Ludwig Tieck
Die Reisenden
Ludwig Tieck

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Es war einige Zeit verflossen, in der sich der junge Wolfsberg an seinen Aufenthalt und seine Lage gewöhnt hatte, und da er sich immer ruhig betragen, so trat eines Tages sein Freund, der kleine Friedrich, in sein Gemach, that einen kurzen Sprung, zuckte die Schultern, verzog sein blasses Gesicht zum Grinsen und sagte. Jetzt werden Sie einer von den unsern; der Alte schickt mich, Sie möchten in den Gesellschaftssaal hinunter kommen.

Sind viele Leute dort? fragte der Baron.

Je nun, eine hübsche Gesellschaft; bald mehr, bald weniger; mancher reiset dann auch wieder ab, und so habe ich vorige Woche einen meiner besten Freunde auf der Welt verloren.

Sie traten in den untern großen Saal, und Wolfsberg, der so lange in der Einsamkeit und im kleinen Zimmer gelebt hatte, war so vom Licht, von der Gesellschaft und dem weiten Blicke über die Ebene und das Waldgebirge hin geblendet, daß er sich nur schwer fassen konnte, und einige Zeit brauchte, um sich mit allen diesen Gegenständen, vorzüglich aber mit den Menschen in dem großen Gemache bekannt zu machen. Der Direktor ging mit großen Schritten auf und nieder, noch finstrer, als er gewöhnlich war; er schien nur seinen Gedanken nachzuhängen, und sich um die Gesellschaft nicht zu kümmern. Er bemerkte auch den Eintretenden nicht, und erwiederte nichts auf dessen Gruß. Zwei Männer spielten mit großer Anstrengung und gespannten Mienen Schach; in einer Ecke las ein Andrer in einem Buche, lächelte zuweilen, oder schüttelte den Kopf, machte auch zuweilen Geberden der Billigung, so daß er völlig mit seinem Autor beschäftigt schien. Auf einem Lehnstuhle war ein Mann eingeschlafen, der durch sein rothes Kleid auffiel; noch mehr dadurch, daß sein Kopf von einem großen dreieckigen 188 Hute bedeckt war. Starr nach dem Himmel und dessen Wolken war der Blick eines Andern gerichtet, der einen Maaßstab in der Hand hielt, dessen Zolle er dann immer wieder von Neuem überzählte. Drei seltsame Gesichter standen abseits, und stritten lebhaft. Der eine von diesen Männern war sehr beleibt; sein Kopf aufgedunsen, die Augen waren fast verschwollen, er krächzte mehr, als er sprach, und stach um so mehr gegen seinen schmalen langen Nachbar ab, dessen Gesicht so dürr und bleich erschien, daß man kaum noch Lippen darauf wahrnahm, indem die großen blauen Augen aber desto auffallender hervor leuchteten. Der dritte Redner lachte beständig mit seinem großen, aufgeworfenen Munde, und zerrte die wundersamsten Linien in seine kupfrigen Wangen hinein. Wolfsberg sah sich um, von seinem getreuen Friedrich Einiges über diese sonderbare Versammlung zu erfahren; dieser aber war verschwunden, und er mußte also selbst Bekanntschaft zu machen suchen. Er näherte sich den Schachspielern, und sah beim ersten Blick, daß beide Könige im Schach standen, ohne daß es die Streitenden trotz ihrer angestrengten Aufmerksamkeit bemerkten; aber seine Verwunderung stieg noch mehr, als man den weißen Thurm nahm, ihn schräg über das Brett zog, mit ihm einen Läufer schlug, und ihn darauf neben den König stellte. Der braune König retirirte nun behende als Springer, und ein weißer Springer nahm mit einem Satz im Zickzack drei Bauern zugleich weg. Wie, meine Herren, rief Wolfsberg aus, Sie spielen ja ganz gegen die ersten Regeln! – Was? rief der eine, tiefsinnig vom Brett aufsehend; sehn Sie einmal, durchlauchtiger Kriegsgefährte, der Neuling will uns wohl Schach spielen lehren? – Nehmen Sie es dem Grünling nicht übel, erhabener Mann, antwortete die andere Figur: er ist augenscheinlich nicht in die Geheimnisse des 189 Cosroes und die alte orientalische Spielweise eingeweiht; er weiß es ja nicht, daß Sie einer der Urindianer sind, großer Geist, und will nun seine Fibelweisheit hier scheinen lassen. Wissen Sie, junger Abendländer, Vandal, oder Gothe, vielleicht Slave, – man spielt hier nicht mit Brett und Schritt und Sprung, wie in den Westländern; unser freier Geist erkennt weder die conventionelle Würde des Königs, noch den niedern Rang der Bauern, sondern wir spielen nach Sympathie, in jenem Geist, der alle Welten nach unsichtbaren Gesetzen zusammenhält! In jeder Nacht hat mein Freund eine neue Inspiration, am folgenden Tage bin ich inspirirt; dann erräth der andre durch hochgetriebenen Instinkt, welch neues System sein Mitspieler ersonnen hat und geht in seine Mysterien ein. Das ist gar eine andre Vielseitigkeit, als das moderne Hin- und Herrutschen der Figuren.

