Auguste Supper
Lehrzeit
Auguste Supper

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das ist jetzt schon manche Woche her, daß es heißt, der Amerikaner liege im Sterben.

Es ist eine sonderbare Sache mit diesem Mann und diesem Sterben. Er ist gar nicht krank, der wunderliche Riese; er hat auch keine Schmerzen, er sagt nur immer wieder, der Schildmüller sei ihm am Scherbacher Wegzeiger begegnet, habe einen Sack auf dem Buckel gehabt 196 und habe ihm zugewunken. Und wem der Schildmüller zuwinke, der müsse sterben.

Es ist da nicht weit von Andersberg eine alte Mühle an einem kleinen Bach, der aus einer engen, waldigen Schlucht hervorkommt. Sie heißt die Schildmühle, und es ist kein Müller mehr darauf. Verlottert und verwahrlost liegt sie am Eingang der Schlucht, und das große Wasserrad in dem mächtigen Bretterkasten fault zusammen.

Farne und die roten Fingerhüte, Brombeergestrüpp und junge, aus windvertragenen Samen ausgesproßte Fichten stehen dicht um das kleine, schlechte Haus, an dem Fenster und Türen fehlen und von dem wohl jeder, der in der Gegend baut, holt, was er brauchen kann.

Vor zehn Jahren sei der letzte Schildmüller gestorben. Die Nähkätter hat es wir erzählt. Wir saßen beieinander in ihrer kleinen, sauberen Stube. Ihr Neffe Jakob, den sie bei sich hat und der das ledige Kind einer toten, einzigen Schwester ist, blies in der Kammer nebenan ganz leise auf der Mundharmonika: »Muß i denn, muß i denn zum Städtele naus!«

Der Jakob ist Taglöhner und zeitweise auch Knecht. Ich glaube, der Achtzehnjährige hat nicht die rechte Stetigkeit in sich. Die Nähkätter hält die Hand fest auf ihm. Ich komme öfters zu den beiden. Manchmal helfe ich der Kätter bei 197 ihrer sauern Arbeit, zertrenne alte Kittel und nähe Knöpfe fest. Ich habe so meine Ahnung, daß sie solchen Beistand höher einschätzt als geistlichen und geistigen. Sie ist ein herbes, hartes Wesen, das sich nicht leicht nahekommen läßt. Ganz traut sie mir noch nicht. Aber ich gebe nicht locker.

Die, welche »dem Pfarrhaus« und also auch mir immer mit Kling und Klang und Gloria entgegenkommen, sind mir bei weitem nicht so wichtig wie die Spröden und Unfreundlichen.

Also die Nähkätter hat mir vom Schildmüller erzählt. Es war ein entsetzlicher Unsinn.

Und ich wagte gar nicht zu lachen. Ich wagte auch nicht zu schelten. In mir war immer ein bohrendes, grübelndes Fragen: Wie und warum wächst denn all dies Unkraut?

Der Schildmüller war ein vom Unterland Zugezogener. Er hatte keine Frau und keine Kinder. Wenigstens wußte man in Andersberg nichts davon. Nur eine Haushälterin brachte er mit, und mit der »hatte er's«.

Und auch sonst war dort draußen nicht alles, wie es sein sollte. Die zwei Gäule, die der Müller hatte, waren fast so groß wie Elefanten, und sie zogen einen Wagen voll Mehlsäcke leichter die Schlucht empor als andre Gäule einen Wagen voll Streu. 198

Und einmal brach einer der Gäule den Fuß auf einer nassen Wiese. Da erschoß der Müller selber den Verunglückten, und er grub ihn neben der Mühle ein, obgleich ihm der Schinder für den Kadaver einen blanken Karlin geboten hatte.

Und kurz und gut – den Müller holte der Teufel. Am Scherbacher Wegzeiger lag er tot, hatte einen Sack auf dem Buckel und das Gesicht im Nacken stehen.

Und dann, als man ihn begrub – im Spätherbst war's, am Sonntag nach der Kirchweih –, da schaute der Schildmüller oben zum Dachladen heraus, als man unten seine Leiche aus dem Haus trug. Und er lachte höhnisch und zeigte die Zähne.

»Aber Kätter,« warf ich ein, ganz wirr im Kopf von all dem Unsinn.

»Was Kätter? Nix Kätter,« begehrte die Nähterin auf. »Was d' Auge sehet, des glaubt s Herz! D'r halb Flecke hot de Schildmüller g'sehe. – I net. I be nebe drumme g'stande.«

»Bas,« rief der Jakob von der Türe her, wo er scheint's gelauscht hatte. »Bas, Ihr hättet ihn au net g'sehe, wenn Ihr net nebe drumme g'stande wäret!«

»Meinst du, Jakob?« fragte ich, denn der Bursche hatte das ausgesprochen, was ich gedacht hatte. 199

»Jo, des mein i – d' Bas sieht nix e so – die sieht bloß, wenn i bei 's Johanns Bäbele stand!«

»Bist du still, du – – –« schrie die Kätter und warf einen Garnknäuel gegen die Kammertüre, die der Bursche flink und mit Lachen zuzog.

Mit unbewegtem Gesicht erzählte dann die Kätter weiter.

Des Schildmüllers Haushälterin ließ Kapuziner kommen, daß sie den spukenden Schildmüller fassen sollten.

»Kapuziner?« fragte ich, und die sonderbare Abgeschlossenheit der Mühlebewohner wollte mir klar werden, »ja, war denn der Schildmüller katholisch?«

Aber die Kätter verneinte. »Bloß d' Kapuziner könnet so ein fasse – und i glaub net, daß 's katholische Kapuziner g'wä sind.«

Wieder mußte ich mir an den Kopf fassen.

Daß der Stengel nicht so ganz »de rechte Glaube« gehabt hatte, das hatten sie alle herausgefunden, die Andersberger, die den Schildmüller gesehen hatten. Aber unter dem Wust, der sich um den zugezogenen toten Mann auftürmte, da versagte ihre Kritik.

Ich schüttelte meine Gedanken ab. »Kätter,« sagte ich, und ich weiß nicht, woher ich die Salbung nahm; aber es war mir, als müsse ich als 200 Martins Frau so reden; »Kätter, Euer Aberglaube bringt Gott um seine Ehre und Euch um die Ruhe.«

Sie hob abwehrend beide Hände: »O, send Se still, Frau Pfarrer; deszwege glaub i doch älles, was in d'r Bibel stoht! Aber wenn mer 's ganz Johr glaubt, was d'r Pfarrer sächt, no will mer doch au ällbott glaube, was mer mag!«

Ich mußte das Weib ansehen, das schon wieder an dem Kittel nähte, den sie in Händen hielt. Unbewegt sah sie aus, seelenruhig. Wie eine, welche die volle Freiheit hat.

