Graf Alexei N. Tolstoi
Aëlita
Graf Alexei N. Tolstoi

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In der gleichen Nacht

In dieser Nacht mußte Mascha lange auf ihren Mann warten – sie hatte den Teekessel schon mehrere Male auf dem Petroleumkocher aufgewärmt. Hinter der hohen Eichentür war es still und etwas unheimlich.

Gussjew und Mascha bewohnten ein Zimmer in dem großen, reichen, jetzt verlassenen Hause. Seine Bewohner hatten es während der Revolution aufgegeben. Regengüsse und Winterstürme hatten in den vier Jahren sein Inneres arg beschädigt.

Es war ein großes Zimmer. Auf der mit Schnitzwerk und Gold dekorierten Decke flog auf einer Wolke eine üppige Frauengestalt mit lächelndem Gesicht, von geflügelten Kindern umgeben.

»Siehst du, Mascha,« pflegte Gussjew zusagen, auf die Decke zeigend, »wie lustig und gesund die Frau ist, sechs Kinder hat sie, das nenne ich ein Weibsbild!«

Über dem vergoldeten, auf Löwenpranken ruhenden Bett hing das Bildnis eines Alten in gepuderter Perücke, mit fest zusammengedrückten Lippen und einem Ordensstern an der Brust. Gussjew nannte ihn »General Trampelmann«: – »Der kannte keine Gnade, wenn ihm etwas nicht paßte, trampelte er gleich mit den Beinen!« Mascha fürchtete sich, das Bildnis anzusehen. Durch das ganze Zimmer ging ein eisernes Rohr vom eisernen Ofen, der die ganze Wand verraucht hatte. Auf den Wandregalen und auf dem Tische, auf dem Mascha das Essen bereitete, herrschte peinliche Ordnung.

Die geschnitzte Eichentür ging nach einem mit Eichenholz getäfelten Saal. Die eingeschlagenen Fenster waren hier mit Brettern vernagelt, die Decke stellenweise eingestürzt. In windigen Nächten heulte hier der Wind und Ratten liefen herum.

Mascha saß am Tisch. Die Flamme des Petroleumkochers zischte. Aus der Ferne klang das traurige Glockenspiel der Peter-Pauls-Kathedrale; die Uhr schlug zwei. Gussjew wollte nicht kommen. Mascha dachte:

Was sucht er, was fehlt ihm? Immer ist er auf der Suche, seine Seele ist so unruhig. Aljoscha, Aljoscha... Wenn er doch nur ein einziges Mal die Augen schließen, den Kopf wie ein Kind an meine Schulter schmiegen wollte: Ach, such' doch nichts, du wirst nichts finden, was teurer wäre als mein Mitleid.

In Maschas Wimpern glänzten Tränen. Sie wischte sich langsam die Augen und stützte die Wange in die Hand. Über ihrem Kopfe flog die heitere Frau mit den lustigen Kindern und konnte doch nicht fortfliegen. Mascha dachte sich: Wenn ich wie diese da wäre, würde er niemals von mir gehen.

Gussjew hatte ihr gesagt, daß er eine weite Reise vorhabe, aber wohin, wußte sie nicht und fürchtete, ihn zu fragen. Sie sah auch selbst ein, daß es ihm unerträglich schwer war, hier mit ihr in diesem seltsamen Zimmer, in der Stille, ohne den einstigen Willen, zu leben. Nachts knirscht er zuweilen im Schlafe mit den Zähnen, schreit dumpf auf, setzt sich und atmet schwer – die Zähne sind aufeinandergebissen, Gesicht und Brust in Schweiß gebadet. Dann sinkt er zurück, schläft wieder ein, und am Morgen ist er so furchtbar düster und kann keinen Platz finden.

Mascha war immer sanft mit ihm und behandelte ihn klüger als eine Mutter. Er liebte sie dafür und hatte mit ihr Mitleid, aber wenn der Morgen kam, dachte er schon wieder ans Fortgehen.

Mascha diente irgendwo und brachte ihre Lebensmittelration heim. Geld hatten sie oft gar keins. Gussjew versuchte es mit allerlei Geschäften, gab sie aber immer wieder auf. »Die Alten sagten, in China gäbe es einen goldenen Keil,« pflegte er zu sagen; »einen solchen Keil gibt es wohl nicht, aber das Land ist dort noch wirklich unerforscht. Mascha, ich will mal nach China gehen und schauen, was dort los ist.«

