Leo N. Tolstoj
Anna Karenina. Erster Band
Leo N. Tolstoj

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3.

»Bist du ihm begegnet?« frug sie, als beide am Tische hinter der Lampe Platz genommen hatten. »Da hast du ja deine Strafe dafür, daß du dich verspätet hast.«

»Ja, aber wie ist das? Er müßte doch im Rate sein?«

»Er war dort und kam zurück, worauf er wieder fortgefahren ist. Doch das thut nichts; sprich nicht davon. Wo bist du gewesen? Stets mit dem Prinzen?«

Sie kannte alle Einzelheiten seines Lebens. Er hatte ihr sagen wollen, daß er die ganze Nacht nicht geschlafen habe und eingeschlafen sei, als er aber ihr aufgeregtes und glückliches Antlitz sah, fühlte er Gewissensbisse, und er teilte ihr mit, daß er hätte Rapport erstatten müssen über die Abreise des Prinzen.

»Jetzt aber ist alles vorüber und er ist fort?«

»Gott sei Dank, es ist vorbei. Du kannst nicht glauben, wie unerträglich mir das gewesen ist.«

»Weshalb denn? Dies ist doch das gewöhnliche Leben von euch jungen Männern allen?« sagte sie, die Brauen ziehend, und nach einer Häkelei, die auf dem Tische lag greifend, ohne Wronskiy anzublicken.

»Ich habe dieses Leben schon lange aufgegeben,« sagte er, verwundert über die Veränderung im Ausdruck ihres Gesichts und sich bemühend, die Bedeutung derselben zu erforschen. »Ich gestehe,« fuhr er fort, lächelnd seine engstehenden weißen Zähne zeigend, »daß ich in dieser Woche mich wie in einem Spiegel gesehen habe, indem ich dieses Leben schaute, und es ist mir unangenehm geworden.«

Sie hielt ihre Arbeit in den Händen, häkelte aber nicht, sondern schaute ihn mit seltsamem, glänzendem und freundlichem Blick an.

»Heute morgen ist Lisa bei mir auf Besuch gewesen – man scheut sich noch nicht, mich zu besuchen, trotz der Gräfin Lydia Iwanowna,« begann sie, »und sie erzählte mir von Eurem athenischen Abend. Welche Abgeschmacktheit das doch war!«

»Ich wollte nur erzählen, daß« –

Sie unterbrach ihn.

»War es nicht Therese, die du früher gekannt hast?«

»Ich wollte erzählen« –

»Wie ihr Männer doch häßlich seid! Wie könnt ihr euch denken, daß ein Weib dies je vergäße,« sprach sie, mehr und mehr in Erregung geratend, und ihm damit die Ursache ihrer Aufregung zeigend, »und besonders das Weib, welches dein Leben nicht kennen kann. Was weiß ich davon? Was habe ich davon gewußt?« sagte sie, »nur das, was du mir selbst davon erzählst. Aber woher könnte ich wissen, ob du mir die Wahrheit damit gesagt hast?«

»Anna! Du kränkst mich. Glaubst du mir denn nicht? Habe ich dir denn nicht gesagt, daß ich keinen einzigen Gedanken hege, den ich dir nicht entdeckte?«

»Ja, ja,« antwortete sie, offenbar im Bemühen, die Regungen der Eifersucht von sich zu weisen, »aber hättest du gewußt, wie schwer mir zu Mute ist. Ich glaube, ich glaube dir ja – doch was sagtest du?«

Er war nicht imstande, sich sofort dessen zu entsinnen, was er hatte sagen wollen. Diese Anfälle von Eifersucht, die sie in der letzten Zeit immer häufiger und häufiger überkamen, erschreckte ihn, und so sehr er sich auch mühte, es zu verbergen, stimmten ihn kühler gegen sie, obwohl er recht gut wußte, daß die Ursache dieser Eifersucht ihre Liebe zu ihm war. Wie vielmal schon hatte er sich gesagt, daß ihre Liebe für ihn ein Glück sei; und nun, da sie ihn liebte, wie ein Weib nur lieben kann, für welche alle Güter im Leben von der Liebe überwogen werden – fühlte er sich bei weitem ferner von jener Glückseligkeit, als damals, da er ihr von Moskau aus nachgereist war.