Das ist freilich eine andre Sache, sagte Wolfsberg, indem er sich zurück zog. Er näherte sich dem Lesenden, sah aber zu seinem Erstaunen, daß dieser das Buch verkehrt hielt, und rückwärts die Blätter umschlug. Wie, mein Herr, sagte er höflich, sind Sie so zerstreut, daß Sie nicht bemerken, wie man auf diese Art nicht lesen kann? Oder sind Sie der Kunst etwa gar nicht mächtig? – Der Lesende stand schnell auf, machte ihm eine sehr tiefe Verbeugung, sah ihn an, beugte sich noch tiefer, und sprach dann mit einer lispelnden Stimme und mit überhöflichem Tone: geruhen dieselben gütigst zu bemerken, mein verehrter Herr Unbekannter, daß es denenselben gefällt, sich wie ein wahrer Einfaltspinsel auszudrücken. Nicht etwa, daß ich in Ihre eben so tiefen, als ausdrücklichen Einsichten einen Zweifel setzen wollte (fern sei von mir ein solcher Frevel!), so scheint es mir doch einleuchtend (möchte ich Sie auch übrigens anbeten), daß Sie mit der crassesten Ignoranz über eine 190 Wissenschaft sich äußern, die freilich Ihrem elenden, kurzen, stümperhaften Horizonte weit entwachsen ist. Was? Weil ich etwa nicht von vorn lese, oder das Buch verkehrt halte, darum könnte ich nicht lesen? Ja, und wenn ich nun selber keinen Buchstaben wüßte, armer Hergelaufener, und ich nähme das Buch nur mit Glauben und Andacht in die Hand, könnte es nicht auch in mich übergehen? Habt Ihr denn wohl schon oft lesend gelesen, und verstehend verstanden? Ja, Druckerschwärze und die krausen Figuren sind Euch in die Augen, Geruch von Leim und Papier in die Nase gekräuselt, und dazu habt Ihr eine Physiognomie geschnitten, wie Schafe beim Gewitter, und meint alsdann, Ihr habt Weisheit in Euch geschlürft, oder seid Eurem berühmten Autor gar noch über den Kopf gewachsen! Bester Nichtdenker, verehrter Strohkopf, ich war seit Jahren Recensent, thätig und einsichtsvoll, gewöhnte mich ans Blättern und hatte immer um so mehr Urtheil, um so weniger ich las; ich brachte es zu der Höhe, daß ich kaum den Titel anzusehn brauchte, nur, wo verlegt, so hatt' ich das ganze Buch weg. Ist das etwa keine Kunst? Seit ich mich in diese Einsamkeit zurück gezogen, habe ich, weil ich ein demüthiger Charakter bin, wieder zu lesen angefangen; aber warum denn von vorn? Das Ende ist mein Anfang, und da ich mich längst geübt habe, die Schrift umgekehrt zu erkennen, so wäre es mir nun gar nicht mehr möglich, auf Eure dumme, hirnlose, völlig altfränkische Art die Sache zu treiben. Und wo ist denn der Anfang, der anfinge, Ihr Gimpel? Setzt nicht das erste Verslein im Mose schon einen andern Anfang voraus? Und wenn wir den fänden, wiese er dann nicht wieder auf ein Voriges? O Ihr Bettelmann der Gegenwart und Dürftigkeit! ein Ende giebt es; ja in Eurem Verstande; mit dem seid Ihr längst zu Ende! – Er 191 verbeugte sich hierauf wieder sehr tief und beschloß: Verzeihung, Verehrtester und Einsichtsvollster aller Trefflichen, wenn ich, so tief ich auch unter Ihnen stehe, nur durch ein geringes Scherflein habe andeuten wollen, wie sehr ich mich bestrebe, Ihre Meinung zu fassen, und gewiß nicht wagen werde, Ihnen irgend in Hauptansichten zu widersprechen, sondern nur submissest einige kleine Zweifel, welche die Bitte um Belehrung enthalten, entgegen zu schütten, und dadurch nur Veranlassung gebe, noch tiefer Ihr tiefes Ingenium und noch klarer Ihren klaren Geist, noch glänzender die Glanz-Atmosphäre Ihres Wissens, Denkens, zu entwickeln, – und enfin, excellenter Mann, ich verstumme.

