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An einem schönen Sommerabend, als die Schwalben ungemein hoch flogen und sich mutwillig überschlugen und die Stare sich viel zu erzählen hatten und die Ochsen mit feierabendlicher Behaglichkeit recht breitbeinig einen mit duftendem Klee beladenen Wagen heimwärts zogen, kam der Kommerzienrat Schragl aus seinem schönen Landhause hervor, um im Garten zu lustwandeln.
Er legte die Hände auf den Rücken und wollte eben seines angenehmen Daseins froh werden, als er plötzlich zu straucheln anfing, umfiel und tot war.
Der schnell hinzuspringende Gärtner sah ihn schon als Leiche und stürzte mit der traurigen Meldung in das Haus.
Frau Lizzie Schragl, eine geborne Smith aus Hamburg, behielt immerhin noch so viel Fassung, um von dem Schreien der Dienerschaft unangenehm berührt zu werden und zu bemerken, daß taktlose Leute sich vor dem Gartenzaune ansammelten und neugierig auf den Ort des Schreckens hinstarrten. Sie befahl, daß der Verstorbene in das Parterrezimmer rechts vom Eingange getragen werde, und fand sich dann, als das geschehen war, dort ein und blieb die gebührende Weile mit einem vor die Augen gepreßten Taschentuche im Zimmer stehen, wankte hinaus und überließ es der treuen Köchin, alle in solchen Fällen nötigen Anordnungen zu treffen.
Die Seelnonne kam mit Fragen und Anträgen und Ratschlägen, deren geschäftliche Nüchternheit die Witwe auf das peinlichste berührt hätte, und es war in der Tat schicklicher, daß sich das ungebildete Frauenzimmer mit einer Angestellten über alle diese Dinge beriet.
Der Schreiner kam mit der Bitte, für den hochgeschätzten Ehrenbürger einen Sarg aus Eichenholz anfertigen zu dürfen, der Schneider erbot sich, in kürzester Bälde einen schwarzen Anzug herzustellen; der Totengräber teilte mit, was ihm an Essen und Trinken während der Nachtwache zukomme, der Krämer hatte passende Kerzen anzubieten, und alle diese Angelegenheiten wurden von den Dörflern in einem sachlichen Tone vorgebracht, den die gnädige Frau nicht ertragen hätte.
Sie lag in ihrem Zimmer auf dem Diwan und vergrub das Haupt in die Kissen.
Sie war noch viel zu überrascht, zu betäubt, um sich einer sanften Traurigkeit hingeben zu können.
Ihr erstes Gefühl, und es hielt noch immer nach, war das der Empörung über die Roheit dieser plötzlichen Schicksalsfügung.
Man weiß, daß der Tod, das Ende aller Dinge, einmal kommen muß, jedoch eine, wenn auch nur kurze Vorbereitung auf solche Vorkommnisse sollte man beanspruchen dürfen. Dieses zwecklose Hereinbrechen war das Verletzendste daran. Aber Schragl war auch im Leben nie eine zartfühlende Natur gewesen ... ja so ... was konnte der Ärmste dafür?
Es war ein törichter Zufall, es war das Klima, die Hitze, es war der Aufenthalt in diesem öden Dorfe, den sie nie, nie gebilligt hatte, auf dem nur Schragl mit seinem in gewissen Fällen einsetzenden Starrsinn bestanden hatte.
Wie oft hatte sie den Besuch eines englischen oder dänischen Seebades vorgeschlagen!
Aber nein! Man mußte sich in Oberbayern ankaufen, man mußte diese sentimentale Anhänglichkeit an die sogenannte Heimat über alle andern Rücksichten stellen, und nachdem man einmal dieses gräßliche Landgut gekauft hatte, mußte man Sommer für Sommer mitten unter den Bauern zubringen, alle höheren Genüsse entbehren, sich von der Gesellschaft zurückziehen ...
Ach!
Und das war nun die Folge davon. An der See wäre das doch nie passiert, jedenfalls nicht so bald, nicht jetzt!
Aber Schragl ...
Gott, der Ärmste kam doch Zeit seines Lebens nie los von der Erinnerung, daß er als Sohn eines kleinen Gutsverwalters auf dem Lande aufgewachsen war. Es war sein Schicksal, unter dem sie oft – wie oft! – zu leiden gehabt hatte ... und das nun dieses Letzte, Bitterste herbeigeführt hatte. Und wie schrecklich es war, das, und alles, was noch kommen mußte, gerade hier zu erleben!
In der Stadt hätte man doch sogleich eine würdige Aussprache mit den Freunden und Verwandten haben können, hätte Verständnis und Beihilfe gefunden, hier lebte man auf einer Insel zusammen mit Wilden, die einem fremd blieben, fremd bleiben mußten, mit denen das Zusammensein in schweren Stunden nicht weniger gräßlich war als sonst.
Aber Schragl hatte dafür, hatte für zarteres Empfinden nie, nie Verständnis gezeigt, hatte ihre Klagen sogar mit einer gewissen Ironie abgewiesen und hatte sich immer der fixen Idee hingegeben, daß er zu diesen Leuten gehöre und das rechte Behagen nur in ihrer Mitte finden könne ...
Ja so! Den Kindern mußte man telegraphieren, dem großen Verwandten- und Freundeskreise mußte man Mitteilung machen, und vor allem der Exzellenz mußte man es melden.
Es ging nicht an, den Kopf in die Kissen zu drücken und sich dieser drückenden, bleischweren Stimmung hinzugeben.
Sie lehnte sich ein wenig auf, drückte auf die Klingel und ließ sich wieder fallen.
Es klopfte, und da sie nicht fähig war, laut »Herein« zu sagen, schwieg sie und wartete, bis die Zofe unaufgefordert die Türe leise öffnete und auf den Zehenspitzen in ihre Nähe kam.
Dann erst flüsterte sie: »Fanny ...!«
»Ja ... gnä ... Frau ...« antwortete das Mädchen mit verschleierter Stimme und richtete es so ein, daß es wie verhaltenes Schluchzen klang. Unendlich müde und gebrochen, fragte Frau Lizzie: »Hat – man ... weiß man – – schon – wann ...«
Sie verstummte und ließ eine lange, dumpfe Pause eintreten.
»Weiß – – man – – – schon – – wann – – das – Begräbnis – statt – finden – wird –?«
»Ja – – gnä Frau –« Fanny paßte sich im Tone mit kaum glaublichem Takte der Stimmung an – – »Ja – gnä – Frau –« sagte sie so milde und weich und so von Schmerz durchzittert – »am Donnerstag – in der Früh um neun Uhr –«
Frau Lizzie erhob fast ungestüm ihren Kopf und fragte schärfer, als es ihre Rolle zuließ:
»Neun – Uhr!? – Was ist denn das wieder für eine – –?«
»Taktlosigkeit« wollte sie sagen, oder »Dummheit« oder »Bauernmanier« oder »tölpelhafte Rücksichtslosigkeit«. Sie sagte es nicht, sondern blickte nur ihre Zofe mit hilflosem Staunen an.
Und Fanny nickte beistimmend und schmerzlich, wie von einer neuen Härte getroffen.
»Ich habe es auch gesagt, gnä Frau, es ist doch keine Zeit für solche Trauergäste, wie wir sie haben werden, aber der Herr Pfarrer hat gesagt, es sei ohnehin spät genug für die Leute in der Erntezeit ...«
»Für welche Leute?«
»Für die Leute im Dorfe,« erwiderte Fanny und zog verächtlich die Schultern in die Höhe. »Es sollen ja alle Vereine kommen und überhaupt alle Leute, und der Pfarrer sagt, mit dem Traueramt dauert es bis nach zehn Uhr, und das sei schon eine große Ausnahme und ginge eigentlich gar nicht, denn die Leute müßten zu ihrer Arbeit ...«
»Man könnte die Arbeit nicht verschieben! Man könnte das nicht tun einem Manne zuliebe, der so viel ... der viel zuviel für diese Leute getan hat! Ach!«
Frau Lizzie sagte es sehr bitter und setzte sich nun auf, und es schien fast, als hätte ihr die Empörung über diese Rücksichtslosigkeit mehr Kraft verliehen.
