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Eine seltsame Zärtlichkeit wallte in Rentier Otto Schwalbe auf. Er hatte am Mittagtische still und gedrückt teilgenommen, war zerstreut gewesen und hatte sehr wenig gegessen. Jetzt erhob er sich beinahe stürmisch und machte den Versuch, seine Frau auf den Mund zu küssen, traf aber nur die Wange, da sie den Kopf zur Seite bog. Er wiederholte die Sache nicht, da sie ihm selber ungewöhnlich, fast ein bißchen blödsinnig vorkam. Er sagte: »Tinchen!« recht aus der Tiefe herauf und ging.
»Was er nur hat?« fragte Mama.
»Gott!« sagte ihr Töchterchen Hanna, eine frische Blondine mit einer entzückend frechen Stupsnase. Tante Mally behauptete, daß diese Stupsnase ein Geschenk Gottes sei, denn mit so 'ner Nase könne man sich viel mehr erlauben, als sonst jungen Mädchen verstattet sei, und man könne unbeanstandet verfängliche Dinge sagen. Jedermann fände es stilvoll. Hanna sagte und fragte viel Unpassendes; sie war schon als Backfisch nicht gezwungen, eine Verständnislosigkeit zu heucheln, die ihr bei diesen Augen und dieser Nase doch niemand geglaubt hätte. Eigentlich, um der Wahrheit die Ehre zu geben, sie sagte späterhin, als sie die Zwanzig überschritten hatte, nicht mehr so viel Entsetzliches wie ehedem in den unschuldsvollen Jahren. Vielleicht hatte sie mit feinem Gefühle den pikanten Reiz verstanden, den der Kontrast zwischen unreifer Jugend und überreifen Äußerungen hatte. Sie machte auch jetzt noch Gebrauch von dem Rechte der Stupsnase, aber spärlicher, mit kluger Einteilung. »Gott!« sagte sie jetzt und zog die Achseln hoch. »Wahrscheinlich hat er ein schlechtes Gewissen.«
»Aber Hanna! Übrigens, ich muß zugeben ...« Frau Klementine vollendete den Satz nicht, vielleicht blieb sie sogar mitten in dem Gedanken stecken. Ihr mildes Wesen hatte sie zur Körperfülle, ihre Körperfülle zur absoluten Gleichgültigkeit geführt. Sie setzte sich in einen bequemen Lehnstuhl, und ihre Augenlider waren schwer, als sie nach langer Pause fragte: »Schlechtes Gewissen – glaubst du ...?«
»Ich finde seine unpassende Zärtlichkeit verdächtig –« antwortete das Töchterchen.
»Unpassende Zär…«
Frau Klementine war eingeschlafen.
Herr Schwalbe ging gewohnheitsmäßig seinem Stammkaffee zu, aber auf halbem Wege kehrte er um und irrte planlos durch die Straßen. Was tun? Irgend etwas mußte geschehen. Das heißblütige Weib hatte ihm in einem ziemlich unorthographischen Briefe Rache angedroht. Diese ungarischen Volksschulen ... na ja ... aber stolz waren sie, diese Kinder der Pußta ... Paprika, setzte Schwalbe in Gedanken hinzu ... stolz waren sie, und Kränkungen nahmen sie nicht stillschweigend hin.
Was würde sie tun, diese Verschmähte? Ach, Herr Schwalbe ahnte, wußte es nur zu gut! Er hatte sich von seinen Gefühlen zu Briefen hinreißen lassen, die von Phantasie strotzten, von einer verderbten, auf schlimme Abwege geratenen Phantasie. Wenn sie diese frivolen, häßlichen Erzeugnisse an Tina ...
»Un – mög – lich!«
Er schrie es so laut hinaus, daß sich die Leute nach ihm umdrehten. Er überquerte die Straße und setzte sich in den Anlagen auf eine Bank. Nur ruhig denken, ruhig überlegen!
Konnte die Polizei ...? Unsinn! Was ging es die an? Im Gegenteil, dieses staatserhaltende Institut konnte und mußte ihm die Verletzung seiner Familienpflicht verübeln.
Ein Detektiv? Welcher Kulturmensch schaut heute in fatalen Situationen nicht zu diesen Sternen am großstädtischen Nachthimmel empor? Es gab Namen, besser gekannt als die der größten Gelehrten. Sherlock Holmes, Stuart Webbs. Aber es waren Helden, deren Taten wohl das ganze Volk bewunderte, die gefilmt in den Herzen der Deutschen weiter lebten, aber sie waren sagenhaft, wie Achill und Hektor. Die wirklichen Detektive, deren Offerten in den Zeitungen standen, waren nicht so edel und nicht so kühn; die stiegen nicht an Blitzableitern empor, um anzügliche Briefe zu stehlen.
Nee – mit Detektivs war's auch nichts.
Was sonst? Nur kühl und logisch denken! Einen Freund ins Vertrauen ziehen, der die Person durch Güte, durch List zur Herausgabe der Papiere veranlassen konnte? Ja – das war das Richtige, das Einzige, was helfen konnte. Denn ein reumütiges Geständnis vor Tine? Einfach – unmöglich!
Nicht als ob – natürlich davon war keine Rede mehr – nicht als ob eine zärtliche Liebe dadurch zerstört worden wäre, aber etwas Anderes, Wertvolles hätte sein Ende gefunden. Klementine sah zu ihm auf, und dieses Ideal, das ihr, der Guten, in sechsundzwanzig Jahren erhalten geblieben war, das durch die Stürme des Lebens et cetera ... ja, das mußte ihr bewahrt werden.
Einem Manne nimmt die rauhe Wirklichkeit – Herr Schwalbe räusperte sich, als er diesen Satz in seinen Gedanken formte – die rauhe – jawohl! – Wirklichkeit alle Illusionen; man kann sich nicht so kinderrein erhalten, wie man möchte, man hat auch einmal und gewiß aus ehrlichem Herzen heraus diesen Glauben an dauernde Liebe, an Treue gehabt, aber dann kam – tja, was kam? – eben die Wirklichkeit, die rauhe. Man denkt sich das so: man steigt am Hochzeitstage mit der Gefährtin in ein rosenumkränztes Boot; es treibt hinaus auf spiegelglatter Fläche; sie kräuselt sich, leichte Wellen bringen das Boot zum Schaukeln, aber der Mann sitzt am Steuer und hält es mit nerviger Hand. Dann kommen die Stürme, der Wind zerfetzt die Segel, aus der Tiefe herauf wirbeln die Strudel der Leidenschaften, das kocht und zischt, und schäumende Wogen schlagen über Bord. Endlich kommt man in den Hafen, verwittert, zerzaust, das wackere Boot hat Wunden, die Rosengirlanden sind längst weggespült, doch die Gattin sitzt lächelnd im Schiffe, sie hat, Gott sei Dank, von den schlimmen Stürmen nichts gemerkt, vertrauensvoll sah sie nur immerzu auf den Mann am Steuer. Tja – und dieses Vertrauen zerstören? Nie!