Heiliger Himmel! rief Wolfsberg mit Entsetzen aus, denn er erkannte nun erst, indem er noch einen hastigen Blick auf alle Gruppen warf, wo er sich befinde, – ich bin in einem Narrenhaus! Wer hat die Unverschämtheit gehabt, mich hieher zu versetzen?

Bei diesem lauten Ausruf und dem Worte Narrenhaus wurden plötzlich alle Thoren aus ihren stillen Gesprächen und Speculationen aufgeschreckt. Der Beobachter ließ seinen Maaßstab fallen und rannte herbei; der Aufgedunsene, der Bleiche, so wie der Kupferfarbene liefen schreiend herzu; die Schachspieler sprangen auf; der Lesende machte ein grimmiges Gesicht, und der schlafende Rothrock erwachte, indem er zugleich eine kleine Peitsche aus dem Busen zog. Was? Wie? schrieen Alle und tobten durch einander – ein Narrenhaus? Herr! Wissen Sie, was Sie sprechen? Er wird auch nicht für die Langeweile hier seyn, sagte der große kräftige Mann im rothen Rock, und er darf mir nicht viel gute Worte geben, so lasse ich ihn hier, so wie meine Pygmäen, tanzen, bis die bösen Geister aus ihm gefahren sind.

Und wo sollten Sie denn sonst seyn, lieber Mann, 192 schrie der Direktor zornig, der den verwirrten Haufen theilte und jeden zur Ruhe verwies; wenn Sie sich aber so aufführen und sich in Gesellschaft nicht zu nehmen wissen, so werden wir Sie wieder auf Ihr kleines Stübchen einquartiren müssen. Dies Wort zu nennen, was Sie gebrauchen, schickt sich in diesem Hause gar nicht, und schon aus Achtung vor mir müssen Sie es vermeiden! Und wer Sie hieher gesandt hat? Männer, denen Sie nicht verweigern werden, Gehorsam und Ehrfurcht zu bezeigen!

Wolfsberg war still und nachdenkend geworden, und der Rothgekleidete rief: hab' ichs nicht gesagt? indem er zugleich die kleine Peitsche nahm und eifrig gegen alle Wände des Saales schlug, bis er außer Athem und ganz kraftlos war. Der Director wandte sich unwillig ab, und als der Ermüdete sich wieder in seinen Sessel geworfen hatte, trat Wolfsberg zu diesem und fragte: was machten Sie eben, und was hat diese Anstrengung zu bedeuten?

Was? rief Herr Kranich aus (denn so nannten ihn die Uebrigen), Herr, wenn ich nicht wäre und die Augen immer offen hätte, so wären Sie und alle Uebrigen hier verloren; ja, ich möchte wohl wissen, was von der Welt sonderlich übrig bleiben würde. Sie sehn es nicht, wie diese verdammten Pygmäen, kleine böse Geister, mich allenthalben verfolgen, Gesichter schneiden, und alles Uebel auf Erden anrichten. Von diesen rührt auch Ihre Verstockung her, daß Sie nicht einsehn wollen, was an Ihnen ist; von diesen kleinen Creaturen entspringt alles Unglück, und ich muß sie unaufhörlich bewachen, um nur zu verhüten, daß sie nicht das Aergste ausüben.

