlich zu fragen. Früher war mir alles klar. Jetzt stimmt nichts mehr. Ich kann nichts dazu und nichts davon tun; es ist nun einmal so! Mir wär's doch auch lieber, wenn's nicht so wäre!«

Der Blinde schüttelte den Kopf. »Nicht lästern, liebe Frau, nicht lästern! Keine größere Gottesgnade, als wenn uns erst einmal nicht mehr alles stimmt!«

»Gnade?« sagte ich, »Gnade? – Qual ist's doch und Elend, wenn einem der Boden unter den Füßen weicht.«

Er lächelte. »So weit sind wir schon?«

Ich schämte mich mit einemmal und wußte nicht warum. »Ferdinand,« bat ich, »fragen 155 Sie mich nicht, wie weit ich bin oder warum ich so weit bin, sagen Sie mir nur, was Sie für die Wahrheit halten!«

Er nickte mit dem Kopf. »Im Fragen sind Sie nicht zimperlich! das muß man Ihnen lassen! Sie gehen aufs Ganze! Alle Achtung! Nun denn: Was ich ›für‹ die Wahrheit halte, das muß Ihnen von selber einfallen, wenn ich Ihnen erst einmal sage, was ich ›von‹ der Wahrheit halte.«

Er neigte sich ganz nahe zu mir her, als wolle er mir ein Geheimnis mitteilen, und fuhr leiser fort: »Jeder muß die seine suchen! Für jeden ist eine da! Aber still muß man dabei sein, ganz still und verschwiegen, wie beim Schatzgraben. Immer, wenn man ein Wörtlein verlauten läßt, hebt sie die schillernden Schwingen, und wer sich rühmt, ihre Gunst genossen zu haben, schlägt ihr in ihr reines Angesicht.«

Mir ging ein leises Frösteln durch mein Herz, so, als sei kühler Morgenwind darüber hingestrichen.

»Ferdinand,« sagte ich, »ist sie denn nicht der Fels, auf dem wir alle stehen?«

Er schwieg eine Zeitlang. Dann lächelte er sonderbar. »Was ich von Felsen kannte, so alt ich bin, das war starr, hart, kalt und – nota bene – es war unfruchtbar!« 156

Ich dachte nach. Aufgeregt, gierig fast dachte ich nach. Die Abende fielen mir ein, da wir, soweit mein Erinnern reichte, aus dem großen Buch lasen. Früher die Tante, jetzt Martin. Kapitel um Kapitel, alles Wahrheit, alles Wahrheit. Ich hatte nie etwas andres gehört, nie etwas andres gedacht.

»Ja,« stieß ich hervor, »ja, Ferdinand, unfruchtbar – –«

»Suchen und schweigen!« murmelte er und legte die Hand auf meinen Arm.

Ueber die Aecker her, auf die rasch die Dämmerung sich senkte, klang ein Lied. Von der Arbeit heimkehrende Mädchen sangen in langgezogenen Tönen: »Wo findet die Seele die Heimat, die Ruh?« –

Der Blinde kehrte das Gesicht den fernen Sängerinnen zu. »Auch ihr?« sagte er leise.

Ich stand auf, um heimzugehen. Die Hanne schickte mir den Hansjörg heraus, daß er mich auf dem rasch dunkel werdenden Weg geleite.

Es wäre nicht nötig gewesen; aber ich schritt gern neben dem »Problem von Andersberg« dahin.

Die Unsicheren, die Gestrandeten, die vom Weg Abgekommenen – alle kommen mir nähergerückt vor, und nur mein Mann, der sicher und unbeirrt seinen geraden Weg geht, verschwindet mir mehr und mehr in der Ferne.

Ein Hund heulte fern drüben auf. Der 157 Hansjörg blieb plötzlich stehen. »Sei still,« rief er hinüber, »was brauchst du z' heulet! Du host net durchg'macht, was d'r Hindermann.«

»Kommt,« sagte ich da hastig, »kommt!«

*


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