Es blieb nur der bewährte Freund, der helfen mußte.
Justizrat Pillkuhn? Der Mann hatte Erfahrung und kannte das Leben, das uns nicht kinderrein erhält, aber er war ein Spötter. Wie würde er ihm mit höhnischem Behagen allerlei vorhalten! Schwalbe hatte nicht selten mit ihm über sittliche Anschauungen gestritten, und Schwalbe hatte die höheren gegen die ätzenden Bemerkungen des Justizrates verteidigt. Worte – und Taten. Er sah den kleinen, dicken Herrn grinsen, er hörte ihn sagen: »Na also, da haben wir wieder einmal einen Cherusker. Aber so seid ihr, in Phrasen eingesponnen. Wenn ihr bloß eure Nebenmenschen anlügen würdet, das hätte 'n Sinn, aber ihr schwindelt euch selber an.« Nein, an Pillkuhn konnte man sich nicht wenden. Stadtrat Doege? Der hatte öfter mit ihm Schulter an Schulter für das gestritten, was einem trotzdem und alledem heilig bleiben mußte, selbst wenn die rauhe Wirklichkeit et cetera – –
Aber war der Mann so, dann konnte er für diese Dinge kein Verständnis haben, noch weniger eines zeigen.
Hagemann, – natürlich der alte Fritz Hagemann war der Rechte. Der nette, joviale Kerl würde ihm auch sicher den Gefallen tun. Er dachte beinahe zärtlich an den dicken Fritz, der so dröhnend lachen konnte, der immer guter Laune war, und er machte sich Vorwürfe, daß er ihn in den letzten Jahren vernachlässigt hatte. Wo wohnt er wohl jetzt? Schwalbe ging in einen Laden und sah im Adreßbuch nach. Immer noch in der Jacobistraße, Ecke Inselstraße. Schwalbe nahm sich eine Droschke. Unterwegs überlegte er, wie er dem Jugendfreunde die Sache beibringen sollte. Am besten frischweg mit burschikosem Einschlag. »Junge, Junge, hör' mal ...« und so weiter. Das linke Auge zukneifen. »Verfluchter Kerl, was?« Der Wagen hielt, und Schwalbe stieg leise vor sich hinpfeifend die Treppen aufwärts. Ein Mädchen öffnete, eine dralle Unschuld vom Lande, eine, die man gerne in die Backen zwickt. Im Salon mußte er warten.
Endlich Schritte. Schwalbe setzte zu geräuschvoller Herzlichkeit an, als die Türe aufging. Aber das war doch gar nicht der fidele Fritz, das war ein grämlich blickender Herr, dessen rechter Fuß in einem Filzschuh steckte.
»Nanu, was ist los mit dir?«
»Nischt mehr, das siehste doch. Das verfluchte Podagra ...«
Schwalbe machte die scherzhaften Bemerkungen, die man Gichtleidenden zuteil werden läßt, und ging zum Bedauern über, als der Patient seinen Schmerzen keine spaßhafte Seite abgewinnen wollte. Er empfahl sich rasch, und sein Herz war voll Bitterkeit. Was ist Freundschaft? Was ist sie, der man so viele Abende opfert, eigentlich wert? Nun, da er der Hilfe bedurfte, konnte er sie bei keinem der Männer finden, mit denen er so viele biedere Händedrücke getauscht hatte.
In solchen Momenten empfindet der Mensch die Nichtigkeit eingebildeter Werte. Aber was nun? Zu Verwandten gehn? Schwager Wilhelm? Nich in die la mäng! Der würde es bloß herumerzählen. Es war schon so. Das Leben brauchte nur einmal seine ernste Seite hervorzukehren, dann stand man allein.
Fünfuhrtee bei Frau Schwalbe. Heydenhauß war da mit Frau und Tochter, dann Frau Rösicke und Fräulein Pillkuhn, die Tochter des Justizrates, eine talentvolle Kunstgewerblerin. Man sprach von allem Hohen und Schönen, von Reinhardt und von Moissi, als die Türe aufging und Papa Schwalbe eintrat. So was Seltenes! Und tatsächlich sagte er mit einem milden Lächeln zu den Anwesenden, daß diese Dämmerstunden im eigenen Heim das Behaglichste wären, was er kenne. Tine schenkte ihren eigenen Gemütswallungen so wenig Beachtung, daß sie über die des Gatten nicht nachdachte, und Hanna war sich bereits im klaren; vielleicht hätte sie eine überraschende Antwort gegeben, wenn nicht die Gäste dagewesen wären.
Und so strömte Schwalbe von Güte über und von Interesse am Kleinsten, was sonst nur Damen tiefer berührt. Er verfolgte mit betonter Aufmerksamkeit ein Gespräch, das sich um die neuesten Hüte drehte, er forderte Tinchen auf, ein Modell, von dem sie schwärmte, ohne langes Besinnen zu kaufen, und er war zart, weich und milde.
Hanna faßte ihren Erzeuger scharf ins Auge und bemerkte, daß er beim Ton der Wohnungsglocke in Unruhe geriet und ängstlich nach der Tür hinhorchte; auch bestand zwischen ihm und Rieke ein heimliches Einverständnis. Das Mädchen machte mit Kopfschütteln und mit Blicken beruhigende Gesten, wenn sie der schuldbewußte Greis ängstlich anstarrte. Papa war wirklich ein schlechter Schauspieler; vor den geschärften Augen der Jugend hielten seine kümmerlichen Mittel nicht stand. Wenn er um Zucker bat, hatte er einen Tonfall – gräßlich! Und dieser Augenaufschlag! Und wenn er Mama zuflüsterte, daß er noch ein Täßchen vertragen könne, war es, als wenn er ihr ein süßes Geheimnis anvertraue. Die Gäste mußten baff sein über dieses konservierte Familienglück. Ob sie merkten, wie rührselig der Alte war? Er hatte fortwährend Tränen in der Stimme; hoffentlich glaubten sie, daß er vor einem Schnupfen stehe. Als sie gingen, kam das Wunderbare. Papa fragte flötend, ob sie, Mama und Hanna, den Abend daheim zubrächten, es wäre doch zu gemütlich, wenn man beisammen bliebe. Als sich das zufällig so traf, tat er so vergnügt, als wenn Christbescherung wäre.
