Auguste Supper
Lehrzeit
Auguste Supper

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*

Die Pariserin ist da.

Das ganze Dorf ist voll von dieser Kunde. Der Typhusschrecken ist jetzt etwas Altes, Uninteressantes. Die Andersberger haben ihre neue Sensation.

Ich habe die Eva Lörcher an ihres Vaters Krankenbett gesehen. Den Mittag vergesse ich nicht.

Als ich in die Stube trat, stand da eine hochgewachsene, schlanke Dame am Tisch und sah mir forschend entgegen. Das blasse, leichtgepuderte Gesicht hat große Aehnlichkeit mit dem Agathles, so wie es jetzt aussieht. Schmale, scharfe, kluge Züge, über denen ein stiller, fast strenger Ernst liegt. Die rötlichen, kunstvoll frisierten Haare bauschen sich reich um die freie Stirne, und die weißen, leicht sommersprossigen Hände sind die Hände einer großen Dame.

Ich hatte sie mir anders vorgestellt, diese Eva. 294 Ich meinte, Schuld und Gemeinheit müßten auf den Zügen der Verlorenen liegen.

Verwirrt fast trat ich näher. Der Alte rief vom Bett her: »Des ischt unser Frau Pfarrer.«

»Ich denke mir's,« entgegnete die Fremde und verneigte sich leicht.

Ich fühlte immer die forschenden Augen der großen Frau an meinem Gesicht hängen. Das machte mich befangen und unfrei.

»Mein Vater hat mir von Ihnen erzählt,« sagte sie in einer Sprache, der man die fünfundzwanzig Jahre Paris wohl anhörte.

Wie ein kleines Mädchen kam ich mir vor. Verlegen, ungewandt und hilflos. Gewaltsam raffte ich mich zusammen.

»Auch ich habe von Ihnen gehört,« sagte ich und blickte ihr offen ins Gesicht.

Sie lächelte. »Das ist mir lieb.«

Der alte Mann strich mit seinen zittrigen Händen übers Deckbett. »I hätt se nemme kennt, mei Evele. Mir send z' lang ausenander g'wä, viel z' lang. Wie lang ischt's, Evele?«

Die Angeredete schob mir einen Stuhl zurecht.

»Sechsundzwanzig Jahre werden's am ersten August,« sagte sie ruhig und unbefangen.

Der Alte schien nachzurechnen. »Jo wäger, du bischt sellmols sechzehne g'wä und 's Bäbeles Gottfried zweiezwanzge oder dreiezwanzge.« 295

»Zweiundzwanzig,« stellte die Tochter fest, »vierundzwanzig war er, als er starb.«

»Mädle, Mädle,« murmelte der Alte, »daß du no d' Kurasch g'hät host!«

Sie sah lächelnd auf ihren Vater. »Ich habe doch nicht gewußt, wie's draußen ist. Mir war nur einfach mein Käfig zu eng.«

Lörcher nickte mit dem Kopf. »Grad wie dei Mueter!«

»Ja,« sagte die Tochter, »aber die Mutter hat schnell Schluß gemacht.«

Mir wollte es scheinen, als gleite über das blasse Gesicht ein Schatten. Die große Frau fuhr sich mit beiden Händen langsam über das schöne Haar.

Der Alte holte tief und mühsam Atem. »Evele,« murmelte er, »jetzt ischt's scho wie's ischt. Aber ällbott hot mer's doch 's Herz schier abdruckt, daß du so nebenaus komme bischt.«

Es war mir eine Pein, zwischen den beiden zu sitzen, und doch lockte mich's auch, anzuhören, was sich dieser Vater und diese Tochter zu sagen hatten.

Die Pariserin schien an meiner Anwesenheit keinen Anstoß zu nehmen. Ruhig, als sei sie allein mit dem Alten, sprach sie.

»Laß nur, Vater! Es können nicht alle einen Weg gehen!«

»Freile, freile! Aber doch brav bleibe könnet 296 älle, brav und in der Zucht und auf Gottes Weg! O Evele! Du bischt so sauber g'wä und hättest Sach g'nug g'hät; du hättest au z' Andersberg en Ma g'kriegt und wärst e rechts Weib worde!«

Im Gesicht der Tochter verzog sich keine Miene. Still und stumm stand sie am Fußende des Bettes, als sei gar nicht von ihr die Rede.

»Lörcher,« sagte ich leise und unbehaglich, »Ihr dürft nicht so viel sprechen.«

Aber er winkte nur kurz mit der Hand ab. »Gar net komme lasse han i di wölle, Evele! Weil mer's drüber nei g'wä ischt, daß em Lörcher sei Mädle soll e sottiche sei.– Aber der Herr Pfarrer hot gmeint, du häbest doch an Treber gesse in der Fremde wie der verlore Soh in d'r Bibel, und du werdest g'nug mit dir selber ausz'mache han; i soll di net au no bugsiere.« –

In das blasse, gepuderte Gesicht stieg jetzt ein ganz leises Rot. Die weiße Hand, die auf der Bettlade lag, zitterte etwas.

»Vater,« sagte die Frau, »du weißt ja nicht – in Andersberg weiß man ja nicht –« sie sprach nicht weiter. Hilflos schaute sie einen Augenblick auf mich, dann trat sie vor, ganz dicht an ihren Vater her.