Der Schultheiß von Scherbach, der die Kirche und den »Hirsch« placierte, wie es ihn gut deuchte, und diese Nähterin, die an keinem Dogma zweifelte und daneben vom toten Schildmüller erzählte – sie riefen einen Neid in mir wach. Und so sind fast alle da oben: Fertig, fertig!

»Aber wenn doch die Kapuziner den Schildmüller gefaßt haben, warum kann er dann jetzt noch den Leuten begegnen und zuwinken, daß sie sterben müssen?« fragte ich.

Die Nähkätter war nicht verlegen. »Er ist halt scheint's nauskomme. Mer sott ihn wieder frisch fasse.«

»Ja,« entgegnete ich, »mein Mann soll ihn fassen, daß es Ruhe gibt.«

Sie sah mich an, mißtrauisch und feindselig 201 und ein wenig spöttisch. »Des könnet bloß d' Kapuziner. E rechter Pfarrer will von so Dengs nix. Sie könnet's jo sage em Herr Pfarrer. Aber i weiß guet: er schimpft bloß! Sie schimpfet älle! Der Stengel sogar hot ällbott g'scholte! Aellbott hot 'r au g'lacht und hot älles in e Büechle neig'schriebe. Wenn der no ebbes hot in sei Büechle neischreibe könne! I han's oft zu ihm g'sagt: Die andre Pfarrer leset 'raus aus ihre Büechle, und Sie schreibet nei! No hot er lache müsse.«

»Mein Mann lacht da nicht, Kätter!« sagte ich unruhig.

»Noi,« entgegnete sie mit Kopfnicken, »noi, i weiß wohl, d'r Herr Pfarrer ist koi sotticher.«

*

Also an diesem Schildmüller wird der Amerikaner sterben. Ich habe mich redlich abgemüht, den schwerfällig Hingesunkenen so weit aufzupeitschen, daß er die breiten Schultern noch einmal an den bös verfahrenen Karren seines Lebens stemme; aber vergebens. Der Mann bleibt liegen wie ein alter, steifer Gaul, der nicht mehr will und nicht mehr kann.

Auch mit Martin war ich draußen. Aber es war mir quälend. Er freut sich, wenn der Riese mit seiner Weiberstimme von der ewigen 202 Seligkeit, von der Stadt mit den goldenen Toren und von Christi Blut und Gerechtigkeit redet, als sei ihm alles klipp und klar.

Mir stockte da fast der Atem. Ich hätte Martin schütteln und ihm zurufen mögen: »Wache doch auf, du schläfst ja! Du merkst ja gar nicht, wie heillos das ist, wenn dieser Mann, den ein ödes Hirngespinst hingestreckt hat, mit deinen heiligsten Heiligtümern umspringt, als seien sie das Seitenstück zu der Schildmüllergeschichte.«

Am toten Schildmüller stirbt dieser Mensch, der tote Heiland soll ihm wieder zum Leben verhelfen. Und der Pfarrer daneben, der sich freut!

Wie groß ist sie doch, die wunderbare, zweigeteilte, aus einem Stamm entsprossene Macht, die wir Glaube und Aberglaube heißen! Da wachsen aus dem gemeinsamen Wurzelstock die mächtigen Aeste und Zweige empor, die so oft in ihren Verästelungen durcheinander kommen. Und bis da dann durch alle Jahrhunderte hindurch wieder Scheidung und Sichtung vollzogen war, hat's Blut und Tränen und gute Kraft genug gekostet. Und immer wieder, immer wieder wächst das Astwerk durcheinander.

Der Amerikaner hat nun auch das heilige Abendmahl verlangt. Martin ist froh wie ein Sieger. 203

Der Riese sieht aus meines Mannes Zuspruch und Zurechtweisung hin die ganze Verwerflichkeit seines Aberglaubens ein. Er weiß jetzt ganz genau, daß man als Christenmensch solche Schildmüllergeschichten nicht glauben darf. Er weiß auch ganz genau, was er glauben darf und glauben muß. Am Schnürchen kann er es aufsagen, sein Glaubensbekenntnis! Aber sterben – ja sterben wird er halt doch am Schildmüller, der am Scherbacher Wegweiser stand und ihm zugewunken hat. –

Ich darf nichts sagen. Martin würde mich nicht verstehen. Er würde nur wieder den Kopf über mich schütteln, wie er das immer tut.

Und das vertrage ich nicht mehr.

Kein Mensch erträgt, daß man nur ein unwilliges Staunen für ihn hat, wenn er seine ringende Seele aufdeckt und zeigt, wie zerrissen und wund, aber auch wie ungebeugt und wahrhaftig die Kämpfende ist.

»Martha,« würde Martin sagen in dem Ton, der mich wie ein Messer trifft: »Martha, bleibt dir's denn ein ewiges Geheimnis, daß Gott den Einfältigen Gnade gibt und daß die Armen im Geiste die nächsten sind zum Himmelreich?«

Ich müßte aufschreien: »Aber dürsten müssen sie doch, diese Armen, wie der Hirsch dürstet nach frischem Wasser. Den Mund, den gierigen 204 Mund müssen sie auftun für den Quell des Lebens. Aber der Mann da draußen und so viele, viele, die ich weiß, sie lassen doch alles an sich hinunterfließen in den Sand.«

Ach, daß mein Großer nicht sieht, wie mich solche Gedanken quälen! Daß wir so ganz auseinander gekommen sind!

Mir ist's, als seien wir wie zwei Schlafende als Mann und Weib ins Andersberger Pfarrhaus eingezogen.

Martin schläft noch. Ich bin aufgewacht an irgendeinem Getöse. Immerzu muß ich mich besinnen, was das für ein Getöse gewesen sein kann.

Wie heiß beneide ich oft meinen Großen! Aber kann denn jemand entflohenen Schlaf zurückzwingen?