»Bleiben Sie da, Fanny,« fügte sie hinzu, »ich muß einige Telegramme schreiben, und die tragen Sie gleich auf die Post.«
Sie wollte aufstehen, hielt es aber dann doch für richtiger, sich mühsam zu erheben und sich, auf Fanny gestützt, mit müden Schritten zum Schreibtisch hinzuschleppen.
Hinfällig und wie zerschlagen, nahm sie einen Briefbogen und blickte ins Leere; sie empfand es doch als eine Last, so beobachtet zu werden, und sie entließ die Zofe.
»Gehen Sie einstweilen, Fanny. Ich werde Sie rufen.«
Als sie allein war, überlegte Frau Lizzie, wie sie in der wirkungsvollsten Weise dem Herrn Staatsrat Ritter von Hilling, Exzellenz, dem Manne ihrer verstorbenen Schwester Jane, die Trauerkunde mitteilen sollte.
Sie begann zu schreiben.
»Simon ...« Nein! Sie strich den Namen durch. Sogar in dieser Situation wirkte er unvorteilhaft, und sie fühlte, wie so oft schon, daß man als Kommerzienrat und reicher Fabrikbesitzer nicht wohl hätte Simon Schragl heißen sollen. Sie strich also den Namen durch und schrieb:
»Mein heißgeliebter Mann ...« – das war schon besser – »ganz plötzlich ... durch einen Schlaganfall –« nein! – sie strich auch den Schlaganfall durch ... »ganz plötzlich ... hinweggerafft ...« ja, so war es recht ... »Beerdigung Donnerstag früh neun Uhr hier ... fassungslos ... Lizzie ...« Sie schrieb das Telegramm ab und fügte die Adresse mit dem ganzen Titel bei.
Nun an die Kinder. Ach Gott! Der arme Johnny ... die ärmste Beß! Hier seufzte sie tief auf und schrieb mit fliegender Feder. »Unser liebster Papa ganz plötzlich und unerwartet gestorben. Kommt sofort!« Für Beß noch die Anweisung, sogleich ein Trauerkostüm zu bestellen.
Dann ein Telegramm an die Konfektioneuse, um ein Kostüm für sie selbst.
Das alles hatte Anspannung verlangt, und sie übergab der wieder eintretenden Zofe die Depeschen mit einer Geste, die deutlich ausdrückte, daß sie am Ende ihrer Kräfte angelangt war.
Sie blickte nicht um, sie reichte die Papiere nach rückwärts und ließ den rechten Arm sinken, indes sie ihren Kopf auf den linken legte.
Fanny blieb stehen. Sie hatte noch etwas vorzubringen.
»Was ist?« fragte Lizzie flüsternd.
»Gnädige Frau, Minna sagt, die Todesanzeige müßte gleich an die Zeitung geschickt werden, damit sie morgen drin steht, wegen der Herrschaften, die von weiter her kommen sollen ...«
»Ich kann nicht,« stöhnte die Witwe, »ich kann jetzt nicht ... kommen Sie in einer halben Stunde ... vielleicht bin ich dann imstande ... gehen Sie, Fanny! Ich kann jetzt nicht ...«
Das Mädchen verließ behutsam das Zimmer, und Frau Lizzie warf sich wieder auf den Diwan und klagte das törichte, brutale Schicksal an, das eine Dame von zarten Nerven so unvermittelt in eine solche entsetzliche Lage brachte.
Wären nur die Kinder dagewesen! Aber wer hatte an so etwas auch nur denken können? Johnny mußte bei der Regatta sein, und Beß hatte sich schon wochenlang auf »Rheingold« gefreut. Immer waren sie hier, und gerade jetzt, wo sie einmal fröhlich und sorglos weggeeilt waren, mußte dieses Grausamste sich ereignen!
– Ach! –
Die Kinder waren angekommen, die ersten Blumenspenden trafen ein, und zahlreiche Telegramme langten an, in denen das Unbegreifliche schmerzlichst bedauert wurde. Die Exzellenz schickte eine von Bestürzung überströmende Kondolation mit der Nachricht, daß sie am Mittwoch abend bestimmt erwartet werden dürfe. Die Zeitung brachte die ganzseitige Todesanzeige, und nur der anstößige Name »Simon Schragl« störte in etwas die Vornehmheit dieser Bekanntmachung. Die Unterschrift der trostlosen Witwe Lizzie und der Kinder Johnny und Beß verwischte doch einigermaßen den Eindruck der Bodenständigkeit. Eine Brauereiaktiengesellschaft zeigte dazu noch das Ableben des bewährten Aufsichtsrates in größerem Formate an, und dicht darunter folgten die Beamten der Schraglschen Maschinenfabrik.
Unter »Hof- und Personalnachrichten« brachte die Zeitung einen warm empfundenen Nachruf und gedachte der Verdienste des tüchtigen Industriellen, der als Sohn eines kleinen Gutsverwalters in ein Eisengeschäft in Nabburg eingetreten war und sich durch eiserne Willenskraft zum Besitzer und Leiter eines großen Unternehmens emporgeschwungen hatte. Es war auch erwähnt, daß er sich mit einer Tochter des Generalkonsuls Smith aus Hamburg vermählt hatte und der Schwager des bekannten Staatsrates von Hilling geworden war.
Da auch in der Todesanzeige Hamburg, Antwerpen und Liverpool als von dem Trauerfall betroffene Orte angegeben waren, und da man die vielleicht noch stärker in Mitleidenschaft gezogenen Gemeinwesen Viechtach, Plattling, Straubing und Ebersberg sorgfältigst mit Schweigen übergangen hatte, war wirklich alles geschehen, was geschehen konnte, um das Distinguierte der verblichenen Persönlichkeit hervorzuheben.
Und noch etwas trat ein. Am Mittwoch, vormittags gegen zehn Uhr, langte ein Kondolenztelegramm aus dem Kabinette des Landesherrn an, und es wurde vom Expeditor in Uniform persönlich überbracht.
Dieses Geschehnis rührte und stärkte zugleich die Witwe, die sich erst jetzt dazu brachte, ihr Zimmer zu verlassen und längere Zeit an dem Paradebette zu verweilen, auf dem mit dickem, gutmütigem und wachsgelbem Antlitz der arme Herr Kommerzienrat lag.
Später zog sie sich wieder zurück und überließ es Johnny, die Deputationen der Vereine zu empfangen, die sich erkundigten, wo sie mit ihren Fahnen Aufstellung nehmen sollten, ob der Veteranenverein oder die Schützengesellschaft den Zug eröffnen dürfe, und solche Dinge mehr.
Johnny zeigte sich darin tüchtig, und er hatte eine viel bestimmtere Art, zu antworten und seinen Willen durchzusetzen als der Vater, dem zeitlebens die kleinbürgerliche Gemütlichkeit angehangen hatte.
Johnny war kurz angebunden und reserviert; er ließ sich nicht in lange Gespräche mit den Dorfleuten ein und schnitt ihre weitschweifigen Erklärungen einfach ab.
Dem einen und andern mochte der Unterschied zwischen Vater und Sohn vielleicht unangenehm auffallen, aber die Mama sah mit Befriedigung, daß Johnny sehr viel von ihr und der Smithschen Familie hatte.
Im Laufe des Nachmittags kamen einige Verwandte des Verstorbenen an, mit denen nun freilich nicht viel Staat zu machen war. Die Schwester des Kommerzienrats, die in ziemlich reifen Jahren geheiratet hatte, mit ihrem Manne, dem Apotheker Gerner von Straubing; dann ein Cousin des Verstorbenen, Amtsrichter Holderied aus Ebersberg mit seiner Frau, dann noch dessen Schwester, ein älteres Fräulein, das in München eine Pension leitete.
Frau Lizzie begrüßte sie und mußte sich bald mit einer Migräne entschuldigen. So traf Beß die Verpflichtung, bei den Verwandten zu bleiben.