Damals hatte er sich für unglücklich gehalten, aber das Glück kam noch; jetzt fühlte er hingegen, daß das höchste Glück bereits dahinten liege. Sie war durchaus nicht mehr die Nämliche, als welche er sie in der ersten Zeit gesehen hatte; innerlich und äußerlich hatte sie sich zu ihren Ungunsten verändert. Sie war dicker geworden, und als sie von der Schauspielerin sprach, lag ein schlimmer, verderbenschwangerer Ausdruck auf ihren Zügen, der sie entstellte.

Er blickte sie an, wie ein Mensch auf eine durch ihn selbst abgerissene und nun welk gewordene Blüte schauen mag, an welcher er nur mit Mühe noch die Schönheit wiedererkennt, wegen deren er sie brach und dem Untergang weihte.

Außerdem aber fühlte er auch, daß er seine Liebe damals, als sie noch stärker war, wenn er ernstlich gewollt hätte, aus seinem Herzen zu reißen vermocht haben würde. Jetzt aber, da ihm, wie in dem gegenwärtigen Augenblick, schien, als ob er gar keine Liebe zu ihr empfinde, jetzt erkannte er, daß sein Bund mit ihr nicht mehr gelöst werden könne.

»Ah, du wolltest mir doch wohl vom Prinzen erzählen? Ich habe den Satan verjagt, ich habe ihn verjagt,« fügte sie hinzu. Satan nannten sie beide unter sich die Eifersucht. »Also was begannst du denn vom Prinzen zu erzählen? Weshalb ist es dir bei ihm so lästig geworden?«

»O, unerträglich!« sagte er, sich bemühend, den Faden zu dem ihm entfallenen Gedanken wieder zu erfassen. »Er gewinnt nicht im näheren Umgang, und soll man ihn näher bezeichnen, so ist er ein vorzüglich gepflegtes Tier, für das man auf den Ausstellungen die Preismedaillen zu erhalten pflegt, weiter nichts,« sagte er mit einem Verdruß, der bei ihr Interesse hervorrief.

»Wie, in der That?« fiel sie ein. »Er hat aber doch so viel gesehen, ist so gebildet?«

»Es ist eine grundverschiedene Bildung – die Bildung solcher Leute. Er ist offenbar nur deswegen gebildet worden, damit er ein Recht besitzen möchte, die Bildung von oben herab anzusehen, wie sie überhaupt alles verachten – mit Ausnahme der Gegenstände ihres Vergnügens.«

»Ihr liebt aber doch auch diese Gegenstände des Vernügens!« sagte sie, und er bemerkte wiederum jenen düstern Blick, der ihn mied.

»Warum nimmst du ihn in Schutz,« frug er lächelnd.

»Ich verteidige ihn nicht; es ist mir alles vollkommen gleichgültig; aber ich glaube, daß du, wenn du selbst diese Zerstreuungen nicht liebtest, wohl hättest absagen können. Dir aber machte es Vergnügen, Therese zu sehen im Kostüme der Eva.«

»Wieder und wieder der Diabolus,« erwiderte Wronskiy, die Hand ergreifend, welche sie auf den Tisch gelegt hatte, und sie küssend.

»Ja wohl, aber ich kann nicht anders! Du weißt nicht, wie ich mich gemartert habe, indem ich deiner harrte. Ich denke wohl, daß ich nicht eifersüchtig bin; ich bin nicht eifersüchtig und glaube dir, wenn du hier bei mir bist; aber sobald du anderswo allein dein Leben, das mir unverständlich ist, führst« – Sie wandte sich ab von ihm, sich wieder mit ihrem Häkelzeug beschäftigend, und begann mit Hilfe des Zeigefingers eine Masche der im Schein der Lampe hellschimmernden weißen Wolle nach der anderen aufzunehmen, wobei sich die zarte Hand mit nervöser Hast in dem Ärmel umwendete. »Aber, wo trafst du denn mit Aleksey Aleksandrowitsch zusammen?« erklang plötzlich ihre Stimme in fast unnatürlichem Tone.