»Komm mal, Rieke« sagte Hanna im Flur draußen zum Mädchen und zog es in eine Ecke. »Was hat dir Papa für'n Auftrag gegeben?«
»Der gnädche Herr?«
»Ja. Tu nur nich so erstaunt und besinn dich nicht lang auf 'ne Lüge ...«
»Ich weiß aber doch gar nich ...«
»Wenn du mir's nicht sagst, schicke ich dich nie mehr abends weg, und dann kann dein Unteroffizier lange an der Ecke warten.«
»Ochott, gnädches Fräulein, nu sein Sie nich gleich böse, ich sage es Ihnen doch schon. Der gnädche Herr hat befohlen, wenn 'n Brief im Kasten liegt oder wenn 'n Brief abgegeben wird, den soll ich'n gnädchen Herrn jeben, und wenn auch die Adresse an die gnädche Frau is ... Und nu weeß ich nich, soll ich ...«
»Natürlich sollste. Es ist 'n Krankheitsfall in der Familie, und Mama soll nicht erschrecken. Aber siehste, wie ich dir's gleich angemerkt habe?«
»Das gnädche Fräulein sieht auch wirklich allens ...«
Und nun saß Herr Schwalbe nach dem Abendessen, dessen Traulichkeit für einen Film hingereicht hätte, in seinem Studio, oder wie man den Raum nennen will, in dem viele unbenützte Bücher standen. Er brütete vor sich hin, als sich eine Hand auf seine Schulter legte. Hastig wandte er sich um.
»Hanna?«
Sie sah ihm klar und mitfühlend in die Augen.
»Bist du arg in der Patsche, Papa?«
»Was soll das heißen?«
»Ich meine, ob dir sehr viel an dem Briefe liegt, den du abfangen willst?«
»Hör' mal, ich bin gewiß kein strenger Vater gewesen, und ich habe dir viel Freiheit gewährt, aber gewisse Schranken ...«
»Merkwürdig, wie papieren ihr alle sprecht ...«
»Wer ihr?«
»Die ältere Generation ...«
»Hanna, was hast du für 'n Fimmel? Du bist wohl brustkrank?«
»Schon besser. Aber ich will gar nichts, als dir helfen.«
Schwalbe sah seine Tochter an. Abgesehen davon, machte die den Eindruck eines aufgeweckten Mädchens, das heißt, abgesehen davon, daß sie sein Kind war, und daß er sich von der Idee väterlicher Überlegenheit nicht sofort losreißen konnte. Fast hätte er sie hilfesuchend angesehen, da besann er sich noch auf seine Erzieherpflicht.
»Du sollst nich so burschikos sein. Das wirkt ab und zu ganz nett, aber ...«
»Gegenwärtig handelt es sich nicht um mich. Du kannst mir später gute Lehren geben, wenn du deine Position wieder mehr befestigt hast.«
»Du bist komisch ...«
»Und du warst tragisch, den ganzen Nachmittag und Abend. Damit könntest du dich verraten ...«
»Ver…«
»…raten. Jawohl. Darf ich mal ganz offen mit dir reden?«
»Du scheinst nicht erst auf meine Erlaubnis zu warten ...«
»Du willst einen Brief auffangen, den du zu fürchten hast. Warum, das läßt sich ja denken ...«
»Wie kommst du dazu ...?«
»Durch deine Angst, die du recht ungeschickt zeigst. Ich kann dir helfen beim Vertuschen, ich kann dir vielleicht einen Rat geben ...«
Herr Schwalbe sprang auf und ging im Zimmer auf und ab.
Es war doch wirklich ... ne, so was von Situation war noch nicht dagewesen. Er blieb stehen und sah sich Hanna beinahe feierlich an.
»Sag' mal, vergißt du ganz, daß ich dein Vater bin?«
»Eben nicht. Glaubst du, ich würde einem fremden alten Herrn meine Hilfe anbieten?«
Das leuchtete ein, das war zwingend. Und das kluge Mädchen fragte dann ruhig, wie ein behandelnder Arzt: »Kompliziert ist's wohl nicht? Das Übliche?«
Schwalbe gab jeden Widerstand auf. Nun gut, er war nicht mehr Ehrfurcht heischender Erzeuger, er war Patient. Die Möglichkeit, sich endlich aussprechen zu können, erleichterte ihn.
»Es ist furchtbar, Hanna! Es ist so, daß ich mich frage, wie ich überhaupt weiterleben kann, wenn ...«
Die junge Dame behielt ihren gebrochenen Vater im Auge.
Er fühlte sich offenbar zur Unnatur verpflichtet, der Moment gebot es. Er hätte geglaubt, daß er gegen die Schicklichkeit verstoßen würde, wenn er die Tatsachen nüchtern erzählte; er fand, daß zu derlei Bekenntnissen ein Ausbruch von Zerknirschung gehöre, aber er spielte ihn herzlich schlecht, ganz alte Schule. Er stützte seine kahle Stirne auf die Hand, er sprach dumpf, er rollte die Augen.
»Weißt du, Kind, es gibt Momente im Leben, wo einem alles ... wo man nicht mehr weiß, wie ...«
Das Schlimme war, daß Schwalbe nicht mehr wußte, wie er fortfahren sollte. Eine zweifellos tüchtige Redensart brach ihm in der Mitte ab, und als er versuchte, ein erträgliches Ende an sie hinzuflicken, begegnete er dem forschenden Blick seiner Tochter und konnte nicht mehr weiter.
»Man frägt sich, soll man unter diesem Drucke noch weiterleben, oder gibt man es auf und bricht unter der Last zusammen ...« sagte er nun und war froh, den Satz anständig gerundet zu haben.
Hanna wollte nicht, daß er sich zu stark abmühte, und fragte knapp: »Hat sie Briefe von dir?«
Sie! Wie das klang! So schmucklos!
Man hätte eine hübsche Periode darum hüllen müssen, aber Schwalbe nickte nur wehmütig.
»Wie du so was machen kannst! Dieses Mitteilungsbedürfnis in deinem Alter, weißt du ...«
»Ich weiß, es war unvorsichtig und ...«
»Stillos. Gefühle mit Tinte sind immer gräßlich, und erst so was ...« Hanna sah streng aus, und ihr Mund verzog sich unter der Stupsnase zu einem Ausdrucke des Abscheues.
»Natürlich sind es Alterserscheinungen, aber erzähl' doch mal, damit ich mir ein Bild machen kann.«
»Ich – dir?«
»Das Nötigste bloß. Auf Details verzichte ich.«
Schwalbe sah verschüchtert auf seine Tochter; sie wuchs vor seinen Augen.