Ich weiß nicht, warum ich gegenwärtig so oft an meinen toten Vater denken muß. Früher, seit meiner Kindheit bin ich mit banger Scheu um diesen Namen herumgegangen. Jetzt sage ich oft in die stille Nacht, in die einsame Weite hinaus: »Vater!«

Eine tiefe Sehnsucht nach dem Mann, den ich nie gekannt, füllt meine Seele. Wenn mir doch jemand von ihm sprechen wollte. Aber nicht Martin; aber nicht die Tante! Zwei Briefe habe ich von ihm. 205

Tante hat sie mir gegeben, als ich sie zum erstenmal als Frau besuchte. »Ich gebe sie dir nicht gern, Martha,« hat sie dabei gesagt, »es sind keine Blätter, die Freude machen; aber ich halte es für meine Pflicht, dir das einzige, was von jenem Mann noch da ist, auszuhändigen. Lies darin mit mildem Herzen, mit einem Kindesherzen.«

Mir haben die Hände gezittert, als ich die Blätter nahm. Erst daheim im Andersberger Pfarrhaus habe ich sie gelesen.

Es sind kurze Briefe, Briefe, die wie Schreie sind aus Qual und Zorn heraus.

Mir haben sie das Herz zerfressen, wie die Not der Liebsten, wenn man nicht helfen kann.

Man hat mir immer gesagt, meine Großmutter sei an dem verlorenen Sohn gestorben.

Am Schluß des zweiten Briefes heißt es denn auch: »Das kann ich nimmermehr verwinden, daß Deine Härte mich die Mutter gekostet hat. Ich war ein ehrlicher und auch ein fleißiger Kerl. Hätte man mich meinen Weg gehen lassen, dann hätte die, die um mich gestorben ist, Freude gehabt an ihrem Buben. Oh, wenn ich nur meine Mutter wiederhätte!«

*

Die alte Pfarrerin von Harthausen hat mich gefragt, ob mir etwas fehle. Ich sei blaß und 206 schmal geworden. Oder ob es nur die liebe, böse Not der jungen Frauen sei. Ich habe sie nicht gleich verstanden. Und dann habe ich ihr ins Gesicht gelacht.

Oft meine ich, das Agathle merke am besten, wie es um mich und Martin steht. Es ist manchmal, als ob sie vermitteln wollte. Oder scheint mir das nur so? Sie kennt und beachtet die kleinsten Wünsche, die leisesten Angewohnheiten ihres Herrn und weist mich oft auf etwas hin, was ich übersehe oder übersehen will. Und sie trägt mir alles zu, was die Leute Gutes über Martin sagen. Ich will mich dann freuen und bleibe doch immer wieder in eitel Bitterkeit stecken.

Der alte Lörcher, ihr Onkel, der die leichtsinnige Bärbel Hindermann zum Weib gehabt hat, durfte seine großen Kartoffelvorräte im Pfarrkeller einlagern. Er steht hoch in Gnaden bei Martin, weil er nie in der Kirche fehlt. Der Alte begegnet mir dann und wann im Haus.

Er stellte mich kürzlich auf der Kellerstaffel. »Frau Pfarrer,« sagte er, »so ist's recht! Gucket Sie no immer selber noch Ihre Aepfel do drunte. Des verstoht der Herr net so. Jedes muß noch sein'm Sach gucke.« Er hat mich dabei seltsam angeschaut, und ich wurde das Gefühl nicht los, 207 als ob er etwas an mir zurechtrücken oder mich beruhigen wolle.

»Manches hot scho g'wackelt und ist wieder fest worde,« sagte er, ehe er ging.

Auch Martin ist ganz und gar verwandelt.

Früher hat mich's empört, daß er mich als Sorgenkind betrachtete, jetzt wäre ich froh, wenn es nur wieder so wäre. Er weicht mir aus, er hält sich von mir fern, wie man eine Gefahr oder auch etwas Widerwärtiges von sich fernhält. Er schreibt etwas. Irgendein Buch oder eine Abhandlung. Bis tief in die Nacht hinein sitzt er daran. Ja, sein Bett habe ich ihm hinunter unter den gemalten Sternenhimmel in die Nische hinein aufschlagen müssen, weil er mich nicht immer aufwecken will durch sein spätes Kommen. So gehen wir hin wie zwei, zwischen denen Berge liegen.

Fast wäre ich auch noch um Agathle gekommen. Martin meinte, ich solle sie doch darauf aufmerksam machen, daß sie in der Stadt mehr lernen und mehr verdienen könne. Aber da wehrte ich mich. Ich will ihr gern mehr Lohn geben, wenn ich sie nur behalte.

Dem Ferdinand habe ich meines Vaters Briefe vorgelesen. Draußen saßen wir auf der Steinbank am Wasserreservoir, wo die jungen Föhren stehen und die Schmetterlinge über den sandigen Weg gaukeln. 208

Mit ganz leiser Stimme habe ich gelesen, weil mir's fast den Atem benahm, daß all die längstverstummte Not noch einmal sollte ans Licht treten.

Wir sprachen nichts, als ich längst geendet.

Von den Föhren herüber kam der Geruch des frischen, sonnenwarmen Harzes und die Schmetterlinge flohen und haschten sich rings um uns her.

Das, was ich gelesen, schrumpfte mir auf einmal zusammen. Alles lag so weitab und war so wesenlos.

Um was ging denn der Kampf? Wozu all die Not? Die Sonne schien und die Schmetterlinge tanzten, ob die Menschen sich um Dogmen balgten oder nicht.

Ich atmete tief auf, und ein nie gekannter Frieden kam über mich.

In den tiefblauen, fernen Himmel sah ich hinein, und meine sehnsüchtige Seele schlug sich eine Brücke nach ihrer eignen Weise, nach ihren eignen Gesetzen.

Ich schrak fast zusammen, als der Ferdinand sprach.

»Ja,« sagte er wie zu sich selbst, »ja, das ist nun so. Es wäre auch gar zu schön auf der Welt, wenn's nicht so wäre.«

Ich antwortete nicht, und er fuhr nach einer 209 Weile fort: »Wundern muß es einen bloß, daß nicht schon längst von Staats wegen angeordnet ist, wie hoch und breit einer wachsen darf und wachsen muß. Wie lang seine Nase, wie breit sein Mund, wie groß seine Hände und Füße werden dürfen. Das gehört doch von Gottes und Rechts wegen auch zur Ordnung, daß diese Dinge endlich einheitlich geregelt werden. Ich pfeife drauf, wenn immer nur halbe Arbeit gemacht wird, wenn nur der innerliche Mensch sein Reglement erhält und der äußerliche diese Segnung entbehren muß. Stümperei, elendigliche!«

Ich legte ihm die Hand auf den Arm, der ganz warm war von der Sonne. »Ferdinand,« sagte ich zufrieden, »er ist ja jetzt über alle Not weg.«

Der Blinde nickte. »Ja, Gott sei Dank! Zum Sterben wird man ohne Examen zugelassen.«

Still und froh ging ich mit Ferdinand durch den kümmerlichen jungen Wald.