»Wir trafen an der Thür zusammen.«

»Grüßte er dich?«

Sie zog das Gesicht in die Länge, schloß die Augen halb, schnell den Ausdruck ihrer Züge verändernd und die Hände ineinander legend. Wronskiy gewahrte auf ihrem schönen Antlitz plötzlich den nämlichen Ausdruck, mit welchem ihn Aleksey Aleksandrowitsch gegrüßt hatte.

Er lächelte, sie aber lachte heiter auf mit jenem lieben, herzlichen Lachen, welches einen ihrer Hauptreize ausmachte.

»Ich begreife ihn entschieden nicht,« antwortete Wronskiy. »Wenn er noch nach deiner Erklärung auf der Villa mit dir gebrochen und mich zum Duell gefordert hätte – aber dies verstehe ich nicht. Wie vermag er eine solche Lage zu ertragen? Er leidet ja; das ist offenbar.«

»Er?« sagte sie lächelnd, »er ist vollkommen zufrieden.«

»Weshalb aber martern wir uns dann alle, wenn alles ganz gut werden könnte?«

»Nur er martert sich nicht. Soll ich sie etwa nicht kennen, diese große Lüge, in welcher er großgezogen ist? Ist es möglich, – wenn man nur ein wenig fühlt, – so zu leben, wie er mit mir lebt? Er versteht nicht und fühlt nicht. Kann denn ein Mensch, welcher nur einigermaßen fühlt, mit seiner verbrecherischen Frau in einem Hause leben? Kann er mit einer solchen sprechen? Sie mit ›du‹ anreden?« Unwillkürlich stellte sie sich sein, »du, ma chère Anna,« vor. »Er ist kein Mann und kein Mensch, er ist eine Puppe! Niemand weiß das, als ich. O, wäre ich an seiner Stelle, ich hätte längst gemordet, ich hätte in Stücke zerrissen dieses Weib, das so handeln konnte, wie ich, – aber ich hätte nicht gesagt ›ma chère Anna!‹ Das ist kein Mensch, sondern eine Maschine des Ministeriums. Er begreift nicht, daß ich dein Weib bin, daß er mir ein Fremder ist, ein Überflüssiger. Aber wir wollen nie mehr miteinander davon sprechen!« –

»Du bist im Unrecht, ganz im Unrecht, meine Liebe,« sagte Wronskiy, sich bemühend, sie ruhiger zu stimmen. »Aber immerhin sprechen wir nicht mehr von ihm. Erzähle mir lieber, was du bisher gethan hast? Wie geht es dir selbst? Wie steht es mit deiner Gesundheit und was hat der Arzt gesagt?«

Sie blickte ihn spöttisch und voll Freude zugleich an. Offenbar hatte sie lächerliche oder ungeheuerliche Seiten in diesem Manne da vor ihr entdeckt, und wartete nun nur auf den Augenblick, da sie dies mitteilen konnte.

Er aber fuhr fort: »Ich vermute, es ist kein eigentliches Leiden, sondern nur deine Situation, welche dich krank macht. Wann wird dann die Krisis eintreten?«

Der spöttische Glanz ihrer Augen erlosch, aber ein anderes Lächeln, das Kennzeichen eines ihm unbekannten, verborgenen Schmerzes, löste den früheren Ausdruck ab.