»Tja ... erzählen? Du kannst dir doch wohl nicht vorstellen, was ich dabei empfinde. Es gibt Momente im Leben ... na ja. Also in großen Umrissen ... Gott! Wenn ich so zurückdenke, dann kann ich selbst nicht verstehen, oder ich kann es doch wieder verstehen. Man hat Tage ... soll ich sagen, man ist empfänglicher, empfindsamer? Kurz, eine südländisch aussehende Dame ...«
»Dame?«
»Dame mit dem Reiz des Fremdartigen. Außerdem Künstlerin ...«
»Tingeltangel?«
»Nein! Kabarett ...«
»Ach so, man macht jetzt da Unterschiede ...«
»Wirklich Künstlerin, Hanna. Eine Diseuse von Ansehen, auch in der Presse als ganz bedeutend anerkannt. Na ja ... ich konnte also bemerken, daß sie Interesse gewann ...«
»An dir?«
»Gewiß, an mir, aber du darfst mich nicht immer unterbrechen; ich weiß nun nicht mehr ...«
»Sie gewann Interesse an dir ...«
»Kurz und gut, ich hatte ihren Vortrag bewundert und ich sagte ihr das, es kam zur Aussprache – Gott! Ich bin gewiß nicht der Mann, der gewisse Dinge frivol auffaßt. Im Gegenteil, aber – na ja ...«
»Na ... ja.«
»Wie meinst du?«
»Ich meine, wir nehmen die Tatsache als vollendet an. Was war dann?«
»Wann?«
»Nach deinem Siege über deine Grundsätze?«
»So kann ich nicht mit dir sprechen, Hanna. Nein! Es kommt mir sonderbar genug vor, daß ich mit dir ein solches Thema überhaupt verhandle, aber wenn ich mich dazu zwinge, darfst du nicht diesen ... diesen leichten Ton anschlagen. Dazu ist die Sache zu ernst und zu schwerwiegend. Ich habe furchtbar darunter gelitten ...«
»Armer Papa!«
Er stutzte, aber sie sah ihm innig in die Augen, und er griff nach ihrer Hand. »Glaub' mir, ich war lange nicht mehr froh, sehr lange nicht mehr. Das alles hat wie ein schwerer Druck auf mir gelegen, aber jetzt, weil ich mir das herunterrede, bin ich erleichtert ...«
»Wie lange dauerte es?«
»Du meinst, die ...?«
»Der Druck.«
»Hm ... tja ... die Sache? Zwei Jahre ...«
»Du hast lange gelitten. Und das hast du ihr geschildert? In deinen Briefen?« Schwalbe sah mißtrauisch auf seine Tochter hin. Sie blieb ernst.
»Nein, das habe ich nicht geschrieben.«
»Sondern?«
»Gott, das weiß ich wirklich nicht mehr so genau, außerdem ...«
»Aber darauf kommt doch alles an. Wenn man aus den Briefen deinen Schmerz und deine ehrliche Reue herausliest, ist es doch gar nicht schlimm ...«
»Ich habe keine ruhige Stunde mehr. Wenn es läutet, schwitze ich vor Angst, wenn ich Schritte im Flur höre, leide ich Qualen, ich traue mich nicht aus dem Hause hinaus ...«
»Das sah ich doch alles ...«
»Aber dieser Zustand ist unerträglich, er zerreibt mich.«
»Ich würde an deiner Stelle ruhig mit Mama sprechen.«
»Mit ...? Un – mög – lich! Das ist ja das, was ich unter allen Umständen vermeiden muß. Unser Frieden, unser Glück wäre für immer zerstört.«
»Ich weiß nicht. Ich kann mir nicht denken, daß sie die Sache so tragisch nehmen würde.«
»Vielleicht ..., ich gebe zu, daß ihr Temperament ... daß unser Zusammenleben ... aber trotzdem, du beurteilst das falsch, absolut falsch.«
»Habt ihr früher schon mal ...?«
»Eben nicht! Gerade deshalb ist es so unmöglich. Komm, setz dich mal! Wir müssen darüber doch ausführlicher sprechen.«
Hanna setzte sich in einen bequemen Stuhl und schlug ein Bein über das andere. Schwalbe ging in einen sanften, väterlichen Ton über.
»Siehst du, Kind, die Ehe ... tja! Ich möchte dir keine Illusionen rauben, aber du bist klug, und es ist vielleicht immer gut, wenn man klar sieht, wenn man Einblicke gewinnt. Also siehst du, die Ehe ... das ist nicht so, wie man sich's in rosaroten Farben ausmalt zuerst und vorher, und es ist vor allem nicht so, wie sich's junge Mädchen träumen. Gewiß ist es zunächst mal Liebe, stürmische Liebe, ein Ideal und ...«
Hanna lachte. Ausgelassen und silbern.
