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Es scheint mir, daß jene uns Deutschen oft nachgerühmte Scheu vor gewissen Vorrechten der Geburt, des Ranges, des Besitzes in Wahrheit besteht und unser öffentliches Leben vergiftet, indem sie das Fundament der Gesellschaft, die Gleichheit vor dem Gesetze aufhebt, während sie hinwiederum unserem privaten Leben durch Anreiz zur Eitelkeit, zur Selbsterniedrigung, zu allen Gegenteilen von Stolz und Selbstgefühl einen bedenklichen Einschlag gibt – – ja, das alles scheint mir so, und ich finde diese Meinung durch alle möglichen Vorkommnisse immer wieder auf ein neues bestätigt. Auch in unseren kleinen Provinzstädten, wo doch wahrhaftig der Anblick des Hofes, der Umgang mit glänzenden Militärs, die Bewunderung genialer Staatsmänner, wo all dies nicht die klaren Begriffe von Recht verwirren könnte, selbst da finde ich immer wieder, natürlich ins kleine übertragen, aber nicht minder verderblich – was wollte ich sagen? – Ja, also in Dornstein – aber das muß ordentlich und der Reihe nach erzählt werden, und weil das Thema an sich etwas unappetitlich ist oder sein könnte, muß es auch mit Zartheit vorgetragen werden. Nur eine Frage vorher!
Wenn nach allgemein gültigen Begriffen von Moral, Anstand und Hygiene die Verunreinigung von öffentlichen Plätzen und Straßen – ich möchte absichtlich keinen starken Ausdruck gebrauchen – als ordinär, jedenfalls aber als verboten gilt, wenn dieses Verbot in deutlichen Verfügungen der Ortspolizeibehörde niedergelegt ist, mit Ausdrücken, die keinerlei Deutung zulassen, so meine ich doch, dieses Verbot müßte für alle Bewohner des Ortes gelten? Aber wir werden ja sehen!
Ich meine sogar, gerade Leute von Bildung müßten im Falle einer Zuwiderhandlung stärkere Mißbilligung und strengere Strafe finden, denn wenn Bildung wirklich Bildung ist – aber wir werden ja sehen!
Jedenfalls hier will ich nur die Tatsachen in ihrer zeitlichen Folge berichten und feststellen, und jeden Schein einer irgendwie gearteten Färbung vermeiden.
Alles, was sich in der Zeit vom 17. März bis mit 11. April 1913 in Dornstein ereignete, das heißt: in dieser betreffenden Sache sich ereignete, werde ich chronologisch erzählen.
Eigentlich müßte man das Datum weiter zurücklegen, denn schon am 21. Februar, 2. März und wieder am 11. März erschienen im Dornsteiner Volksboten »Stimmen aus dem Publikum«, welche auf die Vorkommnisse Bezug nahmen.
»Gibt es keine Polizei, welche in der Luitpoldstraße gewisse Schweinereien gewisser Herren betrachtet, und dürfen selbe tun, was sie wollen?!? (Volksbote vom 21. 2. 1913, Seite 3.)
»Es scheint, daß die Nemesis sich vor gewissen Leuten verkriecht, welche die Luitpoldstraße zum Schauplatze ihrer Gemeinheit machen, und daß sie in diesem Falle nicht so pünktlich bei der Hand ist, wie vielleicht gegen die minder bemittelte Klasse!!!« (Volksbote vom 2. 3. 1913, Seite 3.)
»Auch unsere gute Stadt Dornstein soll, wie es scheint, ihren Panamaskandal!! haben, ohne den es überhaupt in Deutschland nicht mehr abzugehen scheint!! Trägt der Kadi eine stärkere Binde vor den Augen, wenn es sogenannte Gebildete betrifft?!? Wir fragen zum letzten Male!!« (Volksbote vom 11.3.1913, Seite 2.)
Die letzte Anfrage des Blattes war denn doch in einem Tone gestellt, der hätte gehört werden müssen, wenn die maßgebenden Behörden dazu eine Lust verspürt hätten, ich möchte sagen, wenn sie eine durchaus strenge Auffassung von ihrer Pflicht besessen hätten.
Sie hatten diese Auffassung nicht. Und nun traten in diesem Drama die Personen aus den Kulissen heraus vor die Rampe der Öffentlichkeit.
