Ludwig Tieck
Peter Lebrecht
Ludwig Tieck

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Eilftes Kapitel

Rückerinnerungen

Als ich kaum eine halbe Stunde durch den Wald gegangen war, trat ich ins freie Feld und erwachte wie aus einem Traum. Es war dieselbe Flur, in der ich meine Kindheit zugebracht hatte, ich sah schon das Dörfchen in der Ferne vor mir liegen. – Alle vorhergehenden Begebenheiten hatten mich zu einer Art von Schwärmerei gestimmt, und mit einem freudenvollen Schrei stand ich nun mit untergeschlagenen Armen still, und rief alle Erinnerungen aus meiner Kindheit in meine Seele zurück. Jeder Baum war mir fast noch bekannt, ich wußte jetzt recht gut, daß ich selbst diesen Teil des Waldes oft durchstrichen hatte; ich sah in der Ferne die blauen Berge liegen, hinter denen in der Kindheit alle meine Wünsche und Hoffnungen gewohnt hatten. Überall, wohin mein Auge sich nur wendete, begegnete mir eine angenehme Erinnerung und grüßte mich so zutraulich, wie ein Freund, der uns lange nicht gesehen hat. Dort stand die Windmühle vor mir, auf der ich so oft mit den Kindern des Müllers gespielt hatte, ich sahe durch die dichten Gebüsche den Fluß im Schein der Sonne flimmern, der mir tausendmal zum Baden gedient. – Ich stand lange und sann in dieser Heimat meiner Jugend, meinem bisherigen Leben nach: so wenige Jahre auch verflossen waren, so wenig Abenteuer ich auch erfahren hatte, so war mein Sinn doch durch ein Leiden geprüft, das mein Herz zerrissen hatte; ich hatte doch unterdes viele Resultate über mein Herz gesammelt, und den Schlüssel zu meinem innersten Selbst gefunden: manches, was mir sonst an mir groß und ehrwürdig erschienen war, kam mir nun wie Dunst und nichtiger Nebeldampf vor: ich war mit mir selber über hundert Erscheinungen in meinem Herzen einig, die ich sonst als fremde Wesen in einer ehrfurchtsvollen Entfernung betrachtet hatte. Von diesem Felde war ich ausgegangen, in die Welt hinein, und ich kam jetzt zurück in meine Heimat, klüger, aber bei weitem unglücklicher.

Wie mit dem ehemaligen Kindersinn schritt ich zwischen die wohlbekannten Äcker hindurch: jede Blume im Grase schien mir noch dieselbe, die mich damals so freundlich angeblickt hatte; ich verlor mich in einem süßen wonnevollen Rausch.

Oh, seid mir gegrüßt, ihr holden Erinnerungen der frohen Kinderzeit, wenn ihr aus den grünen Wipfeln der Bäume herabsteigt und mir jenen paradiesischen Traum wieder aufschließt, aus dem man als Knabe so ungern erwacht. Wie holdselig winkt uns durch einen rosenroten Schleier die Welt und die Zukunft an! Mit schuldlosem Herzen, ohne Harm und Neid, ohne Haß und Groll, wandeln wir dahin, mit zartem Wohlwollen den Busen ganz ausgefüllt: wir taumeln durch den goldnen Schein des Morgens fort, geben jedermann, der uns begegnet, einen frohen Händedruck, und ahnden nirgend Tücke und Bosheit, weil wir mit unserm eignen Sinn vertraut zu sein glauben. – Glückseliges Alter, in welchem der Mensch keine andern Wünsche und Hoffnungen kennt, als die dicht vor seinen Füßen blühen und die er mit seinen kleinen Armen abreichen kann: in jenen Jahren ist der Mensch glücklich und gut, sein späteres Leben ist ein unaufhörlicher, ohnmächtiger Kampf gegen Fehler und Schwachheiten, ein Rennen nach Wünschen und Hoffnungen, das ihm den Atem raubt und ihn die Freuden nicht bemerken läßt, denen er vorübergeflohen ist. – Sei mir gegrüßt, du holde Zeit! Schon die Erinnerung jener goldnen Frühlingstage, wenn sie durch unsre Seele zieht, macht uns froher und besser.