So war Alles wieder beruhigt, als man einen Landedelmann mit seiner Familie anmeldete, die sich das Haus betrachten wollten. Ein ältlicher Mann trat lächelnd 193 herein und sah sich selbstgenügsam um; ihm folgte eine erwachsene Tochter, blöde und einfältig, und ein ebenfalls erwachsener Sohn, der sich gleich das Ansehn gab, als wenn er hier zu Hause gehöre. Der Director fuhr sogleich barsch auf sie zu, und fragte heftig, was zu ihrem Befehle sei. Gott bewahre! stammelte der Edelmann, indem er scheu zurück trat; ist denn hier kein andrer ruhiger Mann, der uns herumführen, und die Merkwürdigkeiten zeigen kann? Der Director sammelte sich wieder und sagte in sanftem Tone, daß er selbst der Vorsteher dieser Anstalt sei, und daß er sich ihm und dem kleinen Friedrich, der sich unterdessen wieder herbei gemacht hatte, getrost anvertrauen könne. Sie gingen hierauf friedlich durch den Saal, ergötzten sich an der Aussicht und betrachteten die Gesellschaft aus der Ferne, als sich der Kupferfarbene herbei machte und um die Erlaubniß bat, etwas vorzutragen.

Meine beiden trefflichen Schüler, fing er an, möchten heute einen poetischen Wettstreit halten, wie er bei den alten Griechen wohl üblich war, und es trifft sich gut, daß einige Fremde, als ganz unbefangene Zuhörer zugegen seyn können, um über die Verdienste meiner begeisterten Scholaren nach reifer Prüfung ein Urtheil zu fällen.

Er winkte, und der lange Blasse, so wie der Beleibte mit dem verschwollenen Gesichte näherten sich. Die Uebrigen schlossen einen Kreis; der Lesende drängte sich am nächsten, und der Pygmäenbekämpfer sah kritisch umher, ob auch keine bösen Geister die poetische Unterhaltung stören möchten.

Der Mann mit der Kupfernase wandte sich hierauf an den Edelmann, den er freundlich bei der Hand nahm und ihm die Tressen seines grünen Kleides streichelte. Englischer Mann, sagte er zärtlich, verstehen Sie wohl Galimathias zu sprechen?

194 Nein, sagte jener; was ist das für eine Sprache?

Schade, fuhr jener fort; da werden Sie es nur halb genießen können, denn etwas wenigstens sollten sich wohl alle Menschen damit befassen. Es ist zu verwundern, wie wenig wir immer noch auf unsre eigentliche Ausbildung wenden. Tretet zuerst vor, mein theurer Freund und Schüler, würdiger Troubadour und Meistersänger!

Der Aufgeschwollene räusperte sich, athmete tief auf und sprach dann schnell, aber mit einer krähenden Stimme: Sind wir nicht alle innigst von dem Gefühle durchdrungen, daß, wenn eine Krebsmoral erst an der tiefsten Wurzel der Menschenschicksale nagt, kein einziges Schaalthier mehr auf den Höhen der Gebirge wird gefunden werden? Gewiß, meine Theuersten, schlägt jeder mit erneuertem Mannsgefühl auf seine Brust, wenn er bedenkt, daß bei dem siderischen Einfluß, den jede Theemaschine auf die Verflechtung innerer Organe und Inspirationen unbedenklich ausströmt, die alten Germanen nimmermehr ihren Wodansdienst ohne Hülfsleistung abnormer Zustände und tief empfundener mikroskopischer Ansichten würden haben durchsetzen können. Denn hier kommt es ja nicht auf ein oberflächliches, leichtgewagtes Entdecken vulkanischer Revolutionen an; sondern die Menschheit selbst ruft das in uns auf, was schon im Anbeginn der Zeiten reif und heterodox, aber im galvanischen Mittelpunkt unendlicher Verschlossenheit, tief und geheimnißvoll gebrütet hat. War es denn nicht auch damals dieselbe große Schicksalskatastrophe und Weltumschwungsaxiomatische Wunderbegebenheit, als dasjenige, was man bis dahin nur für orkanische Centripetalkraft abgewogen hatte, sich plötzlich als das ungeheure Ixionsrad schwärmerischer Antediluvianer manifestirte? So merken wir, ist unsre Seele anders nicht völlig aphoristisch gebildet, und im Mausoleum hyrkanischer 195 Waldgötter anticipirt worden, daß umgekehrte Verhältnisse sich immer wieder zu Kegelausschnitten gestalten, wenn die Galaxie der Planeten sich in ekliptische Rodomantaden verwandeln möchte. Aber festhalten müssen wir einen Gedanken, daß die Hieroglyphen immer nur wieder Apostrophen ausgebären können, wenn wir nicht mit den conglomerirten Gnostikern annehmen wollen, daß die Hypotenuse der Polarvölker immer wieder in die materiellste Abstraction der eleusinischen Pyrrichien verfallen müßte, an welchem Irrthum auch schon der berühmte Johann Ballhorn in seinem großen granitgebundenen Werke vom Phlogiston der Polypenkrater verstorben ist, da er ein Apostem der großen alchemistischen Tinktur mit den rauschenden Katarakten der Amathontischen Apodiktik, mehr als ihm billig zugegeben werden konnte, verwechselt hat. So hoffe ich denn bewiesen zu haben, daß immer und ewig das große Geheimniß der peloponnesischen Antithese klar und verständlich ist ausgesprochen worden.