Mascha erwartete mit Todesangst die Stunde, wo Gussjew von ihr gehen würde. Sie hatte außer ihm niemand auf der Welt. Seit ihrem fünfzehnten Jahre diente sie als Ladenmädchen, später als Kassiererin auf den Newadampfern. Ihr Leben war freudlos und einsam gewesen. Im vorigen Jahre hat sie an einem Feiertage, auf einer Bank im Pawlowsker Parke, Gussjew kennengelernt. Er hatte sie angesprochen: »Ich sehe, Sie sitzen so allein, gestatten Sie mir, Ihnen Gesellschaft zu leisten – es ist so langweilig, allein zu sein.« Sie sah ihn an: ein gutmütiges Gesicht, lustige Augen, und dabei nüchtern. »Ich habe nichts dagegen«, antwortete sie sanft. Sie gingen bis zum Abend im Parke spazieren. Gussjew erzählte ihr von den Kriegen, Überfällen, Revolutionen; Geschichten, die man in keinem Buche findet. Dann begleitete er Mascha nach Petersburg, bis zu ihrer Wohnung, und besuchte sie von nun an öfters. Mascha gab sich ihm einfach und ruhig hin. Und plötzlich gewann sie ihn lieb und fühlte mit ihrem ganzen Blute, daß er ihr nahe und vertraut war. Und am gleichen Tage begann ihre Qual. –

Der Teekessel kochte. Mascha nahm ihn vom Feuer und saß wieder still da. Schon lange glaubte sie, ein Geräusch hinter der Tür im leeren Saal zu hören. Es war ihr aber so traurig zumute, daß sie es nicht beachtete. Doch jetzt hörte sie ganz deutlich schlürfende Schritte.

Mascha machte schnell die Tür auf und sah hinaus. Durch eines der Fenster drang das blasse Licht einer Straßenlaterne in den Saal, und auf den niederen Säulen lagen runde Reflexe. Zwischen den Säulen erblickte Mascha einen grauhaarigen Alten mit gesenktem, bloßem Kopfe in einem langen Mantel – er stand mit vorgestrecktem Halse da und sah Mascha an. Sie fühlte ihre Beine schwach werden.

»Was suchen Sie hier?« fragte sie ihn im Flüsterton.

Der Alte hob einen Finger und drohte ihr. Mascha schlug die Tür mit aller Kraft zu – ihr Herz klopfte wie wild. Sie lauschte, die Schritte entfernten sich: der Alte ging wohl die Paradetreppe hinunter.

Bald darauf ertönten vom andern Ende des Saales die schnellen Schritte ihres Mannes. Gussjew trat lustig ein, ganz mit Ruß beschmiert.

»Gib mir mal Wasser zum Waschen«, sagte er ihr, seinen Hemdkragen aufknöpfend. »Morgen geht die Reise, leben Sie wohl. Hast du heißes Wasser? Das ist gut.« Er wusch sich das Gesicht, den kräftigen Hals und die Arme bis zu den Ellbogen und sah, während er sich abtrocknete, seine Frau an. »Hör' schon auf, ich geh' nicht verloren und kehre wieder zurück. Meine Stunde schlägt nicht so bald. Dem Tode kann man aber sowieso nicht entrinnen: eine Fliege berührt dich im Fluge mit dem Bein, und schon bist du tot.«

Er setzte sich an den Tisch, schälte die gekochten Kartoffeln, brach sie entzwei und tauchte sie in Salz.

»Bereite mir für morgen reine Wäsche vor, zwei Hemden, zwei Paar Unterhosen, zwei Paar Fußlappen. Vergiß auch nicht ein Stück Seife und Nähzeug. Was hast du, hast schon wieder geweint?«

»Ich bin so erschrocken«, antwortete Mascha, sich von ihm wegwendend. »Ein Alter ging hier herum und drohte mir mit dem Finger. Aljoscha, reise nicht fort!«

»Bedeutet es, daß ich nicht fortreisen soll?«

»Es bedeutet Unglück.«

»Schade, daß ich verreise, sonst würde ich es diesem Alten schon zeigen. Es ist sicher einer von denen, die hier früher gewohnt haben, jetzt schleicht er in der Nacht herum und sucht uns zu vertreiben.«

»Aljoscha, kehrst du noch zu mir zurück?«

»Ich sagte dir schon, daß ich zurückkehre, also kehre ich zurück. Pfui, wie unruhig du bist.«

»Fährst du weit weg?«

Gussjew pfiff, winkte zur Decke hinauf, goß sich heißen Tee in die Untertasse und sagte, mit den Augen lächelnd:

»Über die Wolken, Mascha, wie dieses Weibsbild.«

Mascha ließ nur den Kopf sinken. Gussjew ging zu Bett. Mascha räumte geräuschlos das Geschirr weg, stopfte dann seine Socken und sah ihn nicht mehr an. Und als sie sich entkleidete und auf das Bett zuging, schlief Gussjew schon, die Hand auf der Brust, die Augen ruhig geschlossen. Mascha legte sich an seine Seite und sah ihn an. Über ihre Wangen rollten Tränen – so teuer war er ihr, so sehr sehnte sie sich nach seinem unruhigen Herzen. »Wo fliegt er hin, was sucht er? Suche nicht, du findest nichts, was teurer wäre als meine Liebe.«

Mascha stand beim Morgengrauen auf, putzte seine Kleider und legte die reine Wäsche zurecht. Gussjew stand auf, trank Tee, scherzte und streichelte Mascha die Wange. Er ließ ihr Geld zurück, einen ganzen Haufen. Er lud sich seinen Sack auf den Buckel, blieb in der Tür noch einmal stehen und bekreuzigte Mascha. Dann ging er. So erfuhr sie nicht, wohin seine Reise ging.


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