– Ich glaube, man kann dieses Bild füglich gebrauchen? –
Am 17. März gelangte folgendes hier wörtlich wiedergegebene Schreiben der Realitätenbesitzerswitwe Ursula Hirgstettner in den Einlauf des Stadtmagistrats Dornstein:
An den Maschißtrath, hochwolgebohren dahir und zu Händen des Herrn Bürchermeisters.
Eigene Angelegenheit des Empfängers!
Beträf: Notdurfth und unberächtigte Ausübung dersälben in der Luitpoldstraße. Auch beträf gegen die Sitlichkeith.
Es ist gewieß ales recht und man schweicht oft und denkt sich blos etwas, denn man wiel nichd fier eine frau gelthen, die wo zimbferlich ist und die wo gleich iber ales sich empörth ist und obwoll man doch auch seine Steuern und Abgahben zahlt und Gemeindeumlahgen.
Aber was zu arch ist ist zu arch und mahn braucht sich nicht ales zu gefallen zu lassen, indem man doch auch zum weiblichen Geschlächte gehörth und vielleicht mehr bieldung besiezt als die wo immer davon sprechen. Oder muß sich vieleicht eine schuzlose Wittwe ales gefallen lasen? Oder denkt man vieleicht, ja hier braucht es keine Rücksicht durchaus nicht mehr, weil diese Beträfende keinen Man nicht besiezt, der wo solchene Angriefe auf das Schahmgefühl nicht erlaubt?? Alerdings wenn mein unvergeslicher Leonhard nicht dahin geraft wäre durch ein unerbitliches Geschiek, hernach würden sich vieleicht gewise Herren der Schöpfung besinnen, ob sie sich so etwas trauen oder vieleicht lieber ihre nothurft anderswo verriechten.
Aber freilich, ich bin ja blos eine schuzlose Wittwe und da braucht man keine Rücksicht nicht zu nehmen!! Aber ich zeige es hiemit dem hochwolgebornen Maschißtrate an und gebe keine Ruhe nicht mehr sondern apeliere.
Im Gasthaus zum Schiemel sitzen die » besseren«!! Herren beinahe ale tage bis in die späthe Nacht obwol es mich nichts angeht und verlasen selbes meistens um Mitternacht und sage ich auch nichts obwol oft ein groser Spektakel ist, aber man denkt sich, es gibt auch feinere Herren, wo so viel trinken wie ein Fuhrmann.
Aber leider dises ist nicht ales, sondern sie bleiben auf der Strase stehen und verrichten selbes, wo man vieleicht als feinere Herren anderswo veriechten soll und unterhalten sich dabei mit lauther Stimme. Dises sind meistens der Herr Majohr Röklmeier und der penzionirte Oberambsriechter Pollner und verschiedene Bürger und Maschißtratsräthe, wo ich auch den Herrn Haslinger und Mühlberger deuthlich unterscheiden konnte. Dieses geschieth vor meinem Hause, indem ich davon oft erwache und mit Schmertzen frage, ob mahn dieses einer schuzlosen Wittwe ales biethen darf. Ich habe es schohn dem Polizeiwachtmeister genau beschriehben, aber leider es hilft nichts, sondern die feineren Herren betreiben erst recht ihr schweinisches Geschäft und man hört auch daß sie sich dabei zu Anspillungen auf meine Persönlichkeit erfrächen. Der betrefende ist besonders erkannt und wenn es auch ein Beahmter ist, besiezt er doch keine Bieldung und soll vieleicht denken, das er nicht so unferschämbt zu sein braucht gegen leuthe, wo seine Penziohn auch mitzahlen.
Hochwollgeborener Maschißtrat ich zeige es hiedurch an, daß ich mir durchaus nichts mehr gefahlen lasse und mich nicht mit Injuhrien auch noch behaften lasse, sondern meine Geduld ist erschöpft, wodurch ich auf einen Standpunkt bin, das mahn sich sagt, bis hieher und nicht weither!
Wenn der Maschißtrat vieleicht sein Auge zudrüken will weil es feinere Herren sind und die besiezende Klasse, dann weiß ich schon was ich thue.
Ich verlange die strengste Bestraffung dieser Obigen und eine Tafel gegen nächtliche Verunreinigung und ich glaube das auch eine schuzlose Wittwe disses erreichen kann gegen die wo sich nicht schähmen, sondern ihre sogenannte Bieldung in disser weise bezeichen. Ich verlange die strengste Bestraffung! Disses möchte ich noch bemerken.