»Vatter,« rief sie, und sie sprach breiten, unverfälschten Andersberger Dialekt, »Vatter, sag nix meh so! Guck, i weiß jo älles selber, älles! 297 I han mi so g'freut, daß i no emol heimkomme därf! Uf Andersberg han i mi g'freut und uf di und uf älles. Sag nix meh!«

Sie schluchzte auf und schlug die Hände vors Gesicht.

Ich stand auf und wollte mich davonschleichen. Zum Beichten gehören doch nur zwei.

Aber der Alte hörte mich.

»Frau Pfarrer,« rief er ganz eifrig, »bleibet Se no do. Sellt dromme im Tischschublädle muß e Brief liege vom Stengel. Wisset Se, vom Pfarrer, wo vor Ihne do g'wä ischt. Den müßt Se lese. I han glei zur M'riemadel g'sagt, den muß d' Frau Pfarrer au lese. Gang, Evele, hol den Brief her!«

Der Alte sprach so frisch, so lebendig und unbefangen, als sei nicht soeben seines einzigen Kindes Not und Schande vor seiner Seele ausgebreitet gewesen. Wieder hatte ich, wie schon so oft, das Gefühl, als reiche diesem stillen Mann alles Schlingwerk der Welt, das andern das Herz umschnürt, nur an die Stiefelschäfte, und sein ausschreitender Fuß trete alles unter sich.

Und auch die Frau, die eben noch gequält aufgeschluchzt hatte, war wieder Herr über sich.

Sie schritt an den Tisch und holte mir den Brief, und im Schreiten raschelten ihre seidenen Unterkleider, und es war mir kaum zu glauben, 298 daß diese Dame, dieses Mannes Kind, eine vom Weg Abgekommene sein sollte.

Froh der Ablenkung nahm ich den Brief.

»Leset Se 'n no laut vor, Frau Pfarrer, 's Evele darf 'n wohl an höre,« gebot der Alte.

Und ich las: »Werter alter Freund! Ich darf doch so schreiben, wenn wir auch, solange ich Andersberger Seelenhirte war, dann und wann die Degen kreuzten? Von der Lammwirtin, die waschens- und putzenshalber oft in unserm Hause aus und ein geht, habe ich gehört, daß Ihr von dem Uebel, das über mein liebes Andersberg ging, auch nicht verschont geblieben seid. Die Lammwirtin wird durch die Nähkätter über alles, was sich dort oben zuträgt, auf dem laufenden erhalten. Es drängt mich nun, Euch, lieber Lörcher, in dieser schlimmen Zeit die Hand zu drücken. Ihr habt mir sie, ohne daß Ihr es nur wußtet, auch oft gedrückt, wenn ich schlimme Zeiten hatte.«

»Do weiß i net recht, was er meint,« schaltete der Alte vom Bett her ein, »d'r Stengel hat nie ausg'sehe, wie wenn er schlechte Zeit hätt.«

Ich las weiter: »Ihr werdet ja vielleicht gehört haben, daß ich nicht mehr Pfarrer bin, und das wird Euch sicherlich freuen, da Ihr mir ja oft verblümt und unverblümt angedeutet habt, daß ich nicht recht für das Amt passe.

»Ich hab's jetzt mehr mit Büchern als mit 299 Menschen zu tun. Da kann ich nicht viel Unheil anstiften. So ein Buch nimmt kein Aergernis, es schüttelt auch den Kopf nicht, wie Ihr oft tatet. Es bleibt bei seiner Meinung und läßt mir die meinige, und das ist der beste Weg, um Frieden zu halten.

»Meiner Frau geht es gut. Ihr kennet sie ja! Sie nimmt die bösen Tage auch für gut, und wenn der liebe Gott oder die böse Welt sie mit etwas prüfen will, dann hält sie's für lauter Freundlichkeit und bedankt sich noch.

»Und zwei Buben haben wir. Ausgerechnet zwei Buben. Wir hatten uns doch wieder eine kleine Monika gewünscht. Zum Ersatz für die, die neben 's Hindermanns Annemeile an der Mauer liegt. Wolfgang und Fritz heißen die zwei. Meine Frau will immer hoch hinaus, und da haben ihre Söhne nach dem Goethe und dem Schiller heißen müssen. Der Goethe ist jetzt drei Jahre alt, und wenn ich ihn frage: ›Wolf, was willst du werden?‹ dann sagt er: ›König!‹ Ich lasse ihn dabei. Abwärts geht's später von selber. Ich habe auch einmal Prälat werden wollen. Der Schiller, der ist erst ein halbes Jahr alt. Der hat sich noch keinen Beruf erwählt. Wenn ich meine Frau frage: ›Marie, was wollen wir aus unserm Fritzle machen, weil doch sein Bruder König wird?‹ dann sagt sie: ›Pfarrer wird der! 300 Er hat eine Stimme, die jede Kirche füllt, und ich mag ihm noch so lang zusprechen – er gibt nicht nach.‹

»›Ja,‹ sage ich dann, ›der muß ins Konsistorium!‹

»So wachsen unsre Buben ihrem künftigen Beruf entgegen, und wir zwei Alten stehen daneben, warten, was werden will, und können vorderhand nichts weiter tun als die zwei Schlingel liebhaben als ein Geschenk aus Gottes Hand.