Aber was hilft mir das? Die Not kommt immer wieder. –

Ohne von jemand den Auftrag dazu zu haben, ist die Nähkätter jetzt schon zum zweiten Mal in die Stadt gefahren, um die ehemalige Lammwirtin, des Amerikaners treuloses Weib, heraufzuholen.

Vor Wochen schon war sie erfolglos unten; gestern ging sie wieder. 210

Sie läßt sich's was kosten, denn der Hirschwirt gibt seinen alten Schimmel nicht umsonst zu solchen Touren her. Ich begreife nicht recht, was die Kätter zu ihrem Tun bewegt. Den schwachmütigen Riesen hat sie von jeher mit so offenkundiger Mißachtung behandelt, daß nicht anzunehmen ist, sie wolle ihm einen Gefallen erweisen.

Ich werde sie gelegentlich darum fragen, denn ich glaube immer deutlicher zu erkennen, daß die Nähkätter sich zu mir hingezogen fühlt; da wird sie mir schon ihr Vertrauen schenken.

*

Sie hat richtig die Lammwirtin mitgebracht.

Das Agathle hat es mir erzählt. An den Steinkreuzen draußen seien die zwei Weiber abgestiegen, haben des Hirschwirts Knecht allein ins Dorf fahren lassen und seien hinten herum gegangen ins Gemeindehäuslein.

*

Ich war gestern abend draußen bei dem Amerikaner. Gestern mittag hat er das Abendmahl bekommen. Martin hat es mir erzählt, und er sah ganz blaß und verstört aus, als er sagte, daß das Weib sich geweigert habe, daran teilzunehmen. Er ist gegenwärtig ganz und gar aus seinem Gleichmut. 211

Ein spätes Gewitter stand am Himmel, sonst wäre ich zuerst zum Ferdinand hinausgegangen und hätte den gebeten, mit mir ins Gemeindehäuslein zu gehen. Wo etwas wirr ist und aus den Fugen, da möchte ich immer den Blinden holen, daß er die Sache glätte und einrenke.

Als ich hinauskam, war der Ferdinand schon da. Er saß mit dem Hansjörg auf der Hausstaffel. Der Hund lag vor den beiden und wedelte mit dem Schweif, als er mich kommen sah.

»Ferdinand,« sagte ich, »ich glaube, Sie wittern immer, wo man Sie brauchen kann.«

»Jo,« fiel der Hansjörg ein, »wie d' WefzgeWespen de süße Moost.«

Der Blinde lachte. »Getroffen,« gab er zu, »ich hole weit mehr als ich bringe, das ist mein Geschäftskniff.«

»Ganget Se no nei zu dene Weibsleut,« meinte der Hansjörg und stand ächzend auf, um mir den Weg freizugeben, »Sie wurd d'Kätter jo neilasse!«

Ich stieg die Stufen empor, gefolgt von dem Hund, der sich schmeichelnd an mein Kleid drängte.

In des Amerikaners niederer, dumpfer Stube waren die beiden Fenster zu, während die Türe offen stand. Das ist der Brauch zu Andersberg, wenn ein Gewitter naht. 212

Die Nähkätter stand mit barschem Gesicht unten am Bett; die Lammwirtin, ein untersetztes, mittelgroßes Weib in halb städtischer Kleidung, lehnte am Tisch.

»Unser Frau Pfarrer,« sagte die Nähkätter kurz nach dem ersten leisen Grüßgott.

»I denk mer's,« gab ebenso kurz die Frau am Tisch zurück und rührte sich nicht.

Früher hat mich diese Art der Leute verlegen, hilflos gemacht. Jetzt weiß ich Bescheid.

Ich beugte mich über den Kranken, der teilnahmslos dalag und mich nicht beachtete.

»Was sagt er, daß sein Weib da ist?« fragte ich die Kätter.

»Nix – er schlummert halt so zue,« gab sie zurück.

»Kannte er sie?«

»Sell scho. ›Grüeß Gott, Meile,‹ hot 'r g'sait, ›so, kommst an.‹«

»Sonst nichts?«

Das Weib am Tisch trat jetzt rasch zu mir her. »O, wisset Se, Frau Pfarrer, 'r ischt seiner Lebtag so e Schlofhaub g'wä. I han's d'r Kätter schon vor drei Woche g'sait: 's hot kein Wert, wenn i mit d'r gang – 'r dreht sich net z'lieb rum.«

»Ach was,« fiel die alte Nähterin ein, »'r ischt jetzt halt emol so, den macht mer nemme anderscht.« 213

Mir drückte die Nüchternheit der beiden Weiber und die dumpfe Luft der Stube gleich sehr auf die Nerven.

Ich tat das Fenster auf, und ein kurzer Windstoß strich herein.

»Meile, bist du's?« fragte der Mann im Bett.

»Guck,« murmelte die Kätter, »guck, daß 'r de will!«

Die Lammwirtin trat näher. »Xaver,« rief sie, wie man einem Tauben zuruft, »Xaver, do ben e.«

Aber der Kranke reagierte nicht darauf. Mit halbgeschlossenen Augen schlummerte er dahin und rührte sich nicht.

Wir standen schweigend um das Bett. Der nahende Abend und das Wetter, das heraufzog, füllten die Stube mit trüber Dämmerung.

Verstohlen musterte ich das Gesicht der Lammwirtin.

Die Frau blickte mit kühlen, unbewegten Augen auf ihren einstigen Gatten. Ihr geschlossener Mund hatte den herben Andersberger Ausdruck, auf den faltigen Wangen liefen die feinen Aederchen durcheinander und malten ein eigentümliches Rot darauf. Die aufgesteckten Haare waren stark von Grau durchzogen, drei tiefe, wagrechte Falten furchten die Stirne. 214

In sonderbarer Neugier suchte ich auf diesem Antlitz eine Linie, eine Spur, welche die Sünde, welche das heiße Blut gelassen haben könnte – ich fand nichts. Nur von Mühe und Arbeit stand in dem Gesicht und dann von kühler Nüchternheit.