Laut Unterschrift: Ursula Hirgstettner,
hochachtungsvoll dahir.
Am 26. März kam dieser Brief in geheimer Magistratssitzung zur Sprache.
Herr Bürgermeister Dr. Pilzweyer hatte ursprünglich die Absicht gehegt, und diese Absicht auch gegenüber dem Magistratssekretär Weigel kundgetan, die Eingabe der Hirgstettner zu perhorreszieren, aber eine Notiz im Volksboten brachte denn doch die Sache in Gang, da man nun befürchten mußte, daß weitere sehr unangenehme Preßerörterungen das stille Begräbnis der Anklage verhindern würden.
Also ging man daran, die Angelegenheit amtlich, wenn auch nicht ernstlich, zu behandeln.
Denn schon die Miene des vorstehenden Sekretärs verriet die merkwürdige Neigung, diese Herzensnöte einer Frau als Spaß zu betrachten, und ein den Vortrag begleitendes Lächeln des Bürgermeisters schien die Anwesenden aufzufordern, auch ihrerseits den Humor des Schriftstückes zu erkennen.
Allein Magistratsrat Mühlberger, ein angesehener Bäckermeister, konnte trotzdem seinen aufsteigenden Zorn nicht meistern und sprang sogleich auf, indem er rief:
»Dös san ja Insinationa! Hat ma scho so was g'hört von so an alt'n miserablinga Trankhafa? Dös san ja Insinationa!«
»Herr Magistratsrat,« sagte der Bürgermeister in verbindlichem Tone, »wir können und wollen uns über dieses Schriftstück doch wahrhaftig nicht aufregen – –«
»Sie Eahna net! Aber i!« schrie Mühlberger. »Dös san ganz oafach Insinationa! Und dös sag' i!«
»Wir werden später darauf zurückkommen,« sagte immer lächelnd Herr Dr. Pilzweyer. »Aber,« fuhr er fort, indes er seinen Kneifer abnahm und ihn spielend an der Schnur pendeln ließ, »ich muß nun wohl das tatsächliche Material den Herrn unterbreiten.«
»Es handelt sich hier,« sagte er und lehnte sich zurück, indes er jedes Wort mit verstandesmäßiger Betonung aussprach und im Wohlklange seiner Rede schwelgte, »es handelt sich hier zweifellos um das Haus Nummer 104a, als welches zu Eigentum der Witwe des verstorbenen Realitätenbesitzers Leonhard Hirgstettner im Grundbuche vorgetragen ist, – und welches sich auf der nördlichen Seite der ehemaligen Bachleitergasse, jetzt Prinzregent-Luitpold-Straße befindet. Gegenüber von diesem Hause ist die Gast- und Tafernwirtschaft zum Schimmel, welche von den Eheleuten Johann und Maria Leutgschwendtner betrieben wird. Dieses Gasthaus erfreut sich des Besuches gerade der Honoratioren.«
»I g'hör aa dazua,« fiel hier die Baßstimme des Magistratsrates Haslinger ein.
»Gerade der Honoratioren,« fuhr der Bürgermeister fort, indes ein Lächeln über seine Züge flog, »und man begegnet dort außer angesehenen Bürgern« – er machte eine leichte Verbeugung nach der Richtung, wo Haslinger und Mühlberger saßen – »man begegnet dort Offizieren, Angehörigen des Beamtenkörpers, also Herren, denen eine Störung der Ordnung, ein Zuwiderhandeln gegen Sitte und Anstand niemals, ich betone das, niemals zuzutrauen wäre!«
»Dös moan i halt aa,« rief Mühlberger ...
»… Zuzutrauen wäre. Die streng vertraulich gepflogenen Recherchen haben ergeben, daß vielleicht hier und da einer der Herren, dem Zwange und Drange der Natur folgend, ganz gewiß in unauffälligster Weise ...«
»Bitt ums Wort!« schrie Herr Haslinger.
»Sogleich! Sie werden das Wort sogleich erhalten, Herr Magistratsrat ... also in diskretester Weise jenem Drange vielleicht Folge leistete. Aber eine Beschuldigung wie diese hier« – Herr Dr. Pilzweyer klopfte, nun ernster werdend, auf das Schriftstück – »eine solche Beschuldigung ist frivol. Ich stehe nicht an zu sagen, es ist ein starkes Stück von Frivolität.«
»An Insination is!« rief Mühlberger ...