»Das Monikale, ja, das lassen wir liegen neben dem Annemeile. Ich wünsche mir keine bessere Gesellschaft für mein Kind. Im lichten Glanz der Ewigkeit soll es nur von des Hansjörgs Weib lernen, wie ich einst von ihr gelernt habe – das ist noch besser als König werden oder ins Konsistorium kommen.

»Jetzt hat soeben meine Frau diesen Brief gelesen, und sie hat gesagt: ›Helmut, ist nun das ein Brief von einem Pfarrer an ein krankes Gemeindeglied?‹ – ›Nein,‹ gebe ich zur Antwort, ›das ist ein Brief vom Stengel an den Lörcher! So frech bin ich noch nie gewesen, daß ich dem Lörcher den Pfarrer machen wollte. Der braucht keinen,‹ habe ich gesagt, ›der hat ja den lieben Gott. Wer den lieben Gott hat, der braucht keinen Pfarrer, und wer ihn nicht hat, dem nutzt kein Pfarrer.‹

»›Helmut,‹ hat meine Frau warnend entgegnet, 301 ›es ist nicht allen Leuten wie dir! Und zuerst muß man doch bedenken, wie es dem, zu dem man spricht, ums Herz sein könnte.‹ Meine Maria ist eine kluge Frau. Ich fahre nie schlecht, wenn ich ihr folge. Und da sitze ich nun, lieber Lörcher, und besinne mich, wie es Euch sein mag und was Ihr von mir wohl erwarten möget.

»Ihr seid jetzt so alt. Bis an die hohe Grenze hinauf, von welcher der müde Moses spricht, seid Ihr gekommen. Da wird es Euch sicher nicht darum zu tun sein, daß ich Euch in erster Linie vom Genesen und vom Nochlangeleben und so weiter rede, wie das sonst so üblich ist. Man muß immer die Fälle, die am nächsten liegen, zuerst ins Auge fassen, dann stolpert man nicht.

»Ich habe mein schwarzes Röcklein gern an den Nagel gehängt; aber daß ich nun nicht mehr an Kranken- und Sterbebetten stehen darf, das ist mir bitterlich leid. Wenn doch alle Pfarrer wüßten, welch großes Vorrecht sie darin haben! Wie man lebt, das macht man einem ja in allen Gassen vor, man darf nur hinsehen. Wie man aber stirbt, das ist eine Geheimlehre, die nur flüsternd von einem stillen Bett im Winkel einem kleinen Kreise weitergegeben wird.

»Mund und Nase habe ich immer aufgesperrt, wenn ich in solchem Kreise stand. Nur eines war mir dabei genierlich: daß man mich als 302 Pfarrer ansprach, wo ich doch nur einer war, der sterben lernen, nicht sterben lehren wollte.

»Eines ist mir dann immer aufgefallen: Fast jeder, der das dunkle Tor vor sich sah, wandte sich an mich um ein Leumundszeugnis, das er offenbar dem lieben Gott in der Ewigkeit vorweisen wollte.

»Und dann, lieber Lörcher, wenn ich so im Geist die Personalakten meiner Andersberger durchsah, dann konnte ich doch fast an jedes Bett hinknien und sagen: ›Lieber Vater im Himmel! Sieh, da will wieder ein Kind zu dir zurück, das sich auf dieser Erde redlich geplagt, mit Arbeit und Sorge und Anfechtung und Sünde herumgeschlagen hat und nun müd vor deiner Tür liegt. Tu ihm auf, lieber Vater, tu ihm auf! Du hast ja so viele Wohnungen in deinem Hause und unser großer Bruder hat uns die Stätte bei dir bereitet! Amen!‹

»Ich weiß jetzt nicht, lieber Lörcher, ob auch Ihr ein Leumundszeugnis von mir erwartet. Ihr habt mich ja als Pfarrer nie so recht ernst genommen. Aber daß ich ein ehrlicher Kerl bin, das werdet Ihr mir wohl lassen müssen. Und als ehrlicher Kerl möchte ich Euch die Hand drücken und möchte Euch das Zeugnis ausstellen, das einst unser Meister dem Nathanael ausgestellt hat: ›Siehe, ein rechter Israeliter, in welchem kein Falsch ist.‹ Und ich möchte in aller Demut 303 hinzusetzen: ›Gehe hin im Frieden, dir geschehe, wie du geglaubt hast!‹ – Ist es Euch so recht? Schüttelt Ihr nicht den Kopf über mich? Das war mir in den Andersberger Jahren immer vom Aergsten, daß Ihr, Lörcher, so oft den Kopf schütteln mußtet.

»Soeben kommt meine Maria mit einem ganzen Sack voll Neuigkeiten, die sie von der Lammwirtin hat.

»Eure Eva wolle heimkommen, und das Agathle sei erkrankt, und der Wengernsche Pavillon sei Euer Spital. Das letztere werdet Ihr in die Wege geleitet haben! Es ist recht, daß Ihr dem Baron Gelegenheit gabet, etwas abzuzahlen an der Schuld, die er auch an dem Vater Eurer Tochter hat.