»Bald, bald. Du sagtest, daß unsere Lage peinlich sei, daß wir ihr ein Ende machen müßten. Wüßtest du doch, wie mir dies schwer wird, was ich darum geben möchte, dich frei und kühn lieben zu dürfen. Dann würde ich weder mich noch dich mit meiner Eifersucht quälen. Jene Krisis wird bald eintreten, aber nicht so, wie wir denken.« Bei dem Gedanken daran, wie es kommen würde, erschien sie sich selbst so beklagenswert, daß ihr die Thränen in die Augen traten und sie nicht weiter zu sprechen vermochte. Sie zog ihre in der Lampe weißschimmernde beringte Hand in den Ärmel zurück. »Sie wird nicht so eintreten, wie wir denken. Ich wollte es dir nicht sagen, aber du veranlaßtest mich dazu. Bald, bald wird sich alles lösen und wir alle, alle werden ruhig werden und uns nicht mehr quälen.«

»Ich verstehe nichts,« sagte Wronskiy, sie recht wohl verstehend.

»Du frugest mich, wenn die Krisis käme? Nun bald! Ich selbst werde sie nicht überleben. Unterbrich mich nicht.« Sie fuhr hastig fort zu sprechen, »ich weiß das, ich weiß es gewiß! Ich werde sterben, und bin sehr froh, daß ich sterben und mich und euch erlösen werde.« Thränen rannen ihr aus den Augen; er aber beugte sich auf ihre Hand herab und küßte sie, um seine Bewegung zu verbergen, die – er wußte es – zwar keinerlei Grund hatte, aber gleichwohl nicht zu beschwichtigen war. »So wird es kommen, und so wird es am besten sein,« sagte sie, seine Hand mit heftiger Bewegung pressend; »das ist das Einzige, was uns geblieben ist.«

Er kam zu sich und hob das Haupt.

»Welch eine Thorheit! Welch sinnlose Thorheit du da sprichst!«

»Nein, nur Wahrheit.«

»Was, was für eine Wahrheit?«

»Daß ich sterben werde. Ich habe einen Traum gehabt.«

»Einen Traum?« Wronskiy fiel sofort der Bauer in seinem eigenen Traume ein.

»Ja, einen Traum,« sagte sie. »Schon vor Langem habe ich ihn einmal gehabt diesen Traum. Ich träumte, daß ich in mein Schlafzimmer eilte, weil ich dort etwas holen, nach etwas sehen wollte – du weißt ja, wie das im Traume ist,« sagte sie, vor Schrecken die Augen weit aufreißend, »im Schlafzimmer aber stand etwas« –

»Thorheiten, wie kann man glauben« –

Doch sie ließ sich nicht unterbrechen; das, was sie erzählte, war viel zu wichtig für sie.

– »und dies Etwas bewegte sich. Ich sah, daß es ein Bauer war, mit wirrem Bart, klein und furchterweckend von Aussehen. Ich wollte davon laufen aber er beugte sich über einen Sack und wühlte mit den Händen darin.« Sie vergegenwärtigte sich, wie die Erscheinung in dem Sacke gewühlt hatte, und Entsetzen spiegelte sich in ihren Zügen. Wronskiy empfand in der Erinnerung an seinen eigenen Traum einen gleichen Schrecken, der ihm die Seele erfüllte. »Er wühlte und hatte französisch gesagt il faut le battre le fer, le broyer, le pétrir! Ich wollte voll Entsetzen erwachen und erwachte – aber ich war nur im Traume erwacht. Ich frug mich nun, was das zu bedeuten habe. Korney sagte mir ›das bedeutet, daß Ihr an einer Geburt sterben werdet, Matuschka, an einer Geburt.‹ – Dann erwachte ich wirklich.« –

»Thorheiten, was für Thorheiten!« sagte Wronskiy, fühlte aber selbst, daß nichts Überzeugendes in seinen Worten lag.

»Doch lassen wir das. Klingle, ich will Thee geben lassen. Oder warte noch, ich habe noch nicht lange erst« – plötzlich hielt sie inne. Der Ausdruck ihres Gesichts veränderte sich momentan; Schrecken und Aufregung wechselte mit dem Ausdruck einer stillen, ernsten und verzückten Aufmerksamkeit. Er war nicht imstande, die Bedeutung dieser Verwandlungen zu begreifen. Sie hatte in sich die Bewegung eines neuen Lebens wahrgenommen.

 


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