»Eine haltlose Verdächtigung, und ich erteile nun, bevor ich einen Antrag stelle, das Wort dem Herrn Magistratsrat Haslinger.«
Dieser, von Beruf Brauereibesitzer, ein beleibter Mann von stattlicher Größe, erhob sich, und da er gerade geschnupft hatte, zog er ein blaues, geblümtes Taschentuch von der Größe einer Serviette aus der Tasche und entfernte von Bart, Weste und Rock die Tabakreste. Dann begann er in jovialem Tone zu reden. »Also, meine Herrn, de Sach' is eigentli ganz oafach; und i muaß scho sagn, daß ma über so was überhaupts red'n muaß, dös g'hört aa zu de Erscheinunga der Neuzeit. Also i sag ganz oafach, de Beschwerde von dera ... Beißzanga da ... is eigentli a Frechheit ersten Grades. Indem daß also Familienväta und verheirate Männa, und daß ma 's scho glei sag'n, lauta Leut, de wo eppas san und de wo eppas hamm und de wo eppas vorstell'n – net – lauta richtige Leut – net – indem daß diese Leut a so hingestellt wern als wia Sittlichkeitsverbrecher – net – und von an solchen alt'n Trankhafa, bei der ma si do überhaupts nix mehr denkt ...«
Der Bürgermeister rührte an der Glocke. »Ich möchte den Herrn Magistratsrat bitten, im Interesse einer sachlichen Behandlung ...«
»Net unterbrecha!« sagte Haslinger grob. »Sie hamm dös überhaupts a bissel gern, Herr Bürgermoasta, und i sag 's Eahna, daß über dös bereits Stimmen laut geworden sind.
Über diese Unterbrecherei von Eahna. Da kimmt ma ja aus 'n Thema außi! Also, meine Herrn, daß i 's kurz sag, seit i ins Wirtshaus geh, und aa früherszeit, wia no mei Vata ganga is, und natürlicherweis mei Großvata grad so, also da woaß ma's nia anderst, als daß ma vom Wirtshaus außa ... no ja ... in Gott's Nam ... Sie verstengan mi scho. I möcht überhaupts sag'n, dös is an alts Recht! Wenn ma so seine vier, fünf oda sechs Maß Bier trunka hat – no ja – in Gott's Nam! De Damenwelt is do um de Zeit nimma auf da Straß, und so lang unser Dornstoa steht, hat ma dös net anderst g'wißt. Jetzt auf oamal kam de Mistamsel, de abscheilige, daher ... Teans mi net unterbrecha, sag i, Herr Bürgermoasta, – jetzt kam de daher und möcht ins des alte, guate Herkomma für an Unsittlichkeit histell'n. Aba i sag bloß dös, solchena Beleidigunga, solchena neumodische Unverschämtheiten, von dera grauslinga Beißzanga, diese prallen an unserer Brust ab!«
»Brafo! Brafo!« riefen die Magistratsräte und patschten auch lebhaft in die Hände, so daß Herr Haslinger sich dankend noch einmal halb vom Stuhle erhob und wiederholte: »Sie prallen ab, sag i, und mehra sag i net ...«
»Dös Luada mit ihre Insinationa!« rief Mühlberger, worauf sich der Herr Bürgermeister räusperte und also begann:
»Meine Herren! Nach den bemerkens- und auch dankenswerten Ausführungen des Herrn Vorredners, nach diesen von den Tönen eines beleidigten Ehrgefühls durchzitterten Worten erübrigt mir jetzt nur ... wie?«
»Ich bitte ums Wort!« sagte zum zweiten Male der Buchbindermeister Kallinger ...