»Ach, Lörcher, wie haltet Ihr's denn mit Eurer Tochter? Ihr habt mir immer gesagt, sie gehe Euch nichts mehr an und Euer Haus müsse rein bleiben! Ich darf und will Euch nichts dreinreden. Nur bitten, herzlich bitten möchte ich Euch: Tut Eure Tür nicht zu! Und wenn Ihr sie zutut, dreht wenigstens den Schlüssel nicht herum! Wenn man müd aus der Fremde kommt, ist es so schrecklich, verschlossene Türen zu finden. Und ohne den Wengern wäre sie nicht gleich so weit, nicht gleich bis nach Paris geraten! Ihr versteht mich schon.

»Das Agathle, das soll Gott behüten! Meine 304 Maria würde am liebsten nach Andersberg fahren und sie pflegen. Sie hat das Mädchen noch nicht vergessen und verschmerzt. Es gibt so wenig Agathlen.

»Mein Brief ist jetzt ein Buch geworden. Ich möchte noch viel schreiben; aber ich fürchte Euch ein wenig. Ihr seht mir immer so scharf auf die Finger.

»Gott befohlen, Lörcher, wenn dies mein letzter Brief wäre, ich wüßte nichts Besseres als ›Gott befohlen‹.

Euer

Helmut Stengel.«

Ich legte die vielen Blätter des Briefes aufeinander und schob sie in den Umschlag zurück, denn ich mochte nicht aufsehen. Die Eva stand gerade vor mir, ich hätte ihr ins Gesicht blicken müssen, und das wollte ich nicht.

»Jo, jo,« sagte der Alte, »'s wurd wohl der letzt Brief vom Stengel sei.«

»Schrieb er Euch oft?« fragte ich, nur um etwas zu sagen.

»'s ist 's dritt Mol. Eimol han i ihm Grumbire g'schickt und eimol a fette Henn. Bei's Stengels ist ällbott 's Geld a bißle knapp, weil er net rechnet! Hot er viel, no verschenkt er viel, hot er nix, no schnürt er sich de Leibrieme fester. – O des 'st e Ma. – Der wurd seiner Lebtag net g'scheit!« Er lachte kurz vor sich hin. 305

Die Eva trat auf einmal an ihres Vaters Bett: »Vater, warum hast denn du den Kopf über ihn geschüttelt, solang er hier Pfarrer war?«

Ich schaute auf. Der kurze, strenge Ton der Tochter fiel mir auf.

»Mädle,« sagte der Alte, »des verstohst du net so. D'r Stengel ist a gueter Ma; aber e Pfarrer ist 'r net.«

»So,« entgegnete die Frau sonderbar bitter, »gute Männer kann man wohl nicht zu Pfarrern brauchen?«

Lörcher drehte den Kopf. »Evele, mußt net in Sache schwätze, wo de net verstohst. – Wie 's z' Paris zugoht und d'r Brauch ist, des weißt du – de Andersberger Brauch weiß i –«

Schweigend trat die Eva vom Bett zurück, als sei der Fall erledigt.

Mir war die Kehle wie zugeschnürt. Langsam stand ich auf.

»Ja no, b'hüet Gott!« sagte der Alte und nahm meine Hand. »Kommet Se bald wieder! Mei Evele ist jetzt do, no pressiert mir's no net so mit 'm Sterbe. Gelt, Evele?«

Ich sah der Tochter ins Gesicht. Aber es war da kein Lächeln. Ernst und still schaute sie auf den kranken Mann. Ich bat mir Stengels Brief aus für meinen Martin.

»Jo, jo,« gewährte der Alte. 306

»Aber, bitte, bringen Sie ihn wieder!« setzte leise die Eva hinzu.

Das gönnte ich dem Stengel.

*

Ich schreibe jetzt fast nie mehr.

Mir ist's manchmal, als gingen mich die vielen beschriebenen Blätter da nebenan in der offenen Schublade gar nichts mehr an.

Das Agathle ist entschlossen, zu Stengels zu gehen.

Gestern bin ich mit ihr draußen gesessen auf dem Bänkchen am Wasserreservoir, wo die kümmerlichen Föhren im Sand stehen und die Schmetterlinge fliegen.

Des Mädchens Augen sind ganz groß geworden in dem schmalen Gesicht, und es sah aus, als wollten sie den Glanz, der über der Höhe lag, das Leuchten der fernen Dächer, das Grün der Wiesen und Aecker in sich hineintrinken für alle Zeiten. Sie geht nicht gern, das Agathle. Daheim, Daheim ist doch Daheim! Mir klopfte das Herz zum Zerspringen. »Agathle,« fragte ich, »reut es dich?«

»Was?« fragte sie ganz versonnen und verträumt dagegen.

Ich hatte das Fortgehen gemeint; aber nun sagte ich leise: »Alles, was war.« 307

Sie schaute mich an in ruhigem Erstaunen. »'s ist nix zum Reue – so goht's halt!«

Die gefalteten Hände im Schoß, saßen wir still und stumm, und die großen Ameisen liefen vor uns durch den Sand, und sie hatten da eine schöne Straße gezogen, auf der die einen kamen, die andern gingen.

Auf einmal schlug das Agathle die Schürze zurück, und sie suchte lange und umständlich in ihrer tiefen Rocktasche nach etwas.

Die Hand noch in der Rocktasche, schaute sie mich an, fest und doch sonderbar verstört, offen und doch in bittender Scheu.

Ich sah, wie sie rot und dann sehr blaß wurde.