»Wie kannst du in einem solchen Moment ...?«
»Nimm mir's nicht übel, aber du bist so wahnsinnig echt!«
»Was heißt das?«
»Diese Gefühlsseligkeit, die du hast! Sie paßt für jede Lebenslage, sogar für so was. Ich glaube, du kommst dir in der Situation noch 'n bißchen interessant vor.«
»Ich muß sagen, Hanna, ich hätte von dir etwas anderes erwartet ...«
»Wirklich? Ich hätte mit dir darüber jammern sollen, daß dir das Leben den reinen Kinderglauben genommen hat?«
»Du hättest ...«
»Eine sehr begreifliche Sache unbegreiflich finden sollen. Aber du mußt entschuldigen, mich haben die Redensarten noch nicht so unehrlich gemacht.«
»Wie mich, willst du sagen?«
»Wie euch alle. Unser ganzes Milieu ist verlogen, aber um Gottes willen keine ernste Aussprache! Du wolltest mir erklären, warum Mama nichts erfahren darf ...«
»Ich wollte ..., das heißt, ich weiß nicht, ob ich das jetzt noch kann.«
»Von rosaroten Träumen ...«
»In dem Ton geht es einfach nicht. Hanna! Wenn ich dir in einem so tiefernsten Moment Vertrauen schenke, wenn ich dir tatkräftig mein Innerstes ... und dann dieser frivole Spott ... Ist dir denn nichts ernst?«
»Das da? Du hast doch bloß ein Interesse daran, daß man es nicht zu ernst nimmt. Aber reden wir von Mama; du willst deinen Nimbus nicht zerstören ...«
»Ich will, daß sie ihr Vertrauen nicht verliert; es ist notwendig, daß eine Frau zu ihrem Manne aufblickt.«
»Aufblickt ... hm ...«
»Mama tut es ... o ja!«
»Ich weiß nicht. Wenn es mit irgendeiner Anstrengung verknüpft ist ...«
»Laß doch die Arme! Sie hat es nicht verdient, daß du dich über sie mokierst. Es ist traurig genug, daß über unserm Glück gewissermaßen ein Damoklesschwert hängt, daß vielleicht morgen schon unser Frieden vernichtet ist. Sie blickt zu mir auf, das ist wahr. Niemals hat sie eine Ahnung beschlichen ...«
»Machst du dir ein Verdienst daraus?«
»Ich mache mir keines daraus, denn ich weiß gut, wie schwer ich gefehlt habe, aber ich weiß auch, daß ich ihr diese bitterste Enttäuschung ersparen muß.«
»Du kannst doch nicht monatelang diese Postsperre durchführen.«
»Das sage ich mir ja auch! Es ist fürchterlich ... Nach vierzehn Tagen, drei Wochen kann die Katastrophe eintreten ...«
»Dann muß man eben direkt eingreifen ...«
»Dir–ekt ... Wie denn? Natürlich muß man was tun, darüber zermartere ich mir ja das Gehirn.«
»Ich werde Fritz fragen.« – »Wer ist Fritz?«
»Liebenow. Ein junger Anwalt, den ich bei Harders kennen lernte.«
»Du kannst doch nicht einem fremden Menschen so was anvertraun!«
»Er is nich so fremd.«
»Ach so ...? Ich muß sagen, diese Art von Mitteilung ...«
»Es ist noch nichts mitzuteilen ...«
»Und du findest, angenommen, daß es mal dazu käme, du glaubst, daß es eine glückliche Einführung in die Familie ist, wenn der junge Mann den Respekt vor seinem künftigen Schwiegervater verliert?«
»Er ist 'n sehr vernünftiger Mensch und wird das richtig einteilen. Aufblicken wird er ja nicht zu dir ...«
»Sehr liebenswürdig. Und von mir verlangst du, daß ich mich gewissermaßen mit gebundenen Händen diesem jungen Herrn überliefere.«
»Verlaß dich auf mich! Ich würde ihn nicht empfehlen ...«
»Wenn du nicht Nebenabsichten hättest.«
»Auch nich; das stimmt. Aber wenn es einen Ausweg gibt, findet er ihn. Er ist sehr gerissen.«
Schwalbe seufzte.
»Ich muß wohl ... ich habe gar nicht mehr die Kraft zum Widerstand. Der heutige Abend, diese Unterredung ... auch deine Art, Hanna, das hat mich zerbrochen.«
Bei Rechtsanwalt Liebenow, Charlottenstraße. Der junge Herr war auf dem Sofa eingeschlafen, in der unbequemen Stellung, die Muschelgarnituren erzwingen. Das Genick schmerzte ihn, als ihn seine Hausbesorgerin mit der Nachricht weckte, daß ihn eine junge Dame geschäftlich sprechen wolle.
Er ordnete seinen Anzug, stäubte Zigarettenasche von der Weste ab.
»Eine junge Dame? Mandantin oder ...?«
Die Wirtschafterin zog die Achseln hoch. Wußte man's?
In diesem Augenblick trat Hanna ein.
»Gnädiges Fräulein, Sie?«
»'n Tag! Störe ich?«
»Nicht im mindesten; ich hatte nur einen Fall zu bearbeiten ...«
»Ist es der?« Sie deutete auf den rot eingebundenen Roman, der am Boden lag.
»Na, wenn Sie schon alles sehen, aber was führt Sie hierher?«
»Eine geschäftliche Angelegenheit.«
»Eine ...?«
»Ja. Sie sind das wohl nicht gewohnt, aber ich komme wirklich, um Ihren Rat zu erbitten.«
»Ich dachte nur, daß gerade Sie ...«
»Ich komme nicht in eigener Angelegenheit. Es betrifft einen Bekannten, oder sagen wir Verwandten ...«
»Sagen wir Verwandten. Darf ich bitten?«
»Sie werden feierlich, wie 'n Zahnarzt, aber auf das Sofa setze ich mich doch lieber nicht. Sie haben mit den Schuhen darauf gelegen.«
»Scharfsinniges Mädchen ... dann auf den Stuhl.«
Hanna lehnte sich zurück, nahm eine Zigarette an, klopfte sie sachkundig auf die Handfläche und rauchte.
»Also?«
»Hm ... ja ... man kann bei Ihnen ziemlich weit ausholen, nicht wahr? Von Mandanten wird man nicht gestört?«
»Nicht sehr ...«
»Ich werde es Ihnen als Märchen erzählen. Es war einmal ein älterer Herr, gut situiert, passabler Familienvater, sonst wie alle andern. Natürlich machte er das mit, was passable Familienväter immer noch als spaßhaft betrachten. Wenn davon die Rede ist, kneift man ein Auge zu. Herr Justizrat verstehen?«
»Vollkommen.«
»Na, und da verirrte er sich mal, es muß ja nicht gerade im Walde gewesen sein, und er kam zu einer bösen Hexe, die ihn längere Zeit nicht los ließ ...«
»Darf ich weiter erzählen?«
»Gewiß; ich sehe dann, ob Sie Kombinationsgabe haben.«
»Also, die Hexe wollte ihn aufessen und rupfte ihn, aber da suchten ihn seine Angehörigen, die Angst um ihn bekommen hatten ...«
»Nein, er kam selbst los ...«
»So? Gewöhnlich geht es anders im Märchen. Aber wenn er sich selber frei machte, dann suchte ihn jetzt die böse Hexe ...«
»Gewiß. Er hat einen Talisman bei ihr gelassen, mit dem sie ihn zurückzaubern kann.«
»Der alte Esel hat ihr was Schriftliches gegeben?«
»Ja. Das heißt, der alte Esel hat ihr Briefe geschrieben.«
»Sonderbar!«