»Ach so! Pardon! Der Herr Magistratsrat Kallinger hat das Wort.«
»Meine Herren!« sagte dieser, ein Freund feinerer Bildung, der einige Jahre in Norddeutschland befindlich gewesen war, ... »meine Herren! Ich glaube fürwahr mit Recht behaupten zu dürfen, daß ich einige Erfahrungen besitze in betreff nämlich der Sitten und Gebräuche fremder Städte ...«
»Geh, hör auf!«
»Ich höre nicht auf, Herr Haslinger, und ich möchte nur bemerken, bald Sie sich beschweren in betreff von Unterbrechungen, dann dürfen auch Sie nicht einen Redner unterbrechen ... ich möchte also nur dieses sagen, daß ich in fremden Städten einige Erfahrungen gesammelt habe auch in betreff dieses Themas, über das ich mich nicht näher ausdrücken kann, und ich behaupte, daß auch in anderen Städten dieses häufig vorkommt. Dann möchte ich sagen, daß zum Beispiel während einer Regenperiode sicherlich kein Grund zur Beschwerde vorhanden ist, während im Schnee fürwahr zu viele Spuren zurückbleiben. Ich möchte hierdurch nur eine bescheidene Anregung geben, ob die betreffenden Herren nicht doch eine gewisse Rücksicht auf die Witterungsverhältnisse walten lassen könnten ...«
Damit setzte sich Herr Kallinger, und Herr Haslinger stieß Herrn Mühlberger mit dem Ellenbogen an, und Herr Mühlberger stieß Herrn Arzböck an, und es herrschte die allgemeine Ansicht, daß der Kallinger natürlich wieder seinen Senf habe dazugeben müssen.
Aber der Bürgermeister hustete leicht und fuhr an der alten Stelle fort.
»Es erübrigt mir jetzt nur die Frage, ob der Magistrat sich irgendwie offiziell, also beschlußfassend, mit der Sache beschäftigen soll ...«
»Nix da! Da werd überhaupts nix mehr g'redt! Freili! Daß der alte Trankhafa sei Freud hätt! ...«
»Ja, also, ich entnehme den allgemeinen Zurufen, daß man über die Beschwerde zur Tagesordnung übergeht ... Herr Kallinger?«
»Ich möchte nur einen Beschluß darüber vorschlagen, daß während einer Schnee- oder Kälteperiode auch nachts keine solche Verrichtung stattfinden dürfe ...«
»Wer für den Antrag des Herrn Magistratsrates Kallinger ist, möge sich erheben! ... Niemand? Also, der Antrag ist mit allen gegen eine Stimme abgelehnt ... und damit gehen wir zur Tagesordnung über. Es liegt vor ein Antrag des Kaufmanns Oberloher ...«
Das war am 26. März.
Am 29. des gleichen Monats brachte der »Volksbote« einen geharnischten Artikel über »Korruption«:
»Es ist einem Häuflein Bevorzugter gelungen, dem Gesetz ein Schnippchen zu schlagen ... usw. ... bis ... wir erinnern aber an das so wahre Sprüchwort: justitia fundamentum regnorum, welches denn doch auch in Dornstein einige Geltung haben dürfte ...«
(Siehe Beilage 5 im Akt: Beschwerde der Ursula Hirgstettner usw.)
Am Abend des 1. April brannte im Hause der Frau Hirgstettner das Gaslicht nicht mehr. Tagsüber hatten zwei städtische Arbeiter sich an der Leitung in der Luitpoldstraße zu schaffen gemacht und jede Auskunft verweigert. Als nun Frau Offiziant Koppenwallner, welche in dem Hirgstettnerschen Hause wohnte, im Gange Licht machen wollte und immer wieder den Gashahn aufdrehte, blieb es dessenungeachtet dunkel.
Obwohl sofort eine Magd zum Leiter der Gasanstalt geschickt wurde, kam niemand zur Abhilfe. Auch den 2. und 3. April ließ sich der städtische Installateur nicht blicken.
Am 4. April ging Frau Ursula Hirgstettner selbst im Zustande der höchsten Aufregung, da die Familie Koppenwallner sofort kündigen wollte, zu Herrn Gasanstaltsdirektor Pfrombeck und stellte ihn entrüstet zur Rede.
»Nur net so hitzig!« sagte Herr Pfrombeck gelassen. »Am Gas fehlt's net, aba wahrscheinli fehlt's an der Leitung. Vielleicht hamm S' dös letzte Quartal net zahlt?«
»Dös tat i mir scho verbitt'n! I bin meiner Lebtag nix schuldi blieb'n ...«
»Ja no! Na werd's wo anders fehl'n. Mi geht dös nix o. De Gasleitung hat da Herr Magistratsrat Mühlberger unter sich. Da müassen S' zu dem geh' und frag'n.«
Nun ging der Frau Ursula Hirgstettner allerdings ein Licht auf, aber als resolute Witwe ging sie unverzagt in den Kampf um ihr gutes Recht und in den Laden des Bäckermeisters und Magistratsrates Mühlberger.
Sie mußte warten, bis alle Kunden bedient waren, und stand endlich in dem Hinterzimmer vor dem finster blickenden Stadtvater.