»Do – Frau Pfarrer – i han's wölle mitnehme zum A'denke; aber 's ist doch besser, i laß 's do.«

Sie reichte mir ein kleines grauseidenes Tüchlein hin, das Martin oft um den Hals gebunden hatte, wenn in dem kalten, bösen Winter sein Husten überhandnahm. – Mir zitterte die Hand. Dem Agathle auch. Das Tüchlein fiel auf die Erde.

Mir liefen die Tränen übers Gesicht.

»Send Se still, Frau Pfarrer,« sagte das Mädchen mit ganz erstickter Stimme, »i gang jo jetzt zu 's Stengels.« 308

»Agathle,« sagte ich nach langer Zeit, »du hast ihn lieb und bist so stark gewesen.«

Sie sah mich an. »Sonst wär's kei Kunst.«

*

Heute hat der Hansjörg sein Mädle mit des Lammwirts Schimmeln zur Bahn gefahren und ist nüchtern heimgekommen.

*

Zu dreien sitzen wir oft auf dem Bänkchen vor Ferdinands Haus. Ich glaube, Martin will sich auch dort draußen zurechtfinden, zurechttasten. Die Dogge legt sich dann quer in ihrer ganzen Länge vor unsre Füße. Sie mag gern ihre Leute beieinander haben. Vom Holunder stiegen die weißen Sternchen und der schwüle Duft über den Garten, und die ersten hochgeladenen Heuwagen schwanken drüben hinterm Zaun vorüber. Ich glaube, Martin sieht nicht viel mehr als der Blinde von diesen sonnigen Tagen.

Er blickt immer nur in sich hinein. Still ist er und scheu, wie einer, der seinen Weg nicht weiß.

Wenn wir drei zusammen sprechen, dann tun wir's so behutsam, als sei da immer ein Punkt, an den man nicht rühren, nicht anstreifen darf. Und doch kann niemand dem Ferdinand gesagt haben –

Nach der Heuernte soll Schulzenwahl sein. Etliche schlagen den Hirschwirt vor, andre wollen einen »Schreiber« haben, einen von der Stadt. 309

»Oft meine ich,« sagte Martin gestern, »es wäre das beste für die Andersberger, wenn sie zum neuen Schulzen auch einen neuen Pfarrer bekämen, dann könnte ein ganz neuer Geist da oben einziehen.«

Ich erschrak. Das habe ich ja schon lange befürchtet, daß Martin über sich den Stab brechen würde; er ist so gar keine Kompromißnatur.

Ferdinand spielte mit seinem Stock, und sein Gesicht hatte den Ausdruck völliger Ruhe, den ich an ihm kenne.

»Der Andersberger Geist ist nicht der schlechteste. Und für einen gefesteten Mann wäre es keine üble Aufgabe, die Hand über die Andersberger zu halten.«

»Gefestet; wer ist denn gefestet?« murmelte Martin.

Der Blinde legte das Kinn auf den Stockgriff. »Jeder, der einen Sturm überdauert,« sagte er leichthin.

»Den einen überdauert man, im andern bricht man zusammen,« entgegnete Martin bitter und mutlos.

»Kann sein,« gab Ferdinand gleichmütig zurück; »die Hauptsache ist, daß man immer tut, was man kann. Und gerade jetzt ginge ich nicht davon, wenn ich Andersberger Pfarrer wäre.« 310

»Warum gerade jetzt?« fragte ich, weil Martin still blieb.

Der Blinde hob den Kopf und sein Gesicht nahm einen herben Ausdruck an. »Weil keine gute Zeit ist. Drei, vier Freunde von der Nähkätter ihrem toten Jakob sind schon den rauchenden Fabrikschloten und dem, was drum und dran hängt, zugezogen. Die kommen nicht wieder! Solange ein Andersberger zwischen den Furchen steht, ist mir um ihn nicht bange. Wie die Hexen sind unsre Leute: solang sie die Erde berühren, kann man ihnen nichts anhaben. Wenn sie aber einmal erst die Füße vom Boden der Heimat heben, dann weicht von ihnen die Stärke, wie vom geschorenen Simson. – Zum Kuckuck, das macht mir Angst! Und ich bin sonst nicht ängstlich um unsre Dickschädel. Da, wenn ich der Pfarrer wäre, da würde ich mir meine Sporen holen und meinen Gotteslohn.«

Martin schaute in die Ferne. Ein gespannter, ängstlicher Ausdruck war in seinem Gesicht.

»Ich habe die immer überbieten wollen, die draußen locken und versprechen,« sagte er unsicher, »aber es gelingt mir nicht.«

Der Blinde lächelte. »Als ich jung war, habe ich einmal am Neckar geangelt. Ein Würmlein hatte ich als Köder. Und ich fing nichts. Kein einziges Schwänzchen. Ein alter Mann sah mir zu. ›Ei,« rief er, ›jetzt würde ich doch 311 einmal den Köder wechseln.‹ ›Nein,‹ sagte ich, denn in der Jugend weiß man doch alles am besten, ›nein, ein Wurm ist immer das richtige.‹

Der Alte lachte, ›ja, aber fangen tun Sie nichts damit!‹

Heute sage ich Ihnen, Herr Pfarrer, wechseln Sie einmal den Köder!«

Martin blickte rasch und fast feindselig auf. »Ich habe immer das Höchste dargeboten, was ich hatte und kannte. Wenn das nicht lockt, womit soll ich dann werben?«

Ferdinand nickte lächelnd. »Ein Wurm ist immer das richtige, nur fangen tun Sie nichts damit!« Dann wurde er auf einmal ernst. »Es ist mir schon dazumal, als ich noch mitten in der Theologie steckte, so gewesen, als ob im Lehrplan ein Fach fehle.«

»Und dieses Fach wäre?« fragte ich begierig.