Tante Marie, eben die Frau des Apothekers, hatte die Manier, gegen die hamburgische Engländerei, wie sie es nannte, zu opponieren und auffällig oft »Elis« statt »Beß« zu sagen.
»Elis,« sagte sie, »mir san amal Altbayern, und dei guter Papa, Gott hab' ihn selig, war ganz g'wiß einer mit Leib und Seel, und i hab mi oft g'wundert, daß er de ... i mag jetzt net zanken ... daß er de Engländerei da erlaubt hat und seine Kinder, du lieber Gott, die Enkel vom alten Schragl in Viechtach, mit solche Nama rumlauf'n hat lass'n. Als ob dös auch noch was war! Johnny! Ma meinet scho, ös kommet's aus dem hinterst 'n Amerika her, wo d' Roßdieb daheim sin und d' Schwindler und d' Petroleumwucherer. Und wenn ma scho, Gott sei Dank, im ehrlich'n Deutschland auf d' Welt komma is, na soll ma sein ehrlich'n deutschen Nama führ'n. Und Beß! Is denn dös aa no a richtiga Nama! So hoaß'n de Frauenzimma, de im Kil's Kolosseum ihre Negertänz aufführ'n. Na! Schau mi no o, und du brauchst ma's net übl nehma! I hab meiner Lebtag mei Meinung g'sagt, und g'rad, weil dei lieber, guter Papa da drin liegt, muß i dös sag'n. Denn i weiß g'wiß, und er hat mir's selber g'sagt, de Engländerei hat'n oft g'ärgert, und leider is er so schwach g'wes'n und hat nachgeb'n an Fried'n z' lieb. Freili, wer A sagt, muß B sag'n, und wenn ma einmal schwach is und nachgibt, na is 's Umkehr'n schwer, und auf de Weis' is nach'm Johnny die Beß komma. Aba weißt, mi bringst d' net dazu, daß i de ... Engländerei, de hamburgische, mitmach, und i sag einfach Elis, und wenn dei Mama mi drum anredt, nacha sag i Liesl. Und i will dir bloß sag'n, wenn i so a saubers Madl war, als wie du, nacha möcht i überhaupts net änderst heiß'n. A Liesl is do scho was anders als wie Beß ... Was sagst d'? Du hoaßt amal so? No ja, leider, daß dei lieber, guter Papa, Gott hab' ihn selig, nachgeb'n hat, aba weißt, a klein's bissel g'hör ich auch zur Familie, als Schwesta vom Papa und als dei rechtmäßige Tant, und da bin i halt so frei und sag mei Meinung, und dös is auch die Meinung von unserer Familie, zu der dein lieber Papa g'hört hat, und de er seiner Lebtag g'schätzt hat, wenn er auch der reiche Herr Kommerzienrat wor'n is. Denn dös kann i dir sag'n, Liesl, i weiß, dein' Papa is in seiner Familie, in seiner alt'n Familie am wohlsten g'wes'n, und wenn mir aa net in da Todesanzeig' drin g'stand'n sin, weil Lieferpohl viel vornehmer is, als wie Straubing, desweg'n hamm mir doch z'samm'g'hört, und der Herr Schragl von Viechtach hat so viel 'golt'n, daß ma kein' Mister Schragl drauß z' mach'n braucht ... Was sagst d'?«
»Ich meine,« sagte der Amtsrichter Holderied, »du sollst dich und ... und d' Beß net aufreg'n ...«
»Jetzt sagt er aa ›Beß‹! No, von mir aus könnt's ihr ja tun, was ihr wollt's, aba ich tu net mit. Und aufreg'n tu i mi gar net, i sag mei Meinung und i sag' Elis ...«
Beß war zu gut erzogen, um den Streit durch eine Erwiderung in die Länge zu ziehen, und dann war am Ende das Herz des jungen Mädchens zu sehr bedrückt, und dann wußte es auch, daß man mit Tante Marie über viele Dinge nicht reden konnte.
Mama hatte oft genug zu Papa gesagt, daß Tante Marie ganz gewiß in ihrer Art eine tüchtige Frau sei, daß sie es aber ablehnen müsse, mit ihr über Lebensauffassungen zu streiten.
Schließlich war die brave Frau Apotheker auch von einer viel zu weichen Gemütsart, als daß sie Verstimmungen zu starke Wurzeln hätte fassen lassen.
Und wie sie nun mit Beß oder in Gottes Namen mit Elis vom Garten herein wieder ins Haus trat und wieder in das Zimmer ging, in dem Herr Schragl mit dem unverändert gutmütigen Gesichte lag, zerfloß sie in Tränen und umarmte und küßte ihre Nichte, und sagte ihr, daß sie in ihr eine zweite Mutter habe.
»Ihr armen Kinder,« schluchzte sie, »ihr wißt's ja heut noch net, was ihr am Papa verloren habt's. So was merkt ma ja erst später im Leb'n, wenn ma Heimweh kriegt nach'm Elternhaus ... O mei Simon! Wer hätt's denkt, daß i amal so vor dir steh'n muß? Jetzt kann i dirs nimmer sag'n, wie viel Dank ich dir schuldig bin, und so lang eins lebt, spart ma die gut'n Wort' und schämt si förmli, daß ma's ei'm sagt, und so viel Sach'n sagt ma, an de 's Herz net denkt ...«
Ja, wie hätte man der Tante Marie bös sein können, die sich so natürlich gab in ihrem Schmerz, und die wieder so klug und so gefaßt war und an alles dachte, was in einem solchen Falle und in einem solchen Haushalt nötig war?
»Schau, Elis,« sagte sie, »wir müssen jetzt mit der Köchin reden, daß sie für morgen alles richt', denn ihr müßt morg'n doch für viele Gäst sorg'n, und dei Mama, ich will ihr ja g'wiß nix Bös's nachsag'n, aber des weiß i g'wiß, daß de net an so was denkt, und auf d' Dienstbot'n darf ma si net verlass'n. Und schau, Kind, wenn's auch a Trauerfall is, im Haus muß ma doch an Ehr' ei'leg'n, denn d' Leut' kritisier'n und frag'n net lang, ob ma gut oder schlecht aufg'legt war, und mit der Nachred sin de glei bei da Hand, und was a richtige Hausfrau is, Elis, und du hast g'wiß des Zeug dazu, siehgst, de muß ihr Sach in Ordnung hamm, und ob der Anlaß traurig is oder lustig, wenn amal Gast' da sin, müssen s' merk'n, daß s' in an richtig'n Haus sin ... und jetzt geh'n wir zu der Köchin, und danach schau'n wir nach, ob die Zimmer in Ordnung sin, denn dei Mama ... du weißt scho, und i will nix g'sagt hamm ...«
Und als tüchtige Frauenzimmer gingen Beß und Tante Marie in die Küche hinunter und schafften für den nächsten Tag an und gingen herauf und musterten Betten und Wäsche und vergaßen ihren Schmerz über diesen Dingen, die törichte Menschen Kleinigkeiten heißen.
Frau Lizzie aber saß an ihrem Schreibtische und legte in einem Briefe an Frau Schultze-Henkeberg in Hamburg, ihre treueste Freundin, die ganze Trostlosigkeit nieder, von der sie angeweht war. Und die stärksten Worte, die ein Bild von ihrem gebrochenen Dasein gaben, unterstrich sie zweimal und dreimal.
Mit dem Abendzuge traf Seine Exzellenz, der Staatsrat a. D. von Hilling, ein. Mit ihm kamen sein Bruder, Oberstleutnant z. D. von Hilling, und dessen Gemahlin, eine geborene von Seidenberg. Der gleiche Zug brachte den technischen Betriebsleiter der Schraglschen Fabrik, Direktor Kunze, den kaufmännischen Leiter, Direktor Haldenschwong, den Präsidenten des Aufsichtsrates der Aktienbrauerei, Kommerzienrat Gäble, ferner zwei Korpsbrüder von Johnny und den Präsidenten des Ruderklubs.