»Was woll'n denn Sie?«
»I? Da tat i no lang frag'n, wenn seit vier Tag 's Gas nimmer brennt!« – »So?«
»Ja! Zahlt ma desweg'n seine Umlag'n und Gebühr'n, daß nacha a solchena Schlamperei vorkimmt ...«
»Sie, tean S' Eahna a bissel z'ruckhalt'n!«
»Gar net halt i mi z'ruck, und auf der Stell muaß i wiss'n, warum daß de Arbeita mei Leitung abdraht hamm ...«
»Welchane Arbeita?«
»Ja, ma hat's scho g'sehg'n! Für gar so dumm müaßt's oan aa net halt'n!«
»Wenn de Arbeita Eahna Leitung unterbrocha hamm, nacha hat am Rohr was g'feit. Vastand'n?«
»So, warum fehlt denn grad bei mir was? Und bein Schimmiwirt net? Und bei koan Nachbarn net?«
»Dös is de Rohr eahna Sach.«
»I wer scho sehg'n, ob i mir dös g'fall'n lass'n muaß. I woaß scho, was da für a Spitzbuamg'schicht dahinta steckt.«
»Halten S' Eahna z'ruck, sag i!«
»Und a Spitzbuamg'schicht is, sag i!«
»Sie, passen S' auf, Eahna kennt ma!«
»Sie kenna mi no lang net, und wenn i net auf da Stell mei Gas kriag, nacha zoag i Eahna, mit wem Sie's z'toa hamm!«
»Dös braucht's net. Eahna kennt ma, sag i. Sie san eine Frau, de wo Insinationa macht. Verstengan Sie? Insinationa!«
»I mach Eahna no ganz was anders, Sie Loawibacha, Sie ausgschamta!«
»Jetzt hab i Eahna! Dös is an Amtsbeleidigung!«
»Mei Gas möcht i!«
»An Amtsbeleidigung is dös! Verstengan Sie? Jetzt san Sie g'richtsmaßig!«
»Gengan S' aufs G'richt! Auf da Stell geh i mit und bring mei Sach vor! I will amal sehgn, ob Sie mir's Gas abdrahn derfa, weil i Eahna Sauerei anzoagt hab' – Sie!«
»Und jetzt macha S', daß S' naus kemma, sunst gibt's an Hausfriedensbruch aa no, Sie Trebernfaß, Sie ordanärs! Sie Mistamsel, Sie grausliche!«
»So? So red'n Sie? Aba ...« – »Außi!«
Der Befehl war so kategorisch und mit Schub und Druck begleitet, daß die fassungslose Witwe, ohne zu wissen wie, vor der Türe und auf der Straße stand.
Ihr eiligster Lauf ging in die Redaktion des Volksboten.
*
Aber der Kämpfer für ihre Rechte, Herr Martin Irzinger, war nicht wie sonst.
Er hörte sie nicht an, er unterbrach sie lange, bevor ihre Klagen zu Ende waren.
»Dös is alles ganz recht, Frau Hirgstettner, und i kenn ja de ... i will sag'n, i woaß ja alles, aba, es tuat mir leid, i ko in dera Sach' nix mehr toa.«
»Sie san guat. Zerscht hamm's mi allaweil aufghetzt, daß i de Eingab' mach, und Sie hamm in Eahnern Blattl de G'schicht aufgrührt ...«
»Ja ... ja ... Dös hoaßt, i hab mi für Eahna a bissel einseitig ins Zeug g'legt. Einseitig, verstengan Sie?«
»Aba Sie hamm do g'sagt ...«
»I hab g'sagt, aba jetzt sag i Eahna was anders, Frau Hirgstettner. Schauen S', i muaß von de Leut' leb'n, und Sie müass'n mit de Leut leb'n. Wir kinnan den Kriag net weiter führ'n.
Mir geht da Proviant aus. Verstengan S', der Diridari – und Eahna geht 's Liacht aus.« – »Ja, was soll i denn toa?«
»An Fried'n schliaß'n. Es bleibt ins nix anders net übrig ...«
Da verließ die Witwe aller Kampfes- und Lebensmut, und sie fing gottesjämmerlich zu weinen an.
Es müssen hier einige Tatsachen nachgeholt werden.
Am 1. April wurde dem »Volksboten« amtlich mitgeteilt: 1. daß der Magistrat das bisherige Abonnement von zwei Exemplaren nicht erneuere, 2. daß der »Volksbote« künftighin keine amtlichen Inserate mehr zu gewärtigen habe.
