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Als Pablo aus der Betäubung erwachte, in die ihn der heftige Schlag über den Kopf versetzt hatte, sah er sich im Wald von einem Kreis bewaffneter Indianer umgeben. Es war Nacht, einige Feuer brannten und beleuchteten mit ihrem flackernden Schein die rauhen, verschlossenen Gesichter der Männer. Pablo gewahrte keinen feindlichen Blick; er sah viele dunkle Augen mit ruhiger Aufmerksamkeit auf sich gerichtet.
Gefangen! dachte er, ich bin also gefangen! Sofort verschloß sich sein Gesicht und zeigte einen Ausdruck hochmütigen Stolzes, wie es ihn immer zeigte, wenn er sich in innerer Abwehr befand. Er sah sich um, er gewahrte hier und da einen bewundernden Blick. Die meisten Indianer machten einen zerlumpten, räubermäßigen Eindruck, sie schienen an dem reich und geschmackvoll gekleideten jungen Stammesgenossen Gefallen zu haben. Pablo sah es mit Verachtung, sein Blick ging über die Männer hinweg, als seien sie nicht da.
Ein älterer Mann trat auf ihn zu und redete ihn in der Mayasprache an. »Wir müssen dich fortführen«, sagte er, »und es wird gut für dich sein, wenn du dich schweigend fügst. Ich würde nicht gern harte Maßregeln gegen dich ergreifen.«
Pablo verstand jedes Wort, aber er wollte jetzt nicht verstehen; seine durch Weiße erhaltene Erziehung brach durch. »Wenn du willst, daß ich dich verstehen soll, mußt du spanisch mit mir reden«, sagte er kalt.
Ein verwunderter Blick traf ihn; gleichzeitig verhärteten sich die Züge des Mannes. »Wie, bist du denn kein Maya?« fragte er.
»Ich bin es, Bandido. Du wirst es noch zeitig erfahren!« Er sah durch den Mann hindurch.
»Du solltest vorsichtiger sein«, sagte er, »du bist in meiner Gewalt.«
Pablos Auge suchte den dunklen, gestirnten Himmel über den Wipfeln der Bäume. »Ich bin in der Hand des Ewigen, Unsichtbaren!« sagte er leise, als spräche er zu einem Dritten.
Der Indianer wandte sich scheu. Man spürte, daß er sich nicht wohl in seiner Haut fühlte. Er rief die Leute zusammen und gab Befehl zum Aufbruch. »Wo ist Tenanga, der Sohn Azuals?« fragte er. Er war nicht da.
»Die Blancos werden ihn gefangen haben«, meinte ein Mann. Der Anführer zuckte die Achseln: »So mag er selber seine Fesseln lösen; wir müssen fort.«
Pablo wurden die Hände auf dem Rücken gefesselt, man hob ihn in den Sattel eines Maultieres. Seine Füße wurden unter dem Bauch des Tieres gleichfalls mit einem Riemen zusammengebunden.
Die Mayas waren alle beritten. Einige hatten Brände aus den Feuern gerissen und bedienten sich ihrer als Fackeln, um den Weg zu erleuchten. Pablo wurde von einigen mit Lanzen und Büchsen bewaffneten Reitern in die Mitte genommen. Zwischen dunklen Baumreihen, auf deren Blättern das Licht der Feuerbrände phantastisch spielte, zog der Trupp die rauhe Straße entlang nach Norden. Kein Wort wurde gesprochen.
In der Seele des Jungen aber tobte der Aufruhr; er begriff nicht, was da vor sich ging. Warum entführte man ihn? Und warum behandelte man ihn als Gefangenen? Was hatte die dunkle Warnung des jungen Indianers zu bedeuten? Hatte er sich nicht selbst erst vor kurzem mit dem Gedanken getragen, die Weißen zu verlassen und zu den Mayas zu gehen? Waren es nicht Männer seines Volkes, die ihn nun, gewaltsam geraubt, gefangen davonführten? Er grübelte und grübelte, aber er fand keinen Zusammenhang.
Stunden ritten sie so, dann wurde in einem engen Felsental haltgemacht. Erst als Pablo aus dem Sattel gehoben wurde, stellte er fest, daß die größere Anzahl der Mayas zurückgeblieben war, nur etwa ein Dutzend Reiter waren bei ihm geblieben. Er wurde neben einem Feuer niedergelegt, die Füße wurden ihm wieder gebunden, während man ihm die Handfesseln löste. Man bot ihm gebratenes Fleisch und Maisbrot, und er aß, um bei Kräften zu bleiben. Man brachte ihm Wasser in einer Kürbisschale, und er löschte in großen Zügen seinen Durst. Bald darauf schlief er ermüdet ein.
Die Sonne war bereits aufgegangen, als man ihn weckte. Er sah sogleich, daß nur noch die Hälfte der Männer da war, die ihn hierhergeleitet hatten. Er wurde aufs Pferd gehoben und gefesselt, und die Reise nahm ihren Fortgang. Sie kamen in ein tiefes Felsental, dessen schroffe, zerklüftete Wände an die tausend Meter aufragten. Der Anführer bog in einen schmalen Felspfad ein, und der Aufstieg begann. Pferde und Maultiere nahmen den engen Paß, als befänden sie sich