Der kleine Bahnhof von Sünzhausen nahm sich bei dieser Fülle von eleganten Erscheinungen sonderbar aus, und die Beamten fühlten sich in ihrer Bedeutung gehoben, als sie mit diesen Herrschaften in dienstliche Berührung traten.
Der Bahnvorstand salutierte mit wirklicher Hochachtung, und der Stationsdiener nahm an der Schranke jedes Billett mit einer Verbeugung ab.
Und beide, Vorstand und Diener, sahen sich, als der Vorgang vorüber war, bedeutungsvoll an. Es ist schon etwas daran, an der Noblesse.
Den kurzen Weg bis zur Villa Schragl legten die Trauergäste, die von Johnny empfangen worden waren, zu Fuß zurück. Die Dorfkinder standen an der Straße und schauten sie mit großen Augen an, und an den Fenstern, unter den Türen standen neugierige Frauenzimmer und verfolgten sie mit ihren Blicken.
Die Mannsbilder hielten sich mehr versteckt und schauten hinter Wägen oder Holzhäufen oder hinter halb geöffneten Scheunentoren auf die Fremdlinge, und mancher, den die Jovialität des guten Simon Schragl irregeführt hatte, verstand erst jetzt, daß der Verstorbene doch ein vornehmer Herr gewesen war.
Frau Lizzie stand am Gartentore und kam der Exzellenz einige Schritte entgegen. Zu erschüttert, um sprechen zu können, faßte sie mit beiden Händen die Rechte des Staatsrates, fiel dann der Frau Oberstleutnant schluchzend um den Hals, tauschte Händedrucke mit deren Gemahl aus und nahm Handküsse und Beileidsworte der anderen mit Hoheit entgegen.
Dann wandte sie sich wieder an die Exzellenz und schritt an ihrer Seite durch den Garten.
Der Staatsrat, ein hochgewachsener schlanker Mann, dessen von einem gepflegten grauen Stutzbarte eingefaßtes Gesicht durch die leicht geöffneten Lippen und kreisrunde, wasserblaue Augen den Ausdruck eines fortwährenden Staunens erhielt, blieb nun mittewegs stehen und schickte einen Blick herum, der die ganze Gegend und die Blumen und die Rasenbeete und den Himmel und die rosaroten Wolken ernstlich zu fragen und verantwortlich zu machen schien, und sagte mit nachdrücklicher Betonung:
»Wie konnte das nur so plötzlich kommen?«
Er schüttelte langsam, in wohlabgemessenem Takte das Haupt, und da nur einige Frösche im Dorfweiher quakten, sonst aber von nirgendher eine Antwort kam, setzte er sich mit Würde in Gang und blieb erst wieder an der Türe des Hauses stehen.
Da warf er noch einmal einen vorwurfsvollen Blick rund um die Natur und wiederholte mit Betonung:
»Nun sage mir nur, arme Lizzie, wie konnte das so plötzlich kommen?«
Frau Lizzie seufzte tief auf und deutete mit schwerem Nicken des Hauptes an, daß auch ihr das Schicksal noch immer keine entschuldigende Erklärung gegeben habe. Nach mild-schmerzlicher Begrüßung der armen Beß betrat man das Zimmer, worin der gutmütige Schragl lag. Die Seelnonne und Tante Marie, die frische Blumen gebracht hatte, zogen sich in den Hintergrund zurück, und nun stand der Staatsrat dem Toten gegenüber.
Seine kreisrunden, wasserblauen Augen richteten sich auf das wachsgelbe Gesicht, und sie schienen zu fragen: »Wozu das alles?« Er nahm den Rosmarinzweig, der in Weihwasser lag, und besprengte dreimal den verstorbenen Schwager.
Dann entfernte er sich und sagte vor der Türe, wieder kopfschüttelnd: »Ich verstehe das einfach nicht.«
Frau Lizzie geleitete den von so viel Unfaßlichem Erschöpften nach den oberen Räumen und setzte eine halbe Stunde später dem Staatsrate und dem Ehepaare von Helling Tee und kalte Küche im oberen Salon vor.
Die Direktoren und die jungen Herren wurden von Johnny in den Gasthof zur Post geführt, wo sich später auch die Verwandten von der Schraglschen Linie einfanden; die praktische Tante Marie hatte das angeordnet, weil sie die Köchin in den Zubereitungen für den wichtigen Tag nicht stören lassen wollte. Sie selbst zeigte übrigens eine immer stärker werdende Unruhe, fragte, ob abends noch ein Zug käme, und als man es verneinte, nahm sie Beß auf die Seite.
»Sag amal, Elis, habt ihr denn an Onkel Peppi kein Telegramm g'schickt?«
»Dem Onkel ...?«
»No ja, mein' Bruder, an Bruder vom Papa?«
Beß wurde rot und verlegen und sagte zögernd, sie wisse es wohl nicht, aber vielleicht habe Mama ...
»D' Mama? De hat do an niemand andern denkt, wie an den faden Staatsrat. Jessas, Jessas na! Daß aber i heut vormittag net g'fragt hab! I hätt mir's do wirkli denk'n könna, daß von euch niemand ... ihr wißt's ja womögli d' Adreß gar net ... Jessas, was tut ma denn jetzt?«
»Ich weiß seine Adresse wirklich nicht,« sagte Beß.
»No freili net. Um den arma Peppi hat si ja nie wer kümmert, nit amal dei Papa. Sogar dem is recht g'wes'n – Gott verzeih mir die Sünd, wenn ich ihm unrecht tu – aber ich glaub wirklich, es is ihm recht g'wes'n, daß si der arme Peppi z'rückzog'n hat in seiner Bescheidenheit. Jetzt sag mir amal aufrichtig, Mädl, weißt du überhaupt, daß d' an Onkel hast?«
»Ich habe schon von ihm gehört,« antwortete Beß.
»Gehört ... ja ... so ganz von da Weit'n. Und was hast denn g'hört?« examinierte Tante Marie.
Beß, die wirklich in Verlegenheit gekommen war, wurde nun doch etwas ungeduldig.
»Gott, Tante, wenn er sich schon nie nach Papa umgesehen hat, dann ist es doch begreiflich, daß wir Kinder wenig von ihm wissen. Papa hätte ihn doch sicher herzlich aufgenommen ...«
»Hm!« machte die Frau Apotheker, »ich will dir was sag'n. Wenn sich die zwei Brüder allein troffen hab'n, anderstwo, weißt, und net daheim, nachher hamm sie sich alle zwei g'freut, aber in de Welt da rei is der gute Peppi net kommen, und dös kann ihm kein Mensch verübeln, denn dös Hamburgische hat net zu ihm paßt, und er net dazu, und dös wird er scho g'merkt hamm 's allererste Mal bei der Hochzeit. Aber daß ma 'n jetzt übergeht, daß ma ihm kei Sterbenswörtel wiss'n laßt, dös überwind't er net ... dös is ... ja, i sag bloß, daß i heut vormittag net dran denkt hab!«
Tante Marie zeigte sich so unglücklich und aufgeregt, daß Beß alle möglichen Vorschläge machte: ein dringendes Telegramm aufzugeben, ihn aufzufordern, mit Auto herzufahren ...
»Ja mei, Mädl,« jammerte die Tante, »wo soll er denn in Plattling an Auto herkriegen? Und wenn er wirklich eins kriegen könnt', mit was soll er's denn zahlen, als bescheidner Sparkassenverwalter? Und wie soll er denn da herfahr'n, mitten bei da Nacht?«
»Tante, das Zahlen besorge ich schon, und du kannst ja im Telegramm andeuten, daß du die Kosten übernimmst. Und das mit der Nachtfahrt ist auch nicht so schlimm; in ein paar Stunden kommt man weit, und bis morgen früh ist er mit Leichtigkeit hier ...«
»Madl!« rief die Frau Apotheker und halste ihre Nichte und küßte sie ab, »Liesel! Du bist ganz dei Papa, Gott hab ihn selig, herzensgut und resch und gleich bei da Hand mit an Entschluß. Und recht hast. Mir telegraphier'n ihm dringend, und die Kost'n halbier'n ma, mein Mann is gern damit einverstand'n. Aba glei geh i auf d' Post. Sie wird um Gott's will'n net scho g'schloss'n sei?«
Beß sah auf die Uhr.