»Ist das nicht immer so bei Anfängern und alten Herrn?«
»On revient toujours ... aber das meine ich nicht. Ich finde es sonderbar, daß eine so kluge Tochter einen so naiven Papa hat.«
»Gott! das liegt vielleicht in der Natur der Sache ...«
»In der Natur der Sache ... möglich. Aber ich wundere mich, daß man immer wieder die gleichen Fehler macht.«
»Eben. Wozu geht man in französische Lustspiele, wenn man nicht lernt, wie man ohne Gefahr seine Frau betrügen kann?«
»Sie haben so recht, gnädiges Fräulein. Das Märchen hat natürlich noch keinen Schluß?«
»Nein; wir sollen den Talisman zurückbringen.«
»Wenn man erst wüßte, wo die Hexe ist.«
»In der Bülowstraße 26. Ilka von Törkely ...«
»Uff!«
»Was haben Sie?«
»Ein Bekannter von mir, oder sagen wir, ein Verwandter ...«
»Kennt sie? Gut?«
»Nee, flüchtig. So von der Bühne her. Aber das gäbe doch die Möglichkeit, mal zu sondieren ...«
»Wenn nur dann nicht Ihr Verwandter in den Käfig gesperrt wird?«
»Nee, der ist nicht alt genug.«
»Sind Sie sicher?«
»Absolut. Dem jungen Mann fehlt jede Naivität.«
»Wir wollen es hoffen, und ich dachte auch gleich, daß Sie nach der Richtung hin irgend etwas ausfindig machen. Wenn juristische Erfahrung etwas helfen könnte, wäre ich natürlich zu Justizrat Pillkuhn gegangen.«
»Natürlich. Also dann lasse ich mal meinen Verwandten los ...«
»Ja ... und noch etwas. Machen Sie sich Papa gegenüber etwas wichtig. Schicken Sie Rohrpostbriefe, Depeschen, eingeschriebene Briefe!«
»Gerne. Darf ich fragen, warum?«
»M ... m ... Sie scheinen naiver zu sein als Ihr Verwandter. Ich möchte, daß Sie Anspruch haben auf Papas Dankbarkeit ...«
»Ach so! ... Hanna!«
»Nich so stürmisch! Erst müssen Sie den Talisman herbeibringen und mir Gewißheit geben, daß Ihr Verwandter nicht von der Hexe eingesperrt wurde. Ich möchte nicht, daß das Scheusal in der Familie bleibt.«
»Ich garantiere für ihn.«
»Schön. Übrigens, wie lange sitze ich nun schon bei Ihnen?«
»Jedenfalls zu kurz.«
»Nee, ganz sachlich! 'ne halbe Stunde, und es hat noch nicht 'n einziges Mal geklingelt. Sie haben scheinbar gar keine Mandanten?«
»Nur 'n paar. Aber reizende.«
»Danke. Ich wollte Ihnen nur sagen, wenn Sie sich schon wirklich verheiraten, werden Sie sich bei Ihrer Frau nicht mit dringenden Geschäften ausreden können. Und nun adieu, Herr Justizrat.«
»Adieu ...!«
»Nein ... nein! Bitte ... keine unpassenden Versuche!«
Rentier Schwalbe hatte einen Nervenkollaps. Man muß sich das nur richtig vorstellen. Seit drei Tagen saß er auf der Lauer, fuhr bei jedem Glockentone zusammen, horchte auf Schritte, Stimmen, lebte wieder auf und sank wieder zusammen. Drei Tage saß er beim Tee, drei Abende beim Essen. Es war eine Katastrophe für seine Seelenstärke, aber auch für Tinchens Phlegma. Dieses blieb siegreich. Die zartest hingehauchten Flötentöne ihres Mannes, sein Erbleichen, sein Augenspiel mit Rieke, sein Verstummen und dann wieder seine überquellende Beredsamkeit fielen ihr nicht auf. Schwalbe aber erlebte Fürchterliches. Am Morgen des dritten Tages kam ein Telegramm, das er mit zitternder Hand öffnete. »Habe Aussicht, Klarheit in die Situation zu bringen. Liebenow.« Nachmittags kam eine weitere Depesche: »Wichtige Erkundigungen eingeleitet. Liebenow.« Abends brachte die Post einen Rohrpostbrief, als die Familie bei Tische saß.
Es war ein entscheidender Moment. Rieke eröffnete ein Gebärdenspiel, als wenn sie einen Vortrag im Taubstummeninstitut halten müßte. Sie rollte die Augen, blinzelte, klappte ihr Maul zu dem lautlos gesprochenen Worte: »Brief« auf und zu, deutete auf ihre Tasche, hustete, räusperte sich, als wollte sie eine Bierschnecke auf den Teppich spucken, und ging nicht mehr aus dem Zimmer.
Schwalbe saß auf Nadeln, winkte dem dämlichen Trampel heimlich, aber sehr wütend ab, zwang sich zu einem Lächeln und fragte Tinchen, warum sie nie mehr ins Theater gehe. Tinchen hielt schläfrig die Augen auf ihren Teller gesenkt.
»Ist Moi ...?«
»Ist Moissi schon wieder zurück?« wollte sie fragen, aber sie gab es mitten drin auf. Hannchen, die die Situation beherrschte, brach in lautes Lachen aus und half ihrem Papa. »Hast du das Abendblatt?« fragte sie ihn. »Vielleicht steht etwas in den Theaternachrichten.«
Er sprang diensteifrig auf und eilte hinaus: Rieke, der er einen drohenden Wink gegeben hatte, sauste hinter ihm drein. Auf dem Flur fuhr er sie mit gedämpfter Stimme an: »Was ist los?«
»'n Eilbrief, gnädcher Herr.«
»Brüll nicht so, Bähschaf! Und wenn du mir ein Zeichen machst, stell' dich nich so dämlich an! Mit dir könnte man Wände einrennen.«
»Der gnädche Herr sagte doch ...«
»Ach was ..., wo ist der Brief?«
Sie suchte ihn ziemlich lange in der Tasche und gab ihn dann zerknittert dem ungeduldigen Herrn, der damit in sein Studio eilte und unterwegs ihr noch zurief:
»So'n Dusseltier! So was von tranig!«
Drinnen riß er den Brief auf. »Sehr geehrter Herr Schwalbe! Meinen energischen Bemühungen ist es gelungen, schon für heute eine Unterredung mit der Gegenpartei zu erzwingen. Alles wird davon abhängen. Sie können versichert sein, daß ich mit der nötigen Vorsicht, dabei aber auch mit der in solchen Fällen unerläßlichen Rücksichtslosigkeit vorgehen werde. Morgen weiteres. Hochachtungsvollst! Liebenow, Rechtsanwalt.«
»Hanna, ich weiß nicht,« sagte Schwalbe eine halbe Stunde später zu seiner Tochter. »Der junge Mann scheint allerdings sehr eifrig zu sein, aber mit Ungestüm ist unter Umständen mehr geschadet wie genützt.«
»Wenn er den Fall schon mal angenommen hat,« erwiderte sie, »kann er doch gar nicht anders. Entweder – oder, ist seine Devise, und ich schätze gerade das so sehr an ihm.«
»Du scheinst sonst noch einiges an ihm zu schätzen, und eigentlich ist es sehr traurig, daß ... tja ... na eben ... ich meine, daß sich gerade aus so 'ner Sache Zusammenhänge ergeben zwischen dir und einem jungen Mann, der eventuell ... na ja ... Gewöhnlich stellt man sich Beziehungen, die zu einem wahren Lebensglück führen sollen, anders vor.«