»Von der Kunst, den springenden Punkt zu sehen und alles am rechten Zipfel zu packen.«

In Martins Stirne war ein leises Rot. »Haben Sie Vorschläge?«

Ferdinand wiegte den Kopf. »Und wenn ich keine hätte! Es ist schon etwas, wenn man einen Mißstand als solchen anspricht. Aber ich habe etwas. Etwas, was ich von des Hansjörgs Annemeile, dem Rector magnificus der Andersberger Hochschule, aufgeschnappt habe.« 312

»Geh aus, mein Herz, und suche Freud,« rief ich unwillkürlich.

»Ja,« lachte der Blinde, »ja, daher bläst der Wind!

Es wird so viel mit Wechseln auf die Ewigkeit operiert. Sie mögen ja hochprima sein; aber die Leute wollen doch auch dann und wann bar Geld auf die Hand bekommen. Die von des Lörchers Art, die werden immer seltener. Nicht denen nachweinen! Gar nie den Zeiten nachweinen! Immer glauben, daß es vorwärts geht! Unvergängliches gibt's, Unveränderliches gibt's nicht. Was einmal zu seiner Zeit Norm und Ordnung war, das kann, wenn das Rad der Jahre fortgerollt ist, Schlendrian werden, ohne daß sich ein Tüpfelchen daran geändert hat.

Dann müssen wir, wir endlichen Menschen mit unsrer endlichen Weisheit dem unendlichen Strom, der dahinbraust, nachgeben. Wir müssen das Unsrige revidieren, weil das andre, das Mächtige, immer recht hat. Mitkommen, das ist alles! Und am allermeisten muß der Pfarrer mitkommen. Ja, der muß vorkommen, der muß schon den Weg wissen, wenn die andern noch die Richtung suchen. Darum darf er den Kopf nicht zu tief über die Bücher hängen! Das Leben braust und will helläugige Männer.

Und wenn die lodernden Essen und 313 rauchenden Schlote vom baren Geld erzählen, dann darf der Pfarrer nicht immer nur von der ewigen Stadt erzählen. Er zieht sonst einfach den kürzeren.

Wir hätten da oben Silberlinge genug; man muß sie den Leuten suchen helfen, statt sie ihnen aus der Hand zu schlagen. Den Blick für Echt und Unecht muß man ihnen schärfen, nicht ihnen beides verekeln.«

Martin hob den Kopf. Sein blasses Gesicht hatte einen scharfen Zug. »Jeden, jeden von uns Menschen zerrt es Tag und Nacht auf jene Seite. Auf die Seite, da die ewige Stadt nicht liegt. Sollen wir da noch mitzerren, wir Pfarrer? Sollen wir uns nicht dagegenstemmen mit ganzer Kraft – solange wir sie haben –« setzte er leise hinzu.

Der Blinde schüttelte den Kopf. »Wenn ein Wildbach schäumt, dem stemmt man sich nicht entgegen. Dem gräbt man ein Bett, daß er die Richtung finde. Die Menschen sind wie die Kinder! Hinter den Zäunen vermuten sie den besseren und schöneren Teil der Welt. Darum möglichst viele Zäune nieder! Dann gibt es weniger Risse in den Kitteln.«

Er streckte Martin die Hand hin. Es war eine fast kindliche, eine ganz impulsive Gebärde. »Er steckt halt doch in mir, der Pfarrer. So etwas verliert sich nicht. Am Sonntagmorgen, 314 wenn die Glocken klingen, dann fängt's an zu predigen in mir. Wunderliches Zeug! Jeder Kandidat würde den Kopf schütteln. Von der Fröhlichkeit kommt darin vor und wie es so schön sei auf der Andersberger Höhe. Der liebe Gott gehe durch die Morgenstille, und die Tannen am Berghang spielen ihm die Orgel.

