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Lossj und Gussjew bewegten sich mit vorgestreckten Armen vorsichtig durch die stickige, schwüle Finsternis.
»Eine Wendung.«
»Ist es eng?«
»Nein, ich kann mit den Händen die Wände nicht erreichen.«
»Wieder diese Säulen ...« Seitdem sie ins Labyrinth hinabgestiegen, waren nicht weniger als drei Stunden vergangen. Alle Streichhölzer waren aufgebraucht. Seine Taschenlaterne hatte Gussjew noch im Handgemenge verloren. Sie gingen durch eine tiefe, stumme Finsternis.
Die Tunnels verzweigten sich unendlich, kreuzten sich und führten in die Tiefe. Zuweilen hörte man das eintönige Fallen von Wassertropfen. Die weit aufgerissenen Augen unterschieden verschwommene, graue Umrisse, aber diese ungewissen Flecken waren nur Halluzinationen der Finsternis.
»Halt.«
»Was gibt's denn?«
»Hier ist kein Boden.«
Sie blieben stehen und horchten. Ein schwacher, trockener Windhauch zog ihnen entgegen. Aus der Tiefe ließ sich ein fernes eigentümliches Ein- und Ausatmen vernehmen. Sie fühlten mit bangem Herzen, daß vor ihnen eine leere Tiefe gähnte. Gussjew hob einen Stein auf und warf ihn in die Finsternis. Erst nach vielen Sekunden hörte man ihn den Grund erreichen.
»Ein Abgrund.«
»Was atmet denn da?«
»Ich weiß es nicht.«
Sie kehrten um und stießen gegen eine Mauer. Sie tasteten rechts und links – ihre Hände glitten über abbröckelnde Mauerritzen und -vorsprünge. Der Rand des sichtbaren Abgrundes lag dicht vor der Mauer – bald rechts, bald links, dann wieder rechts. Sie merkten, daß sie sich verirrt hatten und den Weg, auf dem sie zu diesem schmalen Gesimse gelangt waren, nicht mehr finden konnten.
Sie lehnten sich nebeneinander, Schulter an Schulter, an die rauhe Mauer. Sie standen da und lauschten dem einschläfernden Seufzen in der Tiefe.
»Alexej Iwanowitsch, ist es das Ende?«
»Ja, Mstislaw Ssergejewitsch, es ist wohl das Ende.«
Nach einer Pause fragte Lossj mit veränderter, leiser Stimme:
»Jetzt, sehen Sie jetzt nichts?«
»Nein.«
»Links, in der Ferne.«
»Nein, nichts.«
Lossj flüsterte etwas vor sich hin und trat von dem einen Fuß auf den andern.
»Alles kommt daher, weil man sich mit der Stirn gegen den Tod festgerannt hat«, sagte er. »Man kann ihn weder fliehen, noch begreifen, noch überwinden.«
»Von wem sprechen Sie?«
»Von ihnen. Auch von uns.«
Auch Gussjew trat von einem Fuß auf den andern.