»Wir haben noch eine Viertelstunde Zeit,« sagte sie. »Und ich komme mit dir, wenn es dir recht ist.«
Tante Marie zeigte sich herzlich damit einverstanden, und so gingen die beiden Arm in Arm zusammen durch die Dorfgasse zur Post.
Und die brave Frau Apotheker bat ihrer Nichte innerlich alle erregten Vorwürfe ab und hatte mit einem Male das hübsche Mädchen mit mütterlicher Zärtlichkeit ins Herz geschlossen.
»Und weißt, Elis,« sagte sie, »du mußt mir nix übelnehmen. I bin halt für deine Begriff an altmodische Frau und a bissel schnell bei da Hand mit 'n Red'n. Und schau, dös mit 'n Automobil, dös wär mir überhaupt net ei'g'fall'n. Unsereins is no an die alt'n Postkutsch'n g'wöhnt und denkt net dran, daß 's an andere Zeit is. Und wenn dös Telegramm wirkli z' spät kommt, na siecht der arme Peppi do, daß ma an ihn denkt hat, und i schreib's ihm scho, wie lieb du g'wes'n bist und wie resolut. Dös tröst 'n wieder. Und siehgst ... Elis ...« sagte sie zögernd, »wenn's di vielleicht scheniert, daß i dir an andern Nama gib, nacha ... no ja ... nacha sag i aa ›Beß‹ zu dir ...«
»Nein, nein, Tantchen ... sag du nur Liesel!«
»Is 's wahr, Mädl?« rief die Frau Apotheker in starker Rührung und küßte die Nichte wieder ab, mitten auf der Dorfstraße.
Und dann schritt sie still neben ihr her und drückte ihren Arm fest an sich, und eine rechte Ruhe kam über sie.
Tante Marie hatte sich umsonst geängstigt. Herr Josef Schragl, Sparkassenverwalter in Plattling, hatte die Trauernachricht in der Zeitung gelesen und sogleich die Reise angetreten. So traf er mit einem Zuge, der für viele Leute nicht in Betracht gekommen wäre, am Begräbnistage morgens um halb sechs Uhr in Sünzhausen ein.
Und in gewisser Beziehung war das ein günstiger Umstand, denn so, wie er sich ansah, hätte der Herr Verwalter nicht zu der vornehmen Schar gepaßt, die am Abend vorher die Bewunderung der Sünzhausener erregt hatte.
Der dicke, kleine, vor Aufregung schwitzende Mann trug an diesem Sommertage einen schwarzen Überzieher, der wirklich ein verächtliches Stück von Garderobe war, und noch dazu trug er ihn höchst unschön, den unteren Knopf geschlossen, über der Brust sich bauchend und am Rücken breite Falten werfend.
Unter dem Mantel schob sich ein schwarzes Beinkleid vor, das zu kurz war, und also nicht schonend über die mit einer Spange geschlossenen Schuhe fiel, ja sogar bei heftigem Ausschreiten einen Teil der wollenen Socken bemerken ließ.
Sein Haupt war bedeckt mit einem Zylinderhute, den er seit Jahrzehnten bei Leichenbegängnissen trug, und der von vielen ungünstigen Witterungsverhältnissen arg mitgenommen war.
In der rechten Hand, die wie die linke in einem baumwollenen schwarzen Handschuh steckte, trug er einen Kranz, der die seltsamen Schönheitsbegriffe eines Plattlinger Landschaftsgärtners verriet, und obwohl an seinem Äußeren nichts zu schonen war, hatte er einen großen Regenschirm bei sich, dem keine Kunstfertigkeit eine annehmbare Form hätte geben können.
Der Herr Verwalter war aber gewiß darauf nicht bedacht gewesen. Er trug den Schirm, so wie er war und sich zusammenlegte, einfach als nützlichen Gegenstand.
Er ließ sich den Weg zum Trauerhause zeigen und zog vor sechs Uhr erst leise, dann stärker an der Türglocke, bis endlich die Köchin herbei eilte, der er sich zu erkennen gab als Bruder des Herrn Kommerzienrates.
Er wollte gleich zu seiner armen, beklagenswerten Schwägerin geführt werden, und als die Köchin bestürzt antwortete, daß ja die gnädige Frau noch im Bette liege, versicherte er treuherzig, das störe ihn nicht, und sie solle ihm nur das Zimmer zeigen.
Die Köchin sagte, sie wolle es versuchen und bei der gnädigen Frau anklopfen und sagen, daß der Herr ... der Herr Bruder vom gnädigen Herrn da sei, und er möchte nur einen Augenblick warten.
Aber der Herr Verwalter hatte kein Verständnis dafür, daß es auch in solchen Momenten noch solche Bedenken gäbe, und er stieg hinter der eilenden Köchin die Treppe hinauf und stolperte redlich über die Stufen, weil er nicht acht gab, sondern sich in Gedanken das Zusammentreffen mit der gebeugten Witwe überaus schmerzlich ausmalte.
Zum Glück hatte Tante Marie, die längst nicht mehr schlief, die Glocke und dann Gemurmel und Geräusch vernommen und öffnete die Türe und sah ihren Bruder die Treppe heraufkommen. Sie winkte der Köchin ab und eilte dem guten Onkel Peppi entgegen, umarmte ihn und vergoß zunächst reichliche Tränen.
»So, Peppi,« sagte sie, »und jetzt wartst an Aug'nblick drunt'n im Gang. Ich komm gleich nunter ...«
»Aber d' Schwägerin ...«
»Die siechst nacha scho. Jetz geh abi, gel ... i mach mi g'schwind ferti ... O mei, Peppi ... wer hätt dös denkt? ...«
Der Herr Verwalter, der in der einen Hand den Kranz, in der andern den Zylinder hielt, ließ sich noch einmal umarmen und ging dann gehorsam die Treppe wieder hinunter, stellte sich unter die offene Haustüre und schaute trübselig in den wunderschönen Morgen hinaus und bemerkte es kaum, wie fröhlich die Stare pfiffen und die Schwalben zwitscherten.
Nach einer kurzen Weile kam Tante Marie und sagte: »Jetzt laß dir nochmal Grüß Gott sag'n, Peppi! Gelt, das hätt'n mir alle zwei net denkt, daß mir aus an solchen Anlaß z'sammkomma müßt'n, und wenn mir einer g'sagt hätt', daß der arme Simon vor mir weg müßt, hätt' i 's net glaubt ...«
»I wohl aa net,« sagte Peppi.
»Willst ...?«
»Was meinst?«
»Willst d' jetzt nei' dazu?«
Er nickte, und sie faßte ihn unter und ging mit ihm in das Zimmer, darin jetzt der Tote aufgebahrt im Sarge lag.
Der Anblick erschütterte den Verwalter so, daß er Kranz und Zylinder weglegte und ein großes, buntkariertes Taschentuch hervorzog, um die Tränen, die ihm über die Wangen liefen, abzutrocknen.
»Gel,« sagte Tante Marie, »so still und friedlich liegt er da, als wenn er schlafet?«
Peppi konnte nur nicken, und er gab sich Mühe, seinem Schluchzen Herr zu werden.
»Mußt net so weinen,« tröstete ihn die Schwester. »Schau, wenn's scho sei' hat müss'n, na war's so wenigstens am best'n. Er hat net leid'n müssen, hat nix g'wußt und war auf einmal weg. An schönern Tod hätt er sich selber net wünsch'n könna ...«
Aber was helfen die Worte? Dem alten Manne fiel es mit einemmal schwer aufs Herz, daß er im Leben so wenig mit dem lieben Gefährten seiner Jugend zusammen gewesen war.