Und ihr, ihr Andersberger, ihr seid vornehme Herren! Reichsunmittelbar seid ihr! Eure steinigen Aeckerlein liegen direkt unter dem Himmel und kann niemand darauf regnen und die Sonne scheinen lassen als der höchste Herr der Welt allein! Und für dich, Michel, Jakob, Bärbel, tut dieser höchste Herr alljährlich die besten und gewaltigsten seiner Wunder: er läßt aus faulenden Körnern stolze Aehren sprießen, aus der schwarzen Erde leuchtende Blumen hervorbrechen. Die Sonne läßt er stehen am Himmelszelt und die Wolken müssen den Segen über eure Felder tragen. In den Nächten, wenn ihr schlaft und faulenzt, müssen eure Rüben und euer Kraut wachsen, und der Tau senkt sich auf die dürstenden Furchen. Da, wo zuvor nichts war, als schwarze Ackerkrume und eine Handvoll Samen, da wachsen zähe Stengel aus der Erde, aus denen ihr Faden spinnen und Leinwand weben könnt. Und das Sonnenlicht macht das graue Gespinst weiß, und ihr seid die, die Gewand und 315 Brot direkt aus dessen Hand nehmen, der alles wachsen und werden läßt. – Solche Sachen und noch mehr dazu würde ich erzählen, wenn ich der Bauern Pfarrer wäre, und ich würde nicht ruhen, bis ich ihnen den rechten Bauernstolz und die rechte Bauernfreude ins verknorpelte und verarmte Herz hineingeredet hätte. Und ihre Augen müßten mir hell und klug blicken, soviel an mir läge. All das Mißtrauen und das Hinschielen auf die, die's ›besser haben‹, müßte mir hinaus. Ich bin weit über die Höhen gegangen und durch die Täler alle. An Hütten habe ich geklopft und an reiche Höfe. Bei den Unfrommen war ich und bei den Stundenleuten. Ueberall habe ich umsonst gesucht nach freudigen Leuten. Ein paar Hanswurste habe ich gefunden und ein paar Schwärmer. Das ist nicht die Freudigkeit, die wir brauchen. Nicht im Wirtshaus und nicht im himmlischen Jerusalem allein soll die ihre tiefen Wurzeln haben. Da will es nicht recht klappen bei unsern Bauern. Und überall, wo es nicht klappen will, da soll der Pfarrer seine Nase haben. So meine ich.«

Martin schaute auf. Seine Augen waren trüb und müd. »Wie weit kämen Sie mit Ihrer Predigt, Herr Ferdinand? Doch nur immer bis dahin, wo die Schuld oder das herbe Leid seine Einwürfe macht und seine qualerpreßten Fragen stellt.« 316

Des Blinden Gesicht sah auf einmal hart aus.

»Auch wo die Schuld und das Leid zu fragen anfangen, würde ich, wenn ich der Pfarrer wäre, nicht viel andres zu sagen wissen als von Saat und Ernte, von Wurzel und Frucht, von Werden und Vergehen.«

Martin ächzte auf und reckte die Arme. Aber ehe er etwas entgegnen konnte, fuhr der Blinde laut, fast gewalttätig fort: »Habe ich's vielleicht erfunden, Herr Pfarrer, das Sprüchlein von der Saat und von der Ernte? Ist es nicht das Leben, das tägliche, nackte Geschehen, das es ununterbrochen in die Welt schreit? Und wo das Leben und das Geschehen reden, da redet Gott, und kein Pfarrer soll seinem Gott wider die Rede fahren! Horchen soll man mehr auf ihn und ihn weniger kommentieren! Er weiß sich schon verständlich zu machen. Jedem! sage ich, auch dem Dümmsten und Schwerhörigsten. Nur weil allerwärts die Erklärungen zu Gottes Reden wie Schneeflocken durch die Luft wirbeln, hören wir den wahren Text, die wahre Stimme nicht mehr!«

Er atmete tief und sein Gesicht zuckte, und unaufhaltsam fuhr er fort: »Merkt ihr's denn nicht, ihr, die ihr das Gute wollt, daß ihr den Menschen einen schrecklichen Dienst tut, wenn ihr 317 immer mit eurem Gnaden- und Erlösungssprüchlein kommt, wo Gott der Herr sein eignes anders redet! Er setzt für unsre Schuld und für unser Leid keinen, absolut keinen andern Apparat in Bewegung als den, der auf der ganzen Welt arbeitet. Seine Gnade ist dies, daß er die Zeit wandern heißt; seine Barmherzigkeit dies, daß er aus jeglichem Tod ein Leben sprießen läßt; und die Gerechtigkeit der Welt liegt darin, daß jede Saat Ernte bringt und jede Ernte zur Saat werden kann für den, der säen will.«

Martin blickte auf. »Arme Welt.«

Ferdinand fuhr herum. »Ja, arme Welt, solang sie dies nicht tragen lernt, solang sie davor die Augen zudrückt. Wir Menschen alle miteinander, wir müssen arbeiten, hart arbeiten an unsrer Erlösung. Arbeiten, indem wir auf die Zähne beißen und auf jeden leisen und auf jeden derben Wink Gottes stündlich achten. Einfügen müssen wir uns, aufmerken lernen, stramm auf dem Posten sein und immer tun, als hätten wir Prokura von Gott, dem Herrn der Welt. Alle Verantwortung, alles Recht, alle Ehre, alle Würde dessen, der hinter uns steht. So weit muß es kommen. Dann ist die Welt erlöst und der Mensch so, wie Christus meinte, daß er sein solle und sein könne. Das ist meine Theologie, Herr Pfarrer. Viel alte Bücher stehen nicht 318 hinter ihr. Aber das Leben, das Heute. Und ich meine, Gottes Sprache im Heute zu verstehen, das ist das Wichtigste, das Fruchtbarste.«

Ein Zittern der Erregung war in des Blinden Stimme.

Ich sah Martin an. Wie steinern geworden war sein Gesicht.

Dann schaute er auf. Mit verstörten Augen. Lang sprach er nichts. Dann stammelte er: »Aber loskommen, man will doch loskommen –«

Mir ballten sich die Hände, so klang das. Und von diesem Mann –

Der Blinde streckte die Rechte aus. »Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich zu dem, das da vorne ist. Immer dem Lichte zu! Das ist Reue, Buße, Gnade und Erlösung, das ist der Weg, der aus der Fremde in die Heimat führt.«

Es war ganz still auf der weiten Ebene. Nur die Grillen zirpten im Ackerfeld.