»Da ist er, hören Sie, wie er atmet.«
»Wer, der Tod?«
»Weiß der Teufel, wer. Natürlich der Tod.« Gussjew sprach, als sinne er über etwas nach. »Ich habe über ihn viel nachgedacht, Mstislaw Ssergejewitsch. Man liegt im Felde mit dem Gewehr, es regnet, es ist dunkel, fast so wie hier. Da kann man denken, was man mag, man kommt immer auf den Tod zurück. Man sieht sich selbst, mit gefletschten Zähnen, erstarrt, wie ein Pferdeaas am Straßenrande liegen. Ich weiß nicht, was nach dem Tode kommt; das weiß ich nicht. Das ist etwas für sich. Aber hier, solange ich noch lebe, will ich wissen: bin ich ein Pferdeaas oder ein Mensch? Oder ist alles einerlei? Oder ist es nicht einerlei? Im Sterben werde ich die Augen in die Stirn rollen, die Zähne zusammenbeißen, ein Krampf wird mich durchschütteln; wird nun in diesem Moment die ganze Welt, alles, was ich mit eigenen Augen sah, sich umdrehen oder sich nicht umdrehen? Das ist schrecklich: ich liege tot da, fletsche die Zähne, das bin ich: ich kenne mich ja seit meinem dritten Lebensjahre, ich bin aber nicht mehr, und alles auf der Welt geht weiter seinen Gang ... Das verstehe ich nicht. Das ist ungerecht. Wenn ich tot bin, muß sich alles umdrehen. Seit dem Jahre 1914 bringen wir Menschen um und sind das Morden gewöhnt – was ist der Mensch? Man legt sein Gewehr an, und hin ist der Mensch. Nein, Mstislaw Ssergejewitsch, das ist nicht so einfach. Hat sich denn die Welt in diesen sieben Jahren nicht umgedreht? Man hat sie wie einen Pelzmantel mit dem Fell nach oben gewendet. Das werden wir doch einmal spüren. Ja, so ist es. Ich weiß, in meiner Sterbestunde wird der Himmel krachen und zerreißen. Mich töten, heißt die Welt entzweireißen. Nein, ich bin kein Aas. Eines Nachts lag ich verwundet auf einem Wagen, mit dem Gesicht nach oben, und blickte auf die Sterne. Es war mir so trist und übel zumute. Es ist gar kein Unterschied zwischen mir und einer Laus, sage ich mir. Die Laus will saufen, auch ich will saufen. Die Laus will nicht sterben, auch ich will es nicht. Beiden winkt das gleiche Ende. Da sehe ich, der Himmel ist plötzlich voller Sterne, es war im August. Da zittert mir die Milz. Es kam mir vor, Mstislaw Ssergejewitsch, als wären alle diese Sterne ich. Als wäre alles in mir. Nein, ich bin keine Laus. Nein. Da kommen mir Tränen aus den Augen. Was ist denn das? Ja, der Tod ist eine große Sache. Man muß sein Leben von Grund auf umbauen. Der Mensch ist keine Laus. Meinen Schädel spalten ist ein schreckliches Verbrechen. Da hat man aber auch noch die Giftgase erfunden. Ich will leben, Mstislaw Ssergejewitsch. Ich kann nicht in dieser verdammten Finsternis bleiben ... Nein, wirklich, was stehen wir noch da ...«
»Er ist hier«, sagte Lossj mit der gleichen sonderbaren Stimme.
Aus der Ferne rollte durch die zahllosen Tunnels ein dumpfes Tosen. Das Gesimse unter den Füßen zitterte, die Mauer erbebte. Steine stürzten in die Finsternis. Das Tosen verhallte. Es war die siebente Explosion. Tuskub hatte Wort gehalten. Der Entfernung der Explosion nach konnte man schließen, daß Soazera weit im Westen geblieben war.
Eine Weile noch stürzten kleine Steine in die Tiefe. Dann wurde es still, noch stiller als vorhin. Gussjew merkte als erster, daß das seltsame Seufzen in der Tiefe verstummt war. Jetzt kamen von dort merkwürdige Töne: ein Rascheln, ein Zischen, es klang, als beginne dort unten eine Flüssigkeit zu sieden. Gussjew geriet plötzlich in Raserei, er breitete die Arme aus und lief fluchend und Steine hinunterwerfend längs der Mauer.
»Das Gesims läuft im Kreise herum. Hören Sie? Es muß einen Ausgang geben. Teufel, da habe ich mir den Kopf angeschlagen!« Eine Zeitlang bewegte er sich schweigend vorwärts, dann klang seine erregte Stimme irgendwo vor Lossj, der nach wie vor regungslos an der Mauer stand: »Mstislaw Ssergejewitsch ... Hier ist ein Griff ... Ein Schalter.«
Es ertönte ein rostiges Knarren. Blendendes gelbliches Licht flammte unter der niederen Backsteinwölbung auf. Die Rippen der flachen Wölbungen stützten sich auf ein schmales ringförmiges Gesimse, das über einem runden Schacht von etwa zehn Meter Durchmesser hing.