Ich kam nun dicht vor das Dorf. Fast alles war noch so, wie damals, als ich es verlassen hatte: nur wenige neue Hütten waren angebaut, eine ganz zerfallen. Jetzt sahe ich das Dach unsers Hauses herüberragen; ich lenkte um die Ecke, und stand nun vor der Wohnung, wo ich erzogen war. Die große Linde vor der Türe erinnerte mich an alle die schauerlichen Gespenstergeschichten, die man mir hier am Abend erzählet hatte, und an den Pater Bonifaz, der mich so oft an dieser Stelle zur Säule des sinkenden Christentums hatte einweihen wollen. Ich kam in den Hof, alles stand und lag umher, wie gewöhnlich, in der Scheune hört ich dreschen, nur ein unbekannter Spitz bellte mir unhöflich entgegen, und strebte, sich von der Kette loszureißen. Ich bedauerte im stillen den alten getreuen Phylax, öffnete die kleine Türe, und trat in die niedrige Wohnstube. Ich hatte sie ganz anders, und besonders viel geräumiger erwartet: wie im Traum ging ich auf die Mutter Marthe zu und schloß sie in meine Arme. Sie war erstaunt, kannte mich nicht und wußte gar nicht, was sie sagen sollte. Ich gab mich zu erkennen und bat sie um Verzeihung, daß ich mich nicht schon früher um sie und ihre Kinder bekümmert hätte. Ihre Tochter kam nach Hause und erstaunte nicht wenig, den kleinen Peter als einen großen Jäger wiederzufinden. Auch der Vater kam mit seinem Sohn von der Feldarbeit zurück und die Freude war nun allgemein. Ich mußte ihnen meine bisherige Lebensgeschichte erzählen, man konnte mich nicht genug von allen Seiten betrachten, man bewunderte meine Größe und noch mehr, daß ich designierter Burgemeister sei, man freute sich über mein gesundes Aussehn und noch mehr darüber, daß ich sie nicht vergessen hätte, da sie mich von Jugend auf so vorzüglich geliebt hatten. Man erzählte mir unordentlich durcheinander, daß Pater Bonifaz und Phylax gestorben wären, und daß man alle Tage fürchte, der Turm ihrer Kirche würde einfallen. Die guten Leute schienen durch meine Anwesenheit ebenso berauscht, als ich es war.

Wir setzten uns zu Tische: ein kleines ländliches Mahl ward aufgetragen und zwar noch in demselben Geschirre, aus welchem man mich großgefüttert hatte; ein einziger Teller war zerbrochen, und statt seiner ein neuer angeschafft; man wollte mir diesen zu meiner Ehre vorsetzen, ich griff aber nach einem alten, dessen rotgeschriebenen Spruch ich noch auswendig wußte. – Noch nie hatte mir ein Mittagsmahl so gut geschmeckt; eine allgemeine Heiterkeit machte, daß uns die Stunden wie Minuten verschwanden.

Der Vater blieb mir zu Ehren länger als gewöhnlich, er ging nur nach dem Acker, als ich ihm versprochen hatte, diese Nacht in seiner Wohnung zuzubringen. Er umarmte mich noch einigemal, dann verließ er mich: sein Sohn begleitete ihn, die Tochter besorgte die häusliche Wirtschaft.

Kaum sah ich mich mit der geschwätzigen Mutter Marthe allein, als mir zum erstenmal eine Frage einfiel, an die ich noch bisher gar nicht gedacht hatte. – »Wir sind allein, liebe Mutter«, fing ich an, »Ihr habt just, wie ich sehe, einige Zeit übrig; – sagt mir, wer bin ich eigentlich, da ich nicht Euer Sohn bin?«

»Lieber Lebrecht«, antwortete sie mir mit ihrer geschwätzigen Art, »ach, darüber ließe sich gar vielerlei sprechen: darüber ließen sich gar wunderliche Geschichten erzählen. Sonst durft ich nicht, jetzt ist es mir schon eher erlaubt, da du unterdessen, liebes Kind, zu Verstande gekommen bist.«

»Nun so sprecht, so erzählt' denn die wunderlichen Geschichten«, fiel ich ungeduldig ein: »ich bin endlich neugierig geworden, zu erfahren, wer meine Eltern sind.«

Die Sonne schien auf die Fenster der Stube, ich führte Marthe aus dem schwülen Zimmer unter die kühlen Zweige der Linde; ich wiederholte meine Bitte, Marthe fing ihre Erzählung an, und ich erfuhr, was der Leser auch erfahren wird, wenn er sich die Mühe gibt, das folgende Kapitel zu lesen.


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