»Die Sache ist nicht von mir und nicht von ihm. Außerdem, was helfen die schönsten Beziehungen im Anfangsstadium? Zum Beispiel, zwischen Mama und dir werden sehr solide Zusammenhänge ...«
»Wir wollen darüber nicht sprechen. Es sieht so aus, als ob du eine Waffe gegen mich in der Hand hättest, und, weißt du, diese Vorstellung ist fürchterlich. Es ist Unnatur ...«
»Gar nich. Es ist bloß natürlich, daß ich dir helfe ...«
»Nee, Hanna, nee. Ich will nich näher darauf eingehen. Ein Kind, noch dazu 'ne Tochter, die ihren Vater ... ne ... was bleibt da eigentlich noch von kindlicher Ehrfurcht?«
»Nich viel, Papa, aber wenn es dich beruhigt, weißt du, es war auch vorher nischt mehr damit ...«
»Sehr nett, muß ich sagen ...«
»Du warst immer auf dem Podium, und da beobachtet man unwillkürlich schärfer, wenn jemand so oben steht. Und das verträgst du nicht, ganz offen gestanden, aber du warst und bist 'n gemütlicher alter Herr und sehr sympathisch, wenn du nicht die Toga um die Schultern schlägst ...«
»Unerhört ... unglaublich, was du alles sagst, seit – na ja – seit dem Abend ...«
»Wir sprechen kameradschaftlicher miteinander. Findest du das so schlimm?«
»Aber daß das ... daß so was ... wollen wir mal sagen, Kameradschaft begründen soll, nee, Hanna, es erschüttert mich doch.«
»Erschüttern ist eins von den Wörtern, die du dir absolut abgewöhnen mußt. Vielleicht ist es dir 'n bißchen peinlich, so wollen wir sagen, aber das überwindet man, und ...«
»Es hat geläutet ...«
»Gott im Himmel! Schon wieder, und mitten in der Nacht ...«
»Wart' mal, ich sehe rasch hinaus ...«
Hanna kam mit einem dringenden Telegramm zurück.
»Vermutlich wieder von diesem ... von deinem Anwalt ...«
»Vorerst von deinem, aber lies erst!«
Schwalbe riß die Depesche auf. »Sonderbarste Verwicklung. Bitte morgen früh um Ihren Besuch. Liebenow.«
»Verwicklung! Du wirst sehen, nu geht die Sache erst recht schief. Sonderbarste Verwicklung ... Ich hatte recht mit meiner Ahnung. Der junge Mensch hat die ganze Sache verkuhwedelt, hat die Person vor den Kopf gestoßen, und ich sitze nun definitiv in der Tinte ...«
»Warte es doch ab! Morgen früh gehst du zu ihm und hörst, was er sagt ...«
»Ich weiß es schon heute ... ach, Hanna!«
Otto Schwalbe sah den jungen Rechtsgelehrten mißtrauisch an. In der Tat, er machte eine würdige, ernste Miene, aber irgendwo saß doch das verfluchte Lächeln, mit dem die Jungend gewisse Alterserscheinungen beobachtet. Ganz gewiß, es saß irgendwo, auch wenn man es nicht sah.
»Herr Rechtsanwalt Liebenow?«
»Jawohl ... Herr ... Schwalbe, nich wahr?«
»Rentier Otto Schwalbe. Meine ... ehem ... Tochter hat sich ... äh ... allerdings, wie ich sagen muß, ein bißchen übereilt, oder ... äh ... temperamentvoll ... an Sie gewandt, in einer Sache, die eigentlich ... ehem ...« – »Mehr die Ihrige ist ...«
»Die meinige ist ... jawohl ... jedenfalls an und für sich keine Sache für junge Damen ... Herrenabendthema, wenn ich so sagen darf. Aber da sie nun mal ... äh ... aktiv in die Sache eingegriffen und Ihnen die Abwicklung dieser ... ehem ... Angelegenheit übertragen hat, finde ich mich mit der Tatsache ab. Sie schickten mir gestern ein Telegramm ... das heißt ... mehrere Telegramme. Im letzten, das nachts ankam, depeschierten Sie so was von sonderbarer Verwicklung? Darf ich fragen, worin diese Verwicklung besteht?«
»Ich werde Ihnen ausführlich berichten ... wollen Sie nicht Platz nehmen?«
»Danke ... so ... also Sie ...?«
»Ich muß vorausschicken, einer meiner Verwandten kennt die Dame ... flüchtig natürlich ...«
»M ... Hm ... flüchtig ...«
»Er verschaffte mir unter irgendeinem Vorwand Eintritt bei Fräulein Ilka von ...« – »Sagen wir bei der Dame.«
»Bei der Dame, die übrigens bester Laune war. Nach einigen Präliminarien lenkte ich auf die Sache ein. Die Wirkung war etwas unangenehm. Die Dame geriet sehr stark aus der Kontenance ...«
»Das hat sie so ...«
»Anscheinend. Sie behauptete das Opfer eines unerhörten Vertrauensbruches zu sein ... Man hat ihr zwei Jahre lang die Illusion erhalten, daß man völlig frei, also Junggeselle sei ...«
Schwalbe räusperte sich.
»Hören Sie mal, Doktor. Glauben Sie, daß es einen Ehemann gibt, der bei ... ehem ... derartigen Affären seine Familienverhältnisse ... wie soll ich sagen ... preisgibt?«
»Natürlich nicht, Herr Schwalbe; ich bin absolut dafür, daß man bei derartigen Partien unter falscher Flagge segelt. Ich halte Vertrauen in solchen Situationen für unangebracht.«
»Mag sein. Was ich übrigens sagen und ganz besonders betonen wollte, Herr Doktor, es wäre mir aus verschiedenen Gründen sehr peinlich, sehr peinlich, wenn Sie bei mir Routine in solchen Partien, wie Sie es nennen, voraussetzten. Ich befinde mich ja Ihnen gegenüber ... tja ... das ist nun mal so ... in einer sonderbaren Stellung, als der Ältere und als Vater einer jungen Dame, die Sie kennen, und überhaupt. Natürlich habe ich nicht die Absicht, kann sie auch gar nicht haben, an dieser einen sehr unangenehmen Affäre etwas zu beschönigen, denn ... tja ... das ist nun mal so, aber ich bestehe darauf, daß Sie keine Schlußfolgerungen ziehen und etwa annehmen, daß ich fortwährend 'ne falsche Flagge bei mir habe, unter der ich segle. Es klingt vielleicht komisch, wenn ich Ihnen als dem Jüngeren sage, daß diese Partie, die ich nun mal leider gemacht habe, die einzige war, ist und bleiben wird. Das ist keine Ausrede oder Beschönigung, ich wiederhole es, so was wäre hier sehr unmotiviert und auch unangebracht. Ich konstatiere einfach die Tatsache.«
»Ich begrüße das als Anwalt, als Ihr Vertreter, Herr Schwalbe. Es ist wichtig für die Beurteilung des Falles und der Maßnahmen, die rätlich erscheinen.«
»Der Maßnahmen?«
»Ich meine bei Voraussetzung von Routine und Gewohnheit würde man gewöhnlich anders vorgehen als im Ausnahmefalle. Ich habe übrigens nach Lage der Sache bereits selbst das letztere angenommen.«
Schwalbe sah sein Gegenüber wieder sehr mißtrauisch an, aber er bemerkte nur würdevollen Ernst.