Noch den gleichen Tag suchte Irzinger den Bürgermeister auf und bat um Aufklärung.
»Wundern Sie sich darüber?« fragte Herr Dr. Pilzweyer mit Nachdruck. »Konnten Sie etwas anderes erwarten, nachdem Sie in jeder Nummer Ihres Blattes ...?«
»Entschuldinga, Herr Bürgermoasta ...«
»Oder, ich will sagen, wenn Sie beinahe in jeder Nummer die angesehensten Männer der Stadt, ja, die Stadtverwaltung selbst, in maßloser Weise angreifen?«
»Entschuldinga, Herr Bürgermoasta ...«
»Jawohl, maßlos, Herr Irzinger! Das Wort ist keineswegs stark gewählt ...« Herr Dr. Pilzweyer spielte hier wieder mit dem Zwicker und lauschte auf seinen Tonfall. »Sie zweifeln unsere Intaktheit an, unsere Gerechtigkeitsliebe, Sie sprechen von einem Panama ...«
»Entschuldinga, Herr Bürgermoasta ...«
»Wortwörtlich Panama! Das ist ein schlimmer Vorwurf, Herr Irzinger! Und ich kann Ihnen nur sagen, er hat mich persönlich geschmerzt, denn ich verkenne keineswegs die Bedeutung der Presse ...«
»Entschuldinga, Herr Bürgermoasta ...«
»Ich kann aber, und das werden Sie mir zugeben, ein Blatt nicht unterstützen, welches in unser Gemeinwesen den Unfrieden trägt, welches das Ansehen der besten Bürger zu untergraben sucht, welches die Leitung der Gemeinde verdächtigt, welches ...«
»Entschuldinga, Herr Bürgermoasta, und bald diese Angriffe unterbleiben?«
»Wenn Sie mir das Versprechen geben ...«
»Und bald ich den Herren vom Magistrat gewissermaßen im Volksboten eine Genugtuung gebe?«
»Dann abonniere ich wieder.«
»Und de Inserat'?«
»Bekommen Sie wieder.«
»Gilt scho!«
»Ihr Ehrenwort, Herr Irzinger?«
»Auf Ehr und Seligkeit, sag i. Und bal i amal was sag', da gibt's nix; dös is wia Stahl und Eis'n ...«
»Also gut! Sie unterlassen die Angriffe – auch in dieser etwas komischen Sache ...«
»A glänzende Ehrerklärung gib i, wenn i 's amal sag, Herr Bürgermoasta! A glänzende Genugtuung.«
»Schön, dann sind wir wieder einig.«
»Dös glaab i.«
Die glänzende Ehrenerklärung kam am 5. April, denn einiger Zeit bedurfte Herr Irzinger denn doch, um seinen Gesinnungswechsel zu stilisieren. Er packte die Sache beim richtigen Ende an, indem er zuerst etwas humoristisch wurde, dann aber doch die echt altbayrische Standhaftigkeit der Männer hervorhob, welche auch in einer kleinen Sache, deren allzu deutliche Beschreibung sich von selbst verbot, am alten Herkommen festhielten und durch diese Hartnäckigkeit alle Widerstände besiegten.
Auch, wie Herr Irzinger freimütig bekennen zu müssen erklärte, den Widerstand der Presse.
Der im vollsten Sinne des Wortes verlassenen Witwe blieb nichts anderes übrig, als die Verzeihung der standhaften Verunreiniger zu erflehen.
Nicht ganz so leichten Gemütes und nicht ganz so rasch wie der Redakteur des Volksboten; aber die Notwendigkeit, Gas zu erhalten, erlaubte auch kein allzulanges Zögern.
Mühlberger sträubte sich und verzieh nur unter bissigen Bemerkungen die Insinuationen der schmähsüchtigen Frau.
Aber am 11. April brannten die Gasflammen wieder.
Lange nachdem sie in dieser Nacht erloschen waren, um die Geisterstunde vernahm die Lauschende wiederum die Ausübung jenes alten Rechtes oder Herkommens.
Und sie konnte feststellen, daß die vier Hauptkämpfer für den alten Brauch samt und sonders sich betätigten.
Der Herr Major Stöckelmeier, der Oberamtsrichter Pollner und die zwei kriegerischen Magistratsräte.