Neidlos hatte er ihm allen Erfolg gegönnt, aufrichtig hatte er sich darüber gefreut, und nur aus Bescheidenheit hatte er sich ferngehalten, nur in dem Gefühle, daß er zu dem Glanze nicht passe. Und so war er immer scheuer geworden und hatte wohl nicht bedacht, daß ihrer beider Tage gezählt sein könnten. Jetzt kam es über ihn, daß sie zu wenig warme Freundlichkeit ausgetauscht hatten, daß jeder sein herzliches Gefühl zu selten gezeigt hatte. Ja, hätte er daran gedacht! Den weitesten Weg wäre er gegangen, um noch einmal den Bruder zu sehen und ihm zu sagen, daß er allezeit sein Stolz gewesen war, daß er so viele Male seine Gedanken zu ihm geschickt hatte, lauter gute, freundliche Gedanken.
Er strich mit einer zärtlichen Bewegung dem Toten über das Haupt, und die Tränen rannen ihm über die runzeligen Wangen herunter und fielen auf den unmodernen Mantel und rollten in seinen Falten weiter.
Das griff die alte Schwester heftig an, und mit unterdrücktem Weinen bat sie: »Geh, lieber, armer Peppi, laß's jetzt gut sei! Sag ihm Bhüt Gott, gar z' lang wer'n mir alle zwei ihm net nachtrauern müss'n ... Komm jetzt!«
Da legte der Verwalter seinen Kranz zu Füßen des Sarges, und netzte seine Finger mit Weihwasser und machte auf Stirne, Mund und Brust des Toten das Zeichen des Kreuzes. An der Türe wandte er sich noch einmal um und schaute nach dem Bruder hin, und mit einem tiefen Seufzer sagte er: »Ja ... ja ... der Simmerl!«
Tante Marie faßte seine Hand und führte ihn durch den Gang hinaus ins Freie. Vor dem Hause setzten sie sich auf eine Bank, und lange schwiegen sie beide und sahen vor sich hin.
»Ja so ... d' Schwägerin ...« sagte Peppi und wollte aufstehen.
Seine Schwester hielt ihn sanft zurück.
»Laß nur! Sie kommt nacha scho runter, und d' Kinder auch ...«
Und da fiel ihr der letzte Abend ein, und sie erzählte dem Bruder, daß sie ihm telegraphiert hätten, und wie gescheit und kurz entschlossen sich das Mädel gezeigt habe.
»Die is ganz unser Simon und g'fallt mir schon recht gut. Weißt, grad so resolut, wie er allaweil war, net viel Wort', aber was s' sagt, hat Hand und Fuß. I hab ja a bissel Angst g'habt, du verstehst mi scho, daß die Kinder am End ... no ja ... a bissel hoch drob'n sei' könnt'n, a bissel ... wie sie halt ... oder wie sie wenigstens war, aber i muß sag'n, beim Mädel wenigstens is kei Spur davo. Vom Bub'n hab i net viel g'seh'n und g'hört, da weiß i noch z' wenig. Aber 's Mädel, i muß scho sag'n, da is mir 's Herz aufgangen. Ganz der Vater, wie er war als a junger. Resch und gutmütig, aa weich, aber net gern kenna lass'n, sondern Kopf hoch, wenn's wer siecht, gar kein Theater, verstehst, wie ... no ja ... wie sie wenigstens früher war ...«
Peppi nickte, ohne recht hinzuhören. Er war mit seinen Gedanken weit weg, in Nabburg, in der alten Zeit. Wie er den Bruder damals besucht hatte und der einen Sonntagnachmittag aus dem Geschäfte gehen durfte, mit ihm, und wie er ihm damals von seinen Plänen erzählte und so zuversichtlich war, und alles erfüllte sich dann später, noch viel schöner, wie er's gehofft hatte ...
»Da is s' scho,« sagte Tante Marie und stand auf, um ein junges, schlankes Mädchen zu begrüßen, das aus dem Hause kam, und das also die Tochter war und Elise hieß oder Beß und dem alten Onkel die Hand ganz merkwürdig kräftig drückte.
Der Herr Verwalter machte ein paar linkische Verbeugungen und kam in Verlegenheit, denn Damen hatten auf ihn stets diese Wirkung, selbst die Plattlinger, und was er hier vor sich sah, war doch im Aussehen und im sicheren Benehmen etwas Vornehmeres, und so stammelte er wirklich etwas von Fräulein und Ehre, bis Tante Marie ihn auf den rechten Weg wies.
»Jetzt du bist gut, Peppi; sagt er zu seiner leiblichen Nichte Fräulein, und womögli sagt er ›Sie‹. Nimm's no fest beim Kopf, sie is scho 's Madl von unserm Simon ...«
Das traute sich nun der Herr Verwalter nicht, aber er tätschelte einmal und noch einmal das Mädchen auf die linke Wange und murmelte so etwas wie »arm's Kind«.
Beß aber gewann aufs neue die Bewunderung der Frau Apotheker, indem sie die Befangenheit ihres Onkels auf die einfachste Weise behob.
»Lieber Onkel,« sagte sie so selbstverständlich, als hätte sie ihn seit Jahr und Tag gekannt, »lieber Onkel, du hast gewiß noch kein Frühstück bekommen und hast die lange Fahrt machen müssen ...«
Der Herr Verwalter murmelte, daß er eigentlich nicht gefrühstückt habe und eigentlich nichts wolle, aber noch vor er ausgeredet hatte, war das Mädel ins Haus gesprungen und in die Küche geeilt.
»Was sagst jetzt?« fragte Tante Marie ihren Bruder. »Is dös net a liabs Ding, a wundernetts?«
»Sie hat viel vom Simmerl, b'sonders die Aug'n ...« sagte der Onkel.
»Und um an Mund und Überhaupts und b'sonders im Benehmen. Du bist ganz verdattert g'wes'n und sagst Fräulein zu ihr, no ja ... halt a bissel leutscheu, wie's d' allaweil g'wes'n bist, aber sie! Lieber Onkel, sagt s', und glei fallt ihr wieder des Richtige ei, und g'sagt und toa is bei ihr oans. Na! I muaß scho sag'n, dös Madl kunnt gar net liaba sei, und i kunnt's net liaba hamm, wenn's mei eigens Kind waar, und gar nix G'schupft's und nix Verkünstelt's is dro, net dös G'ringste von ihr ...«
Beß kam wieder und deckte wahrhaftig selber den Tisch mit einer blühweißen Leinwanddecke und sorgte dafür, daß heißer Kaffee kam und Eier und Butter, und sie nötigte den Onkel zuzugreifen und tat alles so reizend, daß Tante Marie mit strahlenden Augen dabei saß und ihr freundlich zulächelte.
Über den Herrn Verwalter kam ein wohliges Gefühl von Daheimsein und Zugehörigkeit, so daß er beinahe gesprächig wurde und von seinem letzten Zusammentreffen mit dem lieben, armen Simon erzählte, und daß er Johnny, der dazu kam, schon viel herzlicher und freier begrüßte.
Das Gespräch blieb in Fluß, und mit Fragen und Antworten kam man sich immer näher.
Als eine halbe Stunde später der Herr Staatsrat aus der Türe trat, um einen verwunderten Blick auf die morgenfrische Natur zu werfen, sah er mit Staunen diesen Teil der Familie einträchtig beisammensitzen und sah, wie links Beß und rechts die Frau Apotheker jede eine Hand des schlechtgekleideten Individuums gefaßt hielten.
Er wollte nach einem leichten Kopfnicken in den Garten hinaustreten, aber Beß sprang auf und teilte ihm mit, daß Onkel Peppi angekommen sei.
Die kreisrunden Augen Seiner Exzellenz erweiterten sich noch etwas. »On ... kel ... so ... so ...?«
»Der Bruder von Papa,« ergänzte Beß.