»Tja ... junger Mann, Sie können nicht bloß von einer ganz vereinzelten, sondern auch von einer geradezu unbegreiflichen Abirrung sprechen. Für mich unbegreiflich, wie für jeden, der mich und mein Leben und meine Grundsätze kennt. Ich habe in der letzten Zeit viel nachgedacht über die Möglichkeit dieses ... tja, das ist nun mal so ... dieses Geschehnisses. Ich muß sagen, sie ist mir mit jedem Tag unklarer geworden ...«
»Darf ich wieder referieren?«
»Ach so ... ja ... also Sie begegneten einer gewissen Heftigkeit?«
»Einem Wutausbruche. Ich beschwichtigte, aber die ... Dame kam mit echt weiblicher Hartnäckigkeit immer wieder auf die Idee zurück, daß sie Rache zu nehmen habe. Ich stellte ihr vor, daß sie ihre Position gefährde, wenn sie indiskret wäre, aber sie wiederholte stereotyp die Äußerung – Sie müssen entschuldigen, Herr Schwalbe –, sie wolle dem Alten ordentlich eine aufs Dach geben ...«
»Sie will also die Briefe ...«
»Das fragte ich sie auch, und nun kommt das Seltsame, sie erklärte mir auf das Bestimmteste, sie habe die Briefe bereits an Ihre Gattin geschickt ...«
»An ...?«
»An Frau Schwalbe.«
»Um Gottes willen, dann kommen sie vielleicht gerade jetzt ...« Schwalbe war aufgesprungen.
»Bleiben Sie ruhig sitzen! Nicht gestern oder heute, vor vier oder fünf Tagen sind die Briefe abgegangen.«
»Das ist Unsinn. Ich stehe seit vier Tagen Posten ...«
»Vielleicht hat das Mädchen ...«
»Ausgeschlossen; die alberne Person würde sich das nie erlauben ...«
»Oder Ihre Gattin hat die Briefe und schweigt darüber?«
»Erst recht unmöglich! Die Person hat gelogen.«
»Den Eindruck habe ich nicht. Sie freute sich ganz unbefangen über ihren Streich.«
»Sollte Tinchen ...? Aber das ist doch nicht denkbar! Allerdings Frauen können ... nein! Daran kann ich, darf ich nicht glauben. Sie war gestern noch so arglos wie je ... Auf alle Fälle muß ich Gewißheit haben.« Herr Schwalbe stürzte hinaus.
»Nanu!« sagte Hanna. »Sei nur nicht so aufgeregt, Papa! Wenn Mama etwas wüßte, hätte sie mir's gesagt.«
»Aber Rieke sagt doch, bevor ich ihr den Auftrag gegeben hätte, sei 'n dicker Brief an die Gnädige gekommen. Das war er ...«
»Wenn es nicht n' Geschäftskatalog war. Ich will mal sondieren.«
»Um Gottes willen ... um Got–tes wil–len! Wenn sich meine Ahnung bestätigt!«
Hanna ging in Mamas Zimmer.
Frau Schwalbe lag in einem Kimono hingegossen auf dem Divan und las in einem Detektivroman. Sie ließ sich in den Vormittagsstunden sehr ungern stören, und sie hätte fast ihre Stirne in Falten gezogen, als sie ungnädig fragte: »Was willst du denn?«
»Bloß mal sehen, wie es dir geht. Papa meint, du hättest gestern abend so angegriffen ausgesehen.«
»Ach, Unsinn! Du weißt, ich ...«
Hanna wußte es, daß sie ungestört lesen wollte.
»Hast du neulich nicht den Katalog von Herzog bekommen? Ich möchte ihn zu gerne sehen ...«
»Das weiß ich doch nicht ...«
»Lies nur weiter ... ich such' ihn mir schon.«
Sie trat an den Schreibtisch; oben lag der Brief nicht, in den Fächern auch nicht. Im Papierkorb? Nichts.
Sollte ihn Mama wirklich aufgehoben haben? Sie blickte zu der dicken Dame hinüber, die ihr die Breitseite zugekehrt hatte und eifrig las.
Gestörtes Glück? Nee. Stillschweigende Vorbereitungen zu einer ernsten Auseinandersetzung? Nee.
Aber die Post verliert doch nichts!
Hanna stand vor einem Rätsel. Vielleicht ging Mama am Nachmittag aus, dann wollte sie gründlicher nachsuchen.
Zufällig fiel ihr Blick auf ein Buch, das auf der Kommode lag; es war rot eingebunden, wie das, das Mama eben las.
Sie sah auf den Umschlag. Das Geheimnis der Stahlkammer, erster Band.
Hanna nahm das Buch, um darin zu blättern und dabei unauffällig im Zimmer Umschau zu halten.
Da merkte sie, daß Briefe ins Buch eingeklemmt waren, stellte sich mit dem Rücken gegen den Diwan und musterte sie. Ein paar ungeöffnete mit Firmenaufdruck, wahrscheinlich Rechnungen, ein ziemlich dicker mit schlecht geschriebener Adresse. Frau Rantje Schwalbe ... Rantje ... hm ... und in der Ecke stand: persönlich. Auch ungeöffnet. Hanna wandte sich um. Immer noch Breitseite. Da schob sie den Brief in die Tasche, legte die andern ins Buch und trällerte vor sich hin.
»Hanna!«
»Ach ja, ich falle dir sehr lästig? Den Katalog hat wohl Rieke verräumt; ich finde ihn nicht und will dich nicht länger stören. Kann ich Papa sagen, daß du wohl bist?«
»J ... ja ...«