Gussjew hielt noch immer den Schalter in der Hand. Ihm gegenüber stand unter einem der Schwibbogen, an die Mauer gelehnt, Lossj und schützte die Augen mit der Hand vor dem grellen Licht. Gussjew sah darauf, wie Lossj die Hand von den Augen zurückzog und in den Schacht hinunterblickte. Er bückte sich tief über den Abgrund und sah hinein. Seine Hand zitterte, als schüttelten seine Finger etwas von sich. Dann hob er den Kopf, seine weißen Haare umgaben ihn wie ein Lichtschein, seine Augen waren wie in Todesangst weit aufgerissen.
Gussjew schrie ihm zu: »Was gibt's denn?« Dann sah er auch selbst hinunter in die Tiefe des gemauerten Schachtes. Dort unten wogte etwas wie ein schwarzbraunes Fell. Von ihm kam dieses Rascheln und Zischen, dieses immer stärker werdende unheimliche Geräusch. Das Fell hob sich und wölbte sich. Es war mit zahllosen, dem Lichte zugewandten Augen und zottigen Beinen bedeckt ...
»Der Tod!« schrie Lossj.
Es war eine große Ansammlung von Spinnen. Offenbar vermehrten sie sich hier in der warmen Tiefe des Schachtes und wimmelten darin als eine kompakte Masse. Nun waren sie durch die von der Wölbung herabfallenden Steine aufgescheucht und stiegen hinauf. Da lief schon eine von ihnen auf ihren eckigen Beinen über das Gesimse.
Der Ausgang befand sich nicht weit von Lossj. Gussjew schrie: »Lauf!«
Er sprang mit einem Satz über den Schacht, berührte mit dem Scheitel die Deckenwölbung, hockte sich neben Lossj hin, packte seine Hand und zog ihn in den Tunnel. Sie rannten so schnell sie konnten.
In weiter Entfernung voneinander brannten unter den Wölbungen des Tunnels staubige Laternen. Dichter Staub lag auf dem Boden, in den Spalten der Wände, auf den Schwellen der schmalen Türen, die in andere Gänge führten. Gussjew und Lossj gingen lange durch diesen Korridor. Er mündete in einen Saal mit flacher Decke und niederen Säulen. In der Mitte stand eine halbverfallene Statue einer Frau mit einem vollen und grausamen Gesicht. In der Tiefe gähnten die Eingänge von Wohnräumen. Auch hier lag überall Staub – auf der Statue der Königin Magr, auf den Stufen, auf den Trümmern des Hausrats.
Lossj blieb stehen, seine Augen waren weit aufgerissen und wie gläsern.
»Es sind ihrer Millionen«, sagte er, zurückblickend. »Sie warten, ihre Stunden wird noch kommen, sie werden sich des Lebens bemächtigen und den Mars bevölkern ...«
Gussjew zog ihn mit sich in den breitesten der Tunnels, die aus dem Saale führten. Die spärlichen Laternen brannten trüb. Sie gingen lange. Sie passierten eine steile Brücke, die über einen breiten Spalt führte, auf dessen Grunde tote Glieder riesenhafter Maschinen lagen. Dann kamen wieder graue, staubige Mauern. Das Herz krampfte sich vor Trauer zusammen. Die Beine knickten vor Müdigkeit ein. Lossj sagte einige Male mit leiser Stimme:
»Lassen Sie mich, ich werde mich hinlegen.«
Sein Herz hörte zeitweise zu schlagen auf. Ein schreckliches Unlustgefühl bemächtigte sich seiner, er folgte stolpernd den Schritten Gussjews durch den Staub. Tropfen kalten Schweißes liefen ihm übers Gesicht. Lossj hatte einen Blick dorthin geworfen, woher es keine Rückkehr gibt. Aber eine noch stärkere Kraft hatte ihn von diesem Strich zurückgezogen, und nun schleppte er sich halbtot durch die leeren, endlosen Korridore.
Der Tunnel machte eine jähe Biegung. Gussjew schrie auf. Im halbrunden Rahmen des Einganges zeigte sich ihnen ein blendender, dunkelblauer Himmel und ein mit funkelndem Schnee und Eis bedeckter Gipfel, an den sich Lossj so gut erinnern konnte. Sie verließen das Labyrinth in der Nähe von Tuskubs Landgut.