»Der Bru ... so ... so?«
Und da waren auch schon die anderen zu ihm getreten, und der Herr Verwalter, im vollen Besitze seiner Sicherheit, streckte dem Staatsrate die Hand entgegen und sagte: »Grüß dich Gott, es freut mich sehr ...« Wahrhaftig, er sagte: »Grüß dich Gott, es freut mich sehr ...« und fügte hinzu »oder eigentli, es is ja sehr trauri, daß mir uns bei dem Anlaß kennen lernen ...«
»Mir uns kennen lernen,« sagte er.
Wenn Staatsräte überhaupt mit Sparkassenverwaltern zusammentreffen, und es ist wohl anzunehmen, daß dies selten geschieht, aber wenn es durch merkwürdige Zufälle ermöglicht wird, dann müßten eigentlich die Sparkassenverwalter in Verwirrung geraten. Hier aber ereignete sich das Unvorhergesehene; der Staatsrat war noch mehr als verwirrt, er war bestürzt, und das kam sicherlich von dem Umstande her, daß er von einem wildfremden Menschen, der mit Spangen geschlossene Schuhe und zu kurz gewordene Hosen trug, schlankweg geduzt wurde.
Der Herr Staatsrat blickte über die Verwandtschaft hinweg ins Leere, und das Erstaunen in seinen kreisrunden Augen steigerte sich bis zur Hilflosigkeit, und als er zu sprechen begann, stotterte er.
»Tja ... ja ...« sagte er, »so ... so ... so ... Bru ... Bruder des Verstor – be – nen ... tja ... ja ... ja. Ich ... ich ver ... stehe das alles nicht.«
Er zog sich zurück und erholte sich langsam und allmählich, als er oben, im ersten Stock, mit Frau Lizzie und den Oberstleutnants das Frühstück einnahm.
Die Behaglichkeit, die sich auch in gedämpften Stimmungen am reinlich gedeckten und gut besetzten Tische einfindet, kam über ihn, aber völlig konnte er sein Befremden über die Begegnung nicht überwinden.
»… Sag mal, arme Lizzie ...« begann er, nachdem die allgemeinen Bemerkungen und Seufzer ausgetauscht waren, »… sag mal, wie ist das nun eigentlich? Ich wollte vorhin, so vor einer halben Stunde, in den Garten gehen, und unter der Türe tritt mir ein Mann entgegen, der alles andere als soigniert aussah, und begrüßt mich mit auffallender Herzlichkeit und sagt, er sei der Bruder von unserm teuren Verblichenen ... sag mal ...«
Frau Lizzie stellte die Tasse, die sie eben zum Munde führen wollte, nieder. Sie war sichtlich überrascht, und sichtlich nicht angenehm. Und sie erzählte diesem Teile der Verwandtschaft, daß sie, wenn sie nun schon davon sprechen müsse, während ihrer Ehe immer und immer wieder bei dem anderen Teile der Verwandtschaft auf sonderbare Personen und Dinge gestoßen sei, die sie gerne taktvoll übersehen hätte, die sich aber nicht übersehen ließen. Und es war eine Schwäche von ihrem guten Manne, daß er manchmal prononcierte Neigungen für seine früheste Vergangenheit zeigte, sie vielleicht aus einer gewissen Opposition stärker betonte. Gott! Natürlich hatte niemand mehr als Frau Lizzie anerkannt, daß er als Selfmademan von seinem Entwicklungsgange mit Stolz reden durfte, und sie wäre sicher die letzte gewesen, die etwa einen Bruch mit seiner Familie gewünscht hätte, – aber seine Verwandten hatten es ihr wirklich nicht immer leicht gemacht. Wenn ihr Mann gewisse Ansichten und Gewohnheiten über die Forderungen der Gesellschaft stellte, das war immer noch eher erträglich, als wenn es seine Verwandten taten.
»Und was du sagtest ... Albert ...« Frau Lizzie schloß den Satz nicht, denn Fanny trat in das Zimmer, und unmittelbar hinter ihr ein kleiner, dicker Mann in schwarzem Überzieher, der auf sie zukam und sie sogleich weinend, in überquellendem Schmerze umarmte und tatsächlich den Versuch machte, sie zu küssen.
»Arme, arme Elis!« schluchzte er, »hamm ma unsern Simon verlor'n!«
Dann zog er ein sehr großes, buntkariertes Taschentuch hervor, schnaubte sich hinein und faßte nun auch die anderen vom gleichen Schmerze betroffenen Personen ins Auge. Er schüttelte allen die Hände und betrachtete sich als mit ihnen in Trauer innig vereint, und nichts hätte in ihm den Argwohn erwecken können, daß er beobachtet und abgeschätzt werde. Er war arglos und schrieb jedes verlegene Hüsteln und Abbrechen der Unterhaltung und nichtssagende Worte und vielsagende Blicke einer tiefen Traurigkeit zu, was ihn wiederum so rührte, daß er sein buntkariertes Sacktuch nicht mehr aus der Hand brachte.
Als das Gespräch übermäßig lange stockte, kam in Onkel Peppi das Gefühl auf, nicht daß seine Trostworte hier überflüssig, sondern daß sie auch anderswo notwendig seien, und er riß sich gewaltsam von dem Anblicke seiner gebrochenen Schwägerin und des betrübten Staatsrates und der beiden andern lieben Verwandten los, und er ging und sagte zu seiner Schwester, daß es ein Jammer sei, anzusehen, wie der traurige Fall die arme Schwägerin angegriffen habe.
Und doch war es seine Schuld, wenn sie immer noch stärker angegriffen wurde.
Denn als nun die Dorfleute und die Vereine und die Geistlichkeit angekommen waren, als man den Sarg geschlossen hatte und die Hammerschläge durch das stille Haus geklungen waren, als Frau Lizzie mit wirklichem Schmerze inne ward, daß der Gefährte ihres Lebens sie für immer verließ, da sah sie doch noch mit tränenumflorten Augen, wie unmittelbar hinter dem Sarge neben Johnny und wirklich vor dem Staatsrate und dem Oberstleutnant der so überaus unvorteilhaft aussehende Schwager einherschritt.
Wie aber ein stattlicher Leichenzug die Gefühle der Hinterbliebenen zu erheben vermag, so kann die Störung des würdigen Eindruckes die Herzen beschweren.
Und Frau Lizzie war sehr niedergedrückt, denn sie hatte die bestimmte Empfindung, daß dem teuren Verblichenen, wie ihr, Abbruch geschehen war, und sie sagte sich im stillen, wie ganz anders die Bedeutung des Toten und der Familie hervorgehoben worden wäre, wenn die gerade für Leichenbegängnisse so geeignete Gestalt des Staatsrates allein oder flankiert von Johnny und dem Oberstleutnant hinter dem Sarge einhergeschritten wäre.
Für die Dorfleute aber – und das hätte ihn trösten müssen, wenn er die Gedanken seiner Schwägerin erraten hätte – für die Dorfleute war Onkel Peppi der durchaus richtige, in Tränen zerfließende und die Traurigkeit des Vorganges bezeugende Verwandte. Er ging mit gebeugtem Haupte durch die Dorfgasse, er weinte am Grabe, und er wurde ordentlich vom Schmerze gerüttelt, als die ersten Schollen auf den Sarg niederpolterten.
Darum trat jeder zu ihm und schüttelte ihm die Hand, während der Staatsrat abseits stand und nur flüchtiges Aufsehen erregte.
Nach dem Traueramte eilten die Sünzhausener heim, um möglichst rasch an ihre Arbeit zu gehen, die Verwandten aber kehrten in kleinen Gruppen in das Haus der Witwe zurück.
Man sprach ihr wiederum das innigste Beileid aus, richtete tröstende Worte an sie, drückte ihr die Hand, küßte ihr die Hand, und Onkel Peppi ließ es sich nicht nehmen, die arme Elis – so hieß nun einmal für ihn die Schwägerin – zu umarmen und sie auf die linke und rechte Wange zu küssen.
Dabei rührte sich aber in allen das der Trauer gänzlich abgewandte Gefühl eines tüchtigen Appetites, und sie setzten sich mit guten Erwartungen zu Tische. Das Mahl wurde gemeinsam eingenommen, und weil der Schmerz nicht weniger gesprächig macht als die Freude, so war bald eine lebhafte Unterhaltung im Gange.