Gewiß! sagte der Edelmann.

Sublim! rief der Leser aus.

Ein Beifallsmurmeln ertönte aus der dichtgedrängten Umgebung.

Nun, Görge, was meinst Du? fragte der Edelmann, indem er sich an seinen Sohn wandte, der mit starren Augen und offnem Munde zugehört hatte.

Ich wollte nur, antwortete Görge, unser Herr Pastor wäre hier, der den Mann vielleicht widerlegen könnte; denn seine Reden klingen fast eben so.

Nun höre man aber auch, rief der Kupferne, meinen zweiten Zögling, den edeln, sanften Musenliebling.

Die lange, hagre Gestalt trat hervor und klagte in einem weinenden, schnell singenden Tone also: Ist nicht die Liebe und immer nur wieder die Liebe das hoch erhabne 196 athletische Bildwerk der ächten attischen Hybla-akademischen, süßflötenden Nachtigallen-Atmosphäre? Wer möchte sich der Thränen enthalten, wenn flutende Herzenslustren im Umschwung der zartesten Cicaden-Gesinnung nicht endlich einmal zur Vollendung einer umarmenden Schicksals-Apotheose hinstreben sollen? Denn das Bildwerk liebender Gestirne ist ja doch nur ein Abglanz häuslicher und mattherzig rührender Sarkophag-Mumien-Attribute; vorausgesetzt, das fromme kindliche Gemüth hat sich schon in eine Phaläne von träumerischen Allegorieen verwandelt, und ist die ganze sublunarische Etymologie der peripatetischen, eben so großartigen, als herzergreifenden Sylbenstechereien uralter Religionsentzündungen durchgegangen. Fragt sich einzig nur: hat ein kryptogamisches Pfeifergericht von enggetriebenen Bildwerken nicht immerdar den Blumenstaub somnambulistischer Zustände auf hydraulische Weise mit Prophetenencyklopädieen vorher verkündigt? worauf die mathematische Antwort lautet: so gewiß der Umkreis der Welt einzig in den Umfang sanfter Cirkelschwingungen gebannt ist, so gewiß hat auch jede Periode und bacchische Begeisterung im Lichtscheine der erotischen Neufundländer Sitz und Stimme gefunden. Denn, was ist es denn, was das Echo unsrer Brust ewig beweint? Nicht wahr, daß noch kein Sterblicher in das Universal-Paradoxon der Himmelskräfte hat einschlüpfen können? Aber dennoch sagen uns begeisterte Seher, daß das Berlappenmehl dazu diene, den Blitz der Götter, so wie alle diagonale hochgefeierte Perioden des Immateriellen zu erschöpfen, wenn wir nicht vergessen, daß Phidias darum der Große genannt wird, weil er zuerst die petrarkische Elegie in der neuen Ausgabe der Homilien hat mit Vignetten in einen großen Salat von Vergißmeinnicht bei den Olympischen Spielen verzehren lassen, was eben die Ursache war, daß 197 Romeo und Julia sterben mußten, so sehr sie auch vorher auf Pardon vom Könige von Abyssinien rechnen durften. Aber das ist das Große und Erschütternde eben in den edelsten Lebensverhältnissen, daß die Liebe des Herzens immer wieder auf die reine und unreine Mathematik angewendet werden soll, was doch kaum dem Platonischen John Bull möglich gewesen ist, mit Hülfe seines Freundes, des großen Eklektikers Pope, vermöge seiner Stanzen und der noch berühmtern Parlamentsreform einzuführen. Daher bleibt unserm Leben diese ewige Trauer, daß jede Sonnenblume in Oel kann verwandelt werden, wenn wir umgekehrt niemals einen Tropfen Oel in Blumen, ja kaum in Sonnen umschmelzen können; daher ist die Thräne an unsrer Wimper ein zartes Herzenssiegel, welches tropfend beurkundet, daß wir alle nur Blindschleichen und arme Würmer sind. Dies herzzerreißende Gefühl mitzutheilen, habe ich mich nicht enthalten können.