Wir sprachen nicht mehr. Wie ein tiefes Atemholen, ein Ausruhen war's in mir.

Am Zaun drüben ging fast unhörbar die Pariserin vorüber. Man sieht sie selten. Sie ist blaß und hustet furchtbar. Wie weidwunde Tiere tun, so macht sie's: sie sucht sich zu verstecken. Der Vater wird sie wohl noch überleben. Ihre schöne Gestalt ist verfallen, nur das Haar 319 hat seinen alten Glanz und die flackernden heißen Augen. Sie schaute herüber. Kurz, scheu, als wolle sie nicht gesehen sein. Aber dann grüßte sie doch.

»Wer war's?« fragte der Blinde.

»Lörchers Eva,« gab ich zur Antwort.

»Na ja,« murmelte er, »auch eine, die gemeint hat, wunder was hinter dem Zaun liege, und die sich dann Haut und Kittel bös zerrissen hat. Hätte die ihr Vater unter dem Lindenbaum tanzen lassen und wäre der Pfarrer dabei gestanden, die wäre ihrer Lebtag nicht nach Paris geraten. Wo wir die Erde umgraben für eine Verbottafel, da wird meistens der Boden locker für eine Sünde. Und da wundern wir uns, wie sich der selige Eulenspiegel gewundert hat, als er die Nähnadel nicht mehr fand, die er doch so sorglich in den Wagen voll Heu gesteckt hatte.«

Hinter uns ging jetzt ein Fenster auf und Hanne rief ungeduldig: »Herr Ferdinand, wenn aber heut wieder d'r ganz Haberbrei an d'r Kachel hängt, bin i net schuldig!«

Der Blinde fing hell zu lachen an. »Nein,« rief er zurück, »heute ist dann der Herr Pfarrer schuldig. Rede ich denn nicht schon eine Stunde, um darzutun, daß im Zweifelsfall immer der Pfarrer schuldig ist?«

»Es scheint so,« sagte Martin und stand auf. Aber das Lächeln, zu dem er sich zwingen wollte, 320 glückte nicht. Die Dogge geleitete uns bis zur Gartentür, wie sie immer tut.

Als ein riesiger, fast strahlenloser Ball ging die Sonne hinunter. Der von tiefen Gleisen durchschnittene Weg vor uns schimmerte wie ein goldenes breites Band, das in den fernen Glanz hinein verlief.

Um langgestreckte, glatte Wolken, die tief am Horizont wie dunkle Inseln in einem Glutenmeer lagerten, liefen grelle Lichtbänder, als seien Blitze erstarrt. Wir schritten nebeneinander aus und sahen in die flimmernde Ferne hinein.

Das Herz war mir voll, und doch war's nicht an mir zu reden. Der Wind kam über die Höhe. Und von fernen Wegen zwischen den Feldern her hörte ich den leisen Klang der Glocken, welche die heimkehrenden Gespanne am Halse trugen. Und dann das Abendläuten.

Noch war's zu früh dazu.

Das Agathle fiel mir ein, die dem Mesner immer so streng auf die Finger gesehen hatte. Und auch an jene Investiturpredigt dachte ich, bei der das gleiche Agathle mich gemahnt hatte, das Zeichen zum Ausläuten zu geben.

Und wie ich das dachte, da schritt das Mädchen mit der ruhigen und abgemessenen Art neben mir, und sie sagte: »Fang du nur an, immer das Nächste zu sehen, Martha! Sorge nicht länger, 321 quäle dich nicht länger! Mach kleine Schritte und sieh auf deinen Weg.«

Da ward es mir mit einem Male ruhig und zuversichtlich ums Herz. So, als müsse es auch für mich einmal Friede werden.

»Martin,« sagte ich, »du solltest strenger sein! Der Matheus läutet fast eine Stunde zu früh.«

Ich weiß gar nicht, warum ich in all dem Glanz und all der Abendschönheit gerade das sagte. Es war mir, als müßte ich, als sei das der Anfang zum Neuen.

Martin blieb stehen. Wie ein großer dunkler Schatten ragte er in die Himmelsglut.

Da fing mir das Herz an zu schlagen.

»Martha,« murmelte er, und ich kannte seine Stimme nicht, »Martha, siehst du, wie ich schleppe, siehst du's?«

Ich legte die Hand vor die Augen. All das Grelle tat mir auf einmal weh. Alles tat mir weh.

Und die fremde Stimme vor mir sagte leise weiter: »Siehst du's, Martha? Glaubst du's? Mehr will ich nicht!«

Zitternd stand ich. Die Hände sanken mir.

»Ich glaube dir, Martin, und ich schleppe wie du.«

Die Tränen liefen mir übers Gesicht. Es war kein Halten mehr in mir. 322

»Martha –« es war fast, als ob er schluchze, »und was nun?«

Ich wußte nichts. Gar nichts. »Großer,« weinte ich aus, »ach, Großer.«

Er hat mich an der Hand genommen. So, als habe ich genug gesagt.

Und in den Glanz hinein sind wir weiter gegangen. In den Glanz hinein.

 


 


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