Es war nicht verwunderlich, daß Onkel Peppi recht sehr auftaute und nach kurzer Zeit das Wort führte. Gerade, weil er sich am ungestümsten der Trauer hingegeben hatte, mußte er stärker als die anderen sein Herz erleichtern, und zudem hatte er als Jugendgespiele des Verstorbenen das Recht und den Anlaß, sehr viel zu erzählen.
»D' Marie weiß,« sagte er, »was unser Simmerl für ein ausg'lass'ner, lebhafter Bub war. I war ja allaweil der Stillere, und wenn i aa zwoa Jahr älter war, hab i ihm do nachgeb'n müss'n, d' Marie weiß, weil er g'walttätiger war, und wenn er si was in Kopf g'setzt hat, nacha hat's oafach sei müss'n, und nachgeb'n oder so, dös hat er überhaupts net kennt. No ja, bei unsern Vata selig hat aa der Simmerl dös meiste golt'n, und wenn amal was vorkemma is, d' Marie weiß, nacha war'n allaweil de andern schuld, aba der Simmerl gar nia, und i hab öfta für eahm Schlag kriegt. Aba dös hat nix g'macht, und i muß sag'n, wenn i dro denk, freut's mi no heut. Der Anführer war er allaweil, und wenn i amal net mittoa hätt mög'n, nacha is er scho so fuchsteufelswild worn, daß i gern nachgeb'n hab'.«
Tante Marie nickte bestätigend mit dem Kopfe, und die Nächstsitzenden hörten ihm freundlich zu, und so wurde der Herr Verwalter nach jedem Gange und nach jedem Glase Wein mitteilsamer, und er erzählte die Geschichte von der grünen Waschschüssel, in die Simon ein Loch geschossen hatte, und die Geschichte vom Apfelbaum, an dem neunundzwanzig wunderschöne Weinäpfel hingen, die eines Morgens weg waren, und immer war er als der Schuldige in Verdacht gekommen, und immer war es Simon gewesen. Und alleweil und überall hatte der Simon Glück gehabt, daheim, in der Schule, und später als Erwachsener im Leben. Und er, der Onkel Peppi, war immer und überall zu kurz gekommen.
Nicht, als ob ihn das geärgert oder neidisch gemacht hätte, im Gegenteil, er hatte es seinem Bruder von Herzen gegönnt, aber man sagt bloß. Der eine hat das Glück und der andere hat einfach keines ... d' Marie weiß.
Nach dem Essen reichte Johnny Zigarren herum, die aus dem Vorrate des Herrn Kommerzienrates stammten; edle Zigarren, die herrlich dufteten, und deren eine den schmauchenden Onkel Peppi nachdenklich stimmte, so daß er sich auf eine Pflicht der Höflichkeit besann und sich neben den Staatsrat setzte.
Da er schon den zweiten Tag von seiner Schreibstube entfernt war, paßte es ihm vortrefflich, daß er in diesem hohen Staatsdiener einen sicherlich verständnisreichen und interessierten Zuhörer fand, und er setzte der Exzellenz, die sich nicht retten konnte, und die auch von Frau Lizzie nicht mehr aus der Lage befreit werden konnte, haarklein auseinander, mit welchen Mühen die Verwaltung einer Sparkasse verbunden sei.
Die kleinste Einlage erfordere die gleiche sorgfältige Arbeit wie eine große, und das Schlimmste sei, natürlich, daß man es mit Leuten zu tun habe, natürlich, die von Geldgeschäften und verzinslichen Anlagen und von all dergleichen Dingen natürlich keine blasse Ahnung hätten, woher es dann auch komme, daß die Einleger häufig das sonderbarste Mißtrauen zeigten. Da wären zum Beispiel die Bauern, die auf die Schranne kämen. Einen Samstag legten sie das Geld hinein, den andern wollten sie es wieder herauskriegen, weil irgendwo in einer Sparkasse irgend etwas vorgekommen wäre. Und dann die Dienstboten, wenn heute Dienstboten überhaupt noch etwas sparen ...
Frau Lizzie wollte ihn ablenken, ja, in Gottes Namen sogar seine Gesprächigkeit auf sich ziehen, allein Onkel Peppi wußte besser, was Staatsräten zugehört und was Staatsräte interessiert, und er gab dem Verblüfften, der allmählich in den Zustand einer stillen Verzweiflung geriet, ein lückenloses Bild von der umfassenden Tätigkeit eines Plattlinger Sparkassenverwalters.
Und der Erfolg spornte ihn an, so daß er immer munterer wurde und seine Aufmerksamkeit allen anwesenden lieben Verwandten schenkte.
Und den Staatsrat hieß er Vetter Albert und den Oberstleutnant Vetter Kuno, und durch irgendeinen schlimmen Zufall hatte er herausgebracht, daß die Frau Oberstleutnant Wilhelmine hieß, und so nannte er sie Mina, und nach einigen Viertelstunden Minerl.
Es war ein Glück für viele, daß Onkel Peppi ein übergroßes Pflichtgefühl und eine heftige Sehnsucht nach seiner Sparkasse hatte und unbedingt mit dem Fünfuhrzuge abreisen mußte, um am andern Morgen wieder in Plattling einzutreffen.
Tante Marie machte den Versuch, ihn zurückzuhalten, aber er blieb fest und sah noch häufiger auf die Uhr als Frau Lizzie, und kurz nach vier brach er auf.
Er sagte zu Vetter Albert und zu Vetter Kuno und zum Minerl und überhaupt zu allen, daß er ungerne scheide, und daß er gerne bliebe, aber es warteten unendlich viele Arbeiten auf ihn.
Und wieder und noch einmal schüttelte er allen die Hände, und Frau Lizzie umarmte er, und wenn er mit ihr fertig war, fing er bei Vetter Albert wieder mit dem Abschiednehmen an.
Endlich ging er, und nur Tante Marie begleitete ihn. Die andern hatten sich von ihm zum Zurückbleiben bewegen lassen.
Am Gartentore wandte sich Onkel Peppi noch einmal um und grüßte zärtlich zurück.
Dann ging er fürbaß mit weit ausholenden Schritten, bei denen sich das Beinkleid höher schob und die wollenen Socken sichtbarer wurden.
Die zwei Alten besuchten noch einmal den guten Simmerl und standen schweigend vor dem frisch aufgeworfenen Grabhügel.
Onkel Peppi konnte sich nicht mehr in eine recht tiefe Traurigkeit versenken; er hatte sie ausgegeben und war jetzt innerlich so zufrieden, daß er wohl anstandshalber einen Seufzer ausstieß, aber doch mit seinen Gedanken bei den angenehmen und liebreichen Stunden verweilte, die er soeben durchlebt hatte.
»Weißt, Marie,« sagte er auf dem Bahnhofe, »i bin doch recht froh, daß i herkommen bin. Es tut ei'm wohl, wenn ma so mitt'n in da Verwandtschaft und bei Leut is, de ein' gern hamm. Da siecht ma, daß ma z'sammg'hört, und dös tröst' ein' scho wirkli. Und siehgst, i denk jetzt ganz änderst von der Elis, und daß i unsern Vetter Albert kenna g'lernt hab, dös freut mi b'sonders, und hoffentli gibt's amal a schönere G'legenheit, daß i 'n wieder siech ... weißt, eigentli war i scho ung'schickt, daß i net öfter zu Lebzeit'n vom Simmerl herkomma bin. Ma bild' si halt was ei', und wenn ma bei de Leut is, siecht ma erst, wie gern daß s' ein' hamm ... no ja ... wenn's a bissel geht, such i d' Elis wieder auf ...«
Tante Marie pflichtete ihm bei, und so stieg der Herr Sparkassenverwalter recht eigentlich glücklich und zufrieden in den Zug und winkte noch lange mit seinem verwitterten Zylinderhute zum Fenster hinaus.