Die Tochter des Edelmanns weinte und sagte: Ja wohl, ist unser Leben nur ein zerbrechliches Geschirr! Der Lehrer aber sah triumphirend umher und fragte: nun, meine Freunde, welchem würden Sie den Preis zuerkennen?

Das zweite, sagte das junge Mädchen, war mehr für das Herz, das erste mehr für den Geist.

So ist es, sagte Herr Kranich; der lange Herr Melchior hat die beste Rede gehalten, wir sind Alle gerührt; dazu hat er eine Stimme wie eine Nachteule oder Unke, die Thränen laufen einem über die Nase, man weiß nicht wie.

Ja, meine theuern Freunde und Sie, verehrte fremde Zuhörer, sagte der beleibte Lehrer, ich bin stolz darauf, daß ich in diesen beiden Männern diese großen Talente habe wecken und zur Reife führen können. Diese sokratische Hebammenkunst ist es, in welche ich meinen Stolz setze, da ich 198 selber nichts dergleichen hervor bringen kann. Aber meine Schüler werden mich unsterblich machen. Doch soll der liebende, herzliche Melchior seines Kranzes nicht entbehren.

Er heftete diesem einen Stern von Blech an die Brust, mit welchem der lange blasse Mann sich brüstend durch den Saal schritt. Der Aufgedunsene ging verdrießlich in eine Ecke und murmelte: Abgeschmackter Kerl! Er hat doch durchaus keinen Begriff vom Aechten! Ich von ihm gelernt! Ja, freilich, wenn ich solche Alfanzereien spräche, wie die aschgraue Hopfenstange!

Ruhig, großer Mann, sagte der Lesende, der ihm nachgegangen war; das Erhabene wird nie verstanden, so ist es vom Anfang der Schöpfung gewesen. der größere Sophokles wurde eben so vom süßlichen Euripides verdunkelt; Terenz mußte Seiltänzern weichen; Phidias ward verkannt; Dante aus seinem Vaterlande vertrieben. Lassen Sie den Narren mit dem alten Stückchen Blech laufen; Ihr Herz sei Ihr Elysium, und morgen werde ich Ihnen eine zinnerne Schnalle bringen; heften Sie diese an Ihre erhabene Brust und verachten Sie den Gegner.

Der Edelmann hatte sich indessen wieder mit dem Sokrates ins Gespräch eingelassen, und bewunderte am meisten, daß die beiden Proberedenden diese Fülle von Gedanken und gelehrten Materien so aus dem Stegereif hätten hersagen können. Begeisterung, rief der Sokratiker, ist Alles, sie haben ihr Gemüth gesammelt, und dann aus dem Mittelpunkt ihres Wesens den rauschenden Springquell der Suada hingeströmt.

Ich kann niemals, äußerte der Edelmann, gegen meinen Pfarrer zu Worte kommen; wären Sie nun capabel, mir auch die Zunge zu lösen, daß ich so wie ein Advokat oder Prokurator zu reden wüßte?

199 Der Director zupfte kopfschüttelnd den Edelmann am Rocke; dieser sah sich verdrießlich um, indem der finstre Mann zu ihm sagte: lieber Mann, Sie verweilen offenbar zu lange in dieser Gesellschaft; dieser Umgang kann Ihnen unmöglich gut bekommen.

Indem erhob sich ein lautes Getümmel am andern Ende des Saales. Lassen Sie mich ungeschoren; rief der junge Wolfsberg laut, ich müßte ja selbst unsinnig seyn, wenn ich dergleichen Unsinn bewundern, oder mir auseinandersetzen wollte, welche von den beiden abgeschmackten Reden die bessere sei.