»I glaub, heut nacht goht's aus mit 'm,« sagte die Nähkätter in die Stille hinein.

»Sss–t,« wehrte ich unwillkürlich mit einem Blick auf den Mann. Aber die Kätter kehrte sich nicht daran.

»Guck, Meile,« sagte sie, »ischt d'r's jetzt net au recht, daß de do bist! I weiß jo wohl: er ischt net g'wä, wie 'r hätt sei solle, d'r Xaver; aber d'r schlechtst ischt 'r doch net g'wä. I be doch selber au e Johr lang mit 'm gange –«

Kein Zug im Gesicht der Sprecherin veränderte sich; um den Mund der Lammwirtin aber zuckte etwas.

Langsam kehrte sie das Gesicht der Kätter zu. »Worom host 'n denn no wieder laufe lau?« fragte sie halblaut, bitter, »gelt, weil 'r kei Ma g'wä ischt, eifach kei Ma. Des ka kei rechts Weibsbild vertrage. I aber – i han 'n han müsse!«

Die Nähkätter nickte. »Worom hast 'n g'nomme. I hätt dir's könne vorher sage. E gueter Kerle ischt do drum no lang kei Ma –« 215

Ich stand reglos zwischen den Weibern. Es war etwas da, was mir den Atem benahm, als ginge es mich an.

Fern hörte man den Donner rollen, und der Wind strich stärker durchs Fenster.

Nicht das, was an seinem Lager gesprochen wurde, nur der kühle Lufthauch schien den Sterbenden zu berühren. Er öffnete mühsam die Augen und fragte wieder: »Bist du's, Meile?«

Ich zupfte die Frau am Kleid. »Gehen Sie doch näher, nehmen Sie seine Hand!«

Verständnislos schaute sie mich an. »Er schloft jo scho wieder.«

Der Hansjörg und Ferdinand traten jetzt unter die Türe.

Schwere Tropfen fielen draußen und hatten die zwei von der Hausstaffel vertrieben.

Ich mußte das Fenster schließen, sonst bekamen wir die Flut in die Stube.

Der Hansjörg drückte sich auf die Bank hinter dem Tisch, auf dem eine Bibel lag oder ein Predigtbuch. Ferdinand blieb neben der Türe stehen, und es war mir, als ob der Blinde von seinem Ort aus uns alle betrachten, die ganze Stube überblicken wolle.

Ich sah, wie der Hansjörg gedankenlos das Buch vor sich aufschlug, und wie er es dann, als er des Inhalts gewahr wurde, hastig wieder von sich schob. 216

Die Nähkätter kehrte sich kurz dem Trinker zu. »Lies no do drin, dir ka's nix schade,« sagte sie barsch.

Der Alte schob an seiner Zipfelmütze und gab giftig zurück: »Und an dir ka's nix besser mache. Guck für di!«

»Still,« sagte der Blinde leise und bestimmt, »wo einer sterben will, muß 's sein wie in der Kirche.«

Eine Zeitlang war das Rauschen des Regens, der jetzt stark eingesetzt hatte, das einzige Geräusch, dann kicherte der Hansjörg vor sich hin: »E nette Kirch! D'r Hansjörg und d' Nähkätter, d'r Amerikaner und d' Lammwirte beienander! Wer wurd no do d'r Pfarrer sei?«

Der Blinde kehrte sich dem Alten zu: »Hansjörg, wenn kein andrer Pfarrer da ist – der Tod hat schon manchem gepredigt.«

Rasch ging's jetzt der Dunkelheit zu. Ich konnte, so nah ich stand, die Züge des Mannes auf den Kissen nicht mehr unterscheiden.

Auf einmal hörte ich seine schläfrige Stimme.

»Meile, des hättest halt net do solle!«

Ich fühlte, wie die Frau neben mir eine Bewegung machte. Aber sie sagte nichts.

»'s ischt e Lumperei g'wä, Meile,« fuhr der Kranke eintönig fort.

»Jo, jo,« mischte sich da die Nähkätter ein, »aber jetzt ischt's scho so.« 217

»Halt du dei Maul!« murrte vom Tisch her der Hansjörg.

»'s Hansjörgs Annemeile hätt kein so Streich g'macht,« sagte lebhafter und wie von der Stimme des Stubengenossen aufgerüttelt der Kranke.

»Sie ischt au dei Weib net g'wä,« stieß jetzt hart die Frau neben mir hervor.

Der auf dem Lager antwortete nicht. Nur der Regen klatschte gegen die Fenster.

Auf einmal stand der Hansjörg hinter dem Tisch polternd auf und ging aus der Stube.

Die Nähkätter holte jetzt die hohe Blechampel vom Bord und stellte sie entzündet auf den Tisch.

Es war ein trüber Schein, der die Stube füllte, und so oft draußen ein Blitz aufzuckte, fraß er das bißchen Helle auf.

Der Amerikaner schien aus seiner Lethargie aufzuwachen, je mehr die Spannung in der schwülen Luft im Wetter sich löste.

»Meile,« sagte er, »Meile, han i di net älleweil in Ehre g'halte?«

Das Weib gab keine Antwort und rührte sich nicht.

»Sag doch jo,« stieß ungeduldig die Kätter hervor.

Aber der Kranke schien auf keine Antwort zu warten. Er hatte aufs neue die Augen geschlossen und lag ganz ruhig. 218

Auf einmal würgte das Weib neben mir mühsame, leise Worte hervor, die ich zuerst nicht verstand. Ich mußte aufsehen, und ich sah ein Gesicht, aus dem die kalte Nüchternheit weggewischt war. Die dünnen Lippen zitterten, aus den Augen flammte die Erregung.

»Jetzt könnt mer meine, i sei e liederlichs Mensch g'wä, und i be doch bloß jung g'wä, bloß jung. Wer will denn, wenn er jung ist, so ein nebe sich han, so en Holzklotz, so en Eisklumpe. G'schlofe hot 'r un g'gesse un g'schafft, was mer ehm nag'richt hot. Am Schurz ischt 'r mir g'hängt von der erste Stund an – des hält e Weib net aus, des net.«

Ich sah die Tränen über die rotgeäderten Wangen rollen, sah die scheue, hastige Bewegung, mit der das Weib sie wegzuwischen suchte, als schäme sie sich daran.