Die erste ist aber die bessere, rief der Lesende, und wenn Sie keine Kritik mehr respectiren wollen, so ist es mit Ihrem eigenen Verstande nur schwach bestellt. Und was nennen Sie denn Unsinn, Bester? O mein verehrter Widerwärtiger, hundert Meilen wollte ich reisen, wenn ich dergleichen doch nur einmal in Wahrheit anzutreffen wüßte. Das ist ja mein Jammer, daß ich mich schon seit länger als zehn Jahren damit abquäle, einmal den Unsinn zu finden. Aber rutschen Sie durch zehn Schauspielhäuser, und wenn Sie in jedem flüchtig auch nur ein paar Secunden verweilen, so hören Sie leider allenthalben etwas leidlich Vernünftiges; ja was noch schlimmer ist, die zehn kurzen Fragmente aus dem Trauer- und Lustspiel, aus dem Familiengemälde und der Posse, aus der Oper und dem Nachspiel, werden zusammen noch einen passabeln Satz formiren, über den sich sprechen läßt. Ein Blättchen, das Sie finden, ein Wort, das Sie aus dem Fenster hören, ein Gespräch aus einer vorüberrollenden Kutsche, Alles, Alles will leider noch etwas Verständiges aussprechen. Habe ich es nicht damals, als ich diese Liebhaberei zuerst bekam, an mich gewandt, die brillantesten Romane und Schauspiele, die verrufensten Broschüren anzukaufen und zu 200 lesen, weil ich von allen Seiten hörte, daß Unsinn darin vorkäme. Nichts da! Eine alberne dumme Vernünftigkeit fand ich allenthalben, daß die Sachen mich auch gleich anekelten, eine miserable Lust, hie und da über die Schnur zu hauen, und gleich zum alltäglichen Verstande, wie Kinder im Finstern zur Mutter zurück gelaufen. Ja, mein Herzensfreund, in allem dem Geschwätz über Liberalismus und Monarchismus, in diesen Schilderungen von Riesen, Rittern und Pferden, in den Elementargeistern und Gespenster-Katzbalgereien, in dieser frömmelnden, liebesiechen Inspirationssucht ist immer noch kein rechter Aufschwung; allenthalben die kalte Vernunft; die Philisterei der Philisterei; und so sehr ich unsern Demosthenes oder Aeschylus hier in seiner ersten Rede verehre, so möchte ich sie doch nicht so übertrieben loben, daß ich sie unsinnig zu nennen wagte, denn jeden einzelnen Satz würde ich zu beweisen unternehmen und auch zeigen können, wie innig alle unter einander zusammenhangen. Von der zweiten Rede kann gar nicht die Rede seyn, denn sie war ganz trivial.

Der verschmähte Redner hatte sich indessen die Zinnschnalle aus dem Zimmer des Lesenden geholt, und stolzirte mit diesem Schmucke schon im Saale auf und ab. Der Blasse wollte ihm die Auszeichnung nicht gönnen, weil sie seinen eignen Ruf zu beeinträchtigen schien. Er ging daher auf den Usurpator zu, und suchte ihm das glänzende Zeichen zu entreißen; dieser aber wehrte sich und wurde vom Recensenten vertheidigt. Die Schachspieler nahmen dieselbe Partei, indessen der Denker mit dem Maaßstabe den sanften Melchior zu beschützen strebte. Der Edelmann und Wolfsberg standen in der Mitte, und da sich bald aus dem Gezänk ein Stoßen und Schlagen entwickelte, so zog der Pygmäen-Bekämpfer seine kleine Peitsche hervor, und schlug ohne 201 Unterschied unter beide Parteien hinein, indem er behauptete, daß er allenthalben auf Rücken und Schultern jene bösen Geister wahrnehme, welche nur aus Bosheit diesen Zank und Streit unter Menschen erregt, die bisher immer als befreundete Wesen mit einander hätten leben können. Der Director fuhr ebenfalls tobend dazwischen, und durch seine drohenden und ernstlichen Worte ward der Friede endlich wieder hergestellt, obgleich Wolfsberg und der Edelmann, beide als unschuldige Zuhörer, manchen Streich davon getragen hatten, weil es die boshaften Pygmäen-Geister nicht unter ihrer Würde gehalten hatten, diese neutralen Leiber während des Krieges besetzt zu halten. Der Edelmann verließ die Anstalt sehr verdrießlich, und sein Sohn Görge begriff nicht, wie eine so lehrreiche Unterhaltung ohne alle Veranlassung eine so kriegerische Wendung hatte nehmen können.



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