Da gab die Kätter von der Seite her der Erregten einen derben Stoß. Dann sah sie im Kreise herum mit ihren raschblickenden, scharfen Augen. An meinem Gesicht blieb ihr Blick drohend hängen. Sie hob die dürre Hand und sagte laut: »Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie!«

Ich weiß nicht, warum mich dieser Blick und dieses Wort so sonderbar durchschauerten. Mehr aber noch griff mir's ans Herz, als der Kranke 219 schläfrig hinzufügte: »Grad 's gleich hot d'r Herr Pfarrer heut morge au g'sait beim Nachtmohl.«

Auf einmal stand der Blinde hinter mir, und er sah ganz froh aus im Gesicht. »Wie geht's dann weiter, Frau Martha?« flüsterte er, »sie schlichen alle davon und ließen ihn allein und das Weib im Mittel stehend – wie wär's, wenn auch wir gingen, da für uns nichts zu tun bleibt?«

Ich atmete auf. Ja, mir blieb hier nichts zu tun. Mehr und Besseres als des Menschensohnes mildes Wort kann kein Dritter einwerfen, wenn Mann und Weib durch Schuld und Sünde auseinander gekommen sind.

Die Nähkätter trat mit uns hinaus vor das Häuslein. Auch sie, die Derbe, schien zu fühlen, daß sie zuviel war dort drinnen.

Sie sah den Hansjörg an der nassen Hauswand lehnen und dem Wetter nachblicken, das schwarz und schwer gegen Scherbach hin gezogen war.

»Gelt,« sagte sie finster, »di hot vorich 's G'wisse plogt.«

Der Alte, der sonst so schnell mit böser Antwort bereit ist, ging schweigend und scheu um die Ecke.

»I bleib heut Nacht do,« sagte die Kätter, »z' lang treibe tuet er's jo nemme, der Xaver, und uf d' Lammwirte ka mer sich net verlau, wenn se jetzt au heult.« 220

Ich verstand nicht recht, was sie meinte und fragte: »Wieso denn?«

Die Nähkätter wischte sich mit dem Schürzenzipfel Stirn und Nase ab. »Ha no,« sagte sie, »sie macht's ihm halt gar z' wüest, wenn se drein nei kommt. Sie sächt halt älleweil, d'r Xaver sei dran schuldig, daß se en d' Liederlichkeit neikomme sei. Und so e G'schwätz ist nix für ein, wo sterbe will. Wenn i des g'wißt hätt, hätt i se drunte g'lau; aber i han wölle em Xaver en G'falle to, weil i doch e Johr lang mit ihm g'gange be.«

Schweren Schrittes ging sie die Staffel empor und wir wandten uns heimwärts.

Der grasige, ausgefahrene Weg, den wir gingen, war so naß, daß jeder unsrer Schritte ein glucksendes Geräusch hervorrief. In dem Graben zur Seite, der sonst immer leer ist, rauschte das Wasser wie ein kleiner Bach. Ueber den Wäldern links drüben standen klare Sterne, und rechts schoben sich die schweren Massen des verziehenden Wetters dahin. Die spitzen Giebel der Häuser ragten schwarz ins Helldunkel, da und dort brach ein Lichtschein aus einem unverwahrten oder schlechtverwahrten Fenster.

Der Ferdinand hatte, wie er öfters tat, den gebogenen Griff seines Stockes in das Halsband des Hundes eingehängt und schritt so neben dem 221 ruhig trottenden Tier sicher wie ein Sehender dahin.

»Ferdinand,« sagte ich aus den Gedanken, die in mir wogten, heraus, »können Sie verstehen, wie dieses Weib auch noch in solcher Stunde so bitter sein kann?«

Der Blinde gab nicht sogleich Antwort, dann entgegnete er: »Gewiß kann ich das verstehen. Sie ist aus der Bahn gekommen durch ihres Mannes Art und kann das nicht verzeihen.«

»Verzeihen, verzeihen?« rief ich, »an dem Mann ist doch gesündigt worden, er ist doch der Betrogene.«

Ferdinand blieb plötzlich stehen, und die Dogge wandte den großen Kopf, so daß ich ihre Augen phosphoreszierend durchs Dunkel leuchten sah.

»Was ist schwerer zu schleppen: Leid oder Sünde?« fragte er fast barsch, »was ist also schwerer zu verzeihen: wenn man Kummer oder wenn man Schuld über einen gebracht hat?«

Wir gingen unsern Weg durch die frühe Nacht weiter und sprachen nicht mehr.

*

Nun ist die weite Höhe tief verschneit. Erst Ende Oktober und schon diese Schneemassen! Unter der weißen Decke hervor mußten die Andersberger ihre letzten Kartoffeln und Rüben holen. 222

Die Nähkätter, das wetterkundigste Weib da oben, sagt, das habe sie schon in jener Nacht, da der Amerikaner starb, so kommen sehen. Späte Gewitter bedeuten einen frühen und schneereichen Winter.

Ich muß oft an jene Gewitternacht denken. Die Lammwirtin, die aus Scheu vor den Dorfleuten schon vor der Beerdigung wieder heimlich fortgegangen ist, tut mir leid seit jener Nacht. Und der schläfrige Riese, der sein »Meile« suchte und nicht mehr finden konnte, tut mir auch leid.

Wie bös ist's doch, wenn zwei Menschen sich so wundreiben aneinander.

Mit Martin habe ich lange nicht von den zweien gesprochen. Scheu umging ich es, weil es mir weh tut, wenn er stets mit dem Ekel des Reinen vor dem Unreinen von solchen Dingen und Verhältnissen redet.

Und ich darf dann nicht mildern und glätten.

»Mild urteilen in diesen Dingen heißt schon halb lax sein,« hat Martin früher einmal gesagt, und die Tante gab ihm recht, damals wie immer.

Aber einmal sind wir dann doch darauf gekommen, und das war bös.

Zwischen Tag und Dunkel war's.

Martin saß auf dem Sofa hinter dem Tisch und hatte sein Buch zurückgeschoben. Ich mußte die Arbeit sinken lassen, weil ich nicht mehr sehen konnte. 223

Ich hätte mich gern neben ihn gesetzt. Es verlangt mich oft, meinen müden Kopf an seine Schulter zu lehnen. Aber Martin mag das nicht.

Ich weiß nicht, wie wir ins Reden kamen. Meistens sitzen wir und reden gar nichts.

Ich glaube, Martin hat von Helmut Stengel angefangen, daß der aus dem Kirchendienst weg und Bibliothekar sei. Ich wagte nicht, etwas darüber zu sagen, weil ich weiß, daß das gefährlicher Boden ist für eine, deren Herz und Zunge wilde Durchgänger sind.

Aengstlich und gespannt saß ich und wartete auf den Kommentar, den Martin zu der Nachricht geben würde. Aber er sagte nichts weiter; nicht einmal, ob der Stengel freiwillig gegangen oder entlassen worden sei.

Dann redeten wir vom Ferdinand, und da hielt ich nicht zurück. Es wäre mir wie ein Verrat erschienen, wenn ich nicht warm geworden wäre beim Klange seines Namens.

Martin saß unbeweglich mit auf dem Tisch gefalteten Händen. Er war es jetzt, der kein Wort einwarf, kein einziges.

»Jetzt, wenn der lange Winter wieder kommt und die einförmigen Tage, Martin, dann könntest du doch auch bisweilen mit mir hinauswandern in des Ferdinand Häuslein.«

Er gab lange keine Antwort, dann sagte er 224 leise: »Was ist dir denn nur dieser blinde Mann?«

Da brach's heiß aus mir hervor: »Er lehrt mich doch das Leben tragen, Martin, und einen Sinn finden in allem. Er sieht ja viel besser mit seinen blinden Augen als wir andern. Er sieht immer, wo eine Not frißt und wo ein Jammer quält. Es ist ihm gar nichts fremd, und gar nichts verdammt er. Man braucht ihm auch gar nichts zu sagen, er weiß immer alles.«

Ich schwieg und schluckte und suchte nach besseren Worten, da fragte Martin mit einer Stimme, die mir ganz fremd vorkam: »Ja, brauchst denn auch du einen solchen Mann?«

Da war mir's bitter leid, daß Martin zu erschrecken schien, weil ich, die eigne Frau, ihm aus der Schule weggelaufen war. Ich hätte es gutmachen mögen und konnte doch nicht lügen, nicht widerrufen.

»Martin,« sagte ich und schluckte an Tränen, deren ich mich schämte, »ich habe dich ja so oft etwas fragen wollen, da graute mir vor deiner Antwort. Du bist so fest. Du stellst immer gleich ein Ultimatum. Du läßt nie mit dir reden, mit dir handeln. Der Blinde weiß immer ein Uebereinkommen. Ach, du weißt nicht, wie mir oft ist. Ich bin meines Vaters Kind. Etwas in mir will nicht mehr, tut nicht mehr mit. Ihr seid mir zu fromm, zu himmelnah. Mich hält die 225 Erde. Ich will leben. Du verstehst das nicht. Du hast mein Blut nicht. Der Ferdinand versteht's. Er sieht in alles hinein, bis in die innerste Tiefe und lächelt dazu. Nicht einmal die Lammwirtin hat er verdammt, Martin, die Ehebrecherin; er sagt – er sagt – –«

Ich konnte nicht weiterreden vor brausender Erregung, Herz und Kehle krampften sich zusammen.

»Was sagt er?« drängte da Martin mit heiserer Stimme, und er beugte sich vor über den Tisch.

Ach, ich wollte nicht reden. Es ging mir ja durch den Kopf, daß ich damit doch zu viel und Falsches sagen würde, daß Martin es in dieser Stunde und in diesem Zusammenhang als eine bittere und ungerechte Anklage gegen sich aufnehmen müßte. Aber dann stieß ich es doch hervor: »Er sagt, das Weib sei nur an ihres Mannes Art gescheitert. Er sei schuld, daß sie aus der Bahn gekommen. Und in die Sünde hineingetrieben worden zu sein, das sei viel schwerer zu tragen, viel schwerer zu verzeihen als zugefügtes Herzeleid.«

Hätte ich sie ungesprochen machen können, meine Worte! So hatte ich's nicht gewollt, so nicht! Es paßte ja auch nicht auf meinen Fall.

Martin aber schob den Tisch von sich, daß die Tassen klirrten. 226

»Ja,« stieß er hervor, und ich kannte seine Stimme nicht mehr, »ja, du! so ist's, so ist's! Zum Fluch werden wir einander, du und ich, du und ich. Das geht nicht mehr mit uns, das geht nicht mehr so –«

Ich sah sein Gesicht nicht. Ich sah nur, daß er die Hand vor die Augen gepreßt hielt, und hörte, daß es wie ein Stöhnen aus seiner Brust kam.

Mich packte helle Verzweiflung. »Martin,« schrie ich auf, »sag das nicht, sag doch das nicht.«

Ich wollte die Arme um seinen Hals legen, da sprang er auf und stieß mich von sich. »Rühr mich nicht an, rühr mich nicht an! Es ist aus, es ist zu spät.« Dann wankte er aus dem Zimmer, und ich hörte die Türe seiner Stube schmetternd ins Schloß fallen.

Lange saß ich wie zerschlagen, wie gelähmt.

Was hatte ich getan, was verbrochen, daß er mich wegstieß wie etwas Giftiges? Ich fühlte, wie mein Herz, mein Inneres nach und nach ganz starr und hart wurde. Also zu Ende, alles zu Ende zwischen uns zweien! Laut lachte ich auf. War denn schon einmal ein Anfang gewesen?

In meine Schlafstube schlich ich wie eine Diebin im eignen Haus. Das Agathle stand im 227 Flur oben, ein flackerndes Licht in der hochgehaltenen Hand.

Weiß, verzerrt kam mir ihr Gesicht vor, und ihre Augen blickten scheu, wie in heißer Angst.

Sie trat mir entgegen, als hätte sie auf mich gewartet.

»I gang, Frau Pfarrer, i gang, no gibt's Ruh.«

Ich verstand sie nicht. Ich weiß nicht, wie jene Nacht hinging.

*

Fast scheu, als ginge ich auf unrechten Pfaden, schleiche ich mich jetzt oft durch den Schnee hinaus in das Häuschen des Ferdinand.

Martin sagt nie etwas dagegen, wie er ja auch früher nichts gesagt hat, und doch ist mir nicht ganz frei ums Herz bei meinen Gängen.

Ach, mir ist überhaupt nicht mehr frei ums Herz! Seit das Agathle aus dem Haus ist, schon gar nicht mehr.

Sie war mir ja keine Magd; sie war mir wie Arznei. Ihre unverrückbare Ruhe, Klarheit und Sicherheit wirkten auf mich wie die kühle Hand auf einer heißen Stirne. Aber man darf doch eine Tochter nicht halten, wenn der Vater sie braucht.

Der Hansjörg gesteht das zwar absolut nicht zu. Er schimpft und ist wütend auf das Agathle, weil sie aus der guten Stelle weggegangen sei, 228 und er will haben, daß sie wieder eintrete und Geld verdiene, statt ihm und dem faulen Andresle hauszuhalten und um kümmerlichen Lohn zu spinnen und zu taglöhnern.

Aber das Agathle schüttelte den Kopf, als ich es ihr vorhielt.

»Frau Pfarrer,« sagte sie, »i weiß, was i z' tu han! Sie dürfet mer's glaube, daß 's kei Uebermut von mir ischt. Wenn d'r Vatter au schempft. Der weiß oft selber net, was ihm und ander Leut guet tuet. Mei Mueter tät sage: Agathle, gang dei's Wegs nach dei'm G'wisse. Ebbes G'scheiters ka kei Mensch to – –«

Wie sie so redete und dabei starr an mir vorbeisah und die Hände sinken ließ, da sah ich wohl, daß es ihr bitterer Ernst war und daß sie nicht anders konnte.

Jetzt dringe ich natürlich nicht mehr in sie. Ich mache mir nur oft Vorwürfe, daß ich sie überhaupt weggenommen hatte von dem gesunkenen Mann.

Ich wandere oft hinaus zu den dreien.

Jetzt im Winter hat das faule Andresle keine Dorfkinder zu hüten. Und der Hansjörg findet nicht viel Taglöhnersarbeit. Sie führen ein armseliges Leben miteinander, und das Agathle sieht schlecht aus.

Sie ist unsern besseren Haushalt, bessere Kost 229 gewöhnt. Aber sie sagt, es sei doch das Richtige so.

Ihre Nachfolgerin besorgt schlecht und recht ihre Arbeit. Aber sie ist kein Agathle. Sie ist derb und ohne Takt und hat eine überlaute Stimme, so daß ich Martin schon zusammenschrecken sah, wenn sie anfängt zu reden.

Martin ist überhaupt überreizt. Ich glaube, er ist oder wird krank. Er gesteht es nicht zu. Aber ich bringe den Gedanken nicht los, seit er dazumal so schrecklich erregt war. Vielleicht setzt ihm der strenge Winter zu. Ich höre ihn oft husten und sehe, wie er fröstelnd den Ofen sucht.

Ein ungesundes Haus, das Andersberger Pfarrhaus! Es ist kein Plätzchen zu finden, an dem man warm wird. Richtig von innen heraus warm, oder warm bis ins Innere hinein. Immer ist dieses Frösteln zwischen den sonnenlosen Mauern.

Gut, daß wir wenigstens Holz in Hülle und Fülle haben. Martin hat sogar davon ins Gemeindehäuslein führen lassen. Das hat mich um so mehr gefreut, als er selbst nicht hinausgeht. Er mag den alten Trinker nicht leiden, und das Andresle ist nicht mehr als ein harmloses Tier.

Keinen der weiten Wege auf die Filiale hinaus, oft durch Sturm und Schneegestöber, schenkt sich Martin. Ich darf ihm da nichts dreinreden, sonst rückt er an der Brille, wie er das 230 in der Erregung tut, und sagt: »Quäl mich nicht, Martha!« Da war ich so froh, daß er es für das allein Würdige hielt, daß die Täuflinge aus den kirchenlosen Filialorten ins Gotteshaus zu uns gebracht würden.

Jetzt ist kurz vor Weihnachten etwas passiert, was ihn bewog, auch diesen Brauch fallen zu lassen.

Der Bauer vom Hof auf der andern Höhe hat sein Jüngstes zur Taufe gebracht und die ganze Sippe war da. Der Hirschwirt hatte einen guten Tag.

Erst am späten Abend, als der Mond auf den Schnee schien und die Sterne vor Kälte glitzerten, fuhren die Leute weg.

Ich hörte die Schlitten am Pfarrhaus vorüberklingeln und sorgte mich um das Kindlein.

Aber die Hirschwirtin, ein Weib, das Herz und Kopf auf dem rechten Fleck hat, hatte schon vor mir dieselbe Sorge gehabt.

Sie steckte den Täufling ins warme Bett und ließ die Betrunkenen ohne das Kind durch die eisige Nacht heimfahren.

Unterwegs aber haben die Leute den Täufling vermißt. Sie hatten es gar nicht bemerkt, oder wußten es wenigstens nicht mehr, daß die Hirschwirtin ihn zurückbehalten hatte. Vom Schrecken nüchtern gemacht, kamen sie mit Lärm 231 und Geschrei zurückgefahren und suchten das Kind auf der Straße.

Martin ging selbst, zu sehen, was es gebe.

Fassungslos kam er heim. Er war ganz außer sich vor Schreck, Schmerz und Beschämung, daß in seiner Gemeinde so etwas möglich gewesen war.

»Martha,« sagte er, und er stand vor mir wie ein ganz zusammengebrochener Mann, »Martha, es ist kein Segen mehr auf meinem Wirken, es ist umsonst.« Ich kann nicht sagen, wie mich das erbarmte! Früher, als er noch nicht kränklich war, der Martin, ist er so sicher gewesen, so eisenfest, so voll Zuversicht.

Und jetzt so! –

Ich wollte seine Hände nehmen und ihm etwas Gutes sagen, irgend etwas aus meinem Erbarmen heraus.

Aber er schüttelte den Kopf und ging davon, um sich in sein Zimmer einzuschließen.

Seitdem tauft er in den Häusern und muß noch mehr als früher hinaus.

Auf Weihnachten hatte sich die Tante angemeldet.

Es war prächtige Schlittenbahn, und die weiße Höhe unter dem blauen Himmel, an dem die stille, ferne Sonne ihren niederen Bogen zog, war von wunderbarem Reiz. 232

Ich dachte, Martin, der sich mit der Tante seit jeher so vortrefflich gestanden hatte, werde sich freuen, ihr diese schweigende Winterherrlichkeit zeigen zu können.

Aber als ich ihm den Brief in seine Stube trug, war es, als erschrecke er.

»Schreib ab, Martha,« sagte er hastig; »Tante soll im Frühjahr kommen. Im Winter ist's nichts für sie da oben.«

Da habe ich denn abgeschrieben.

*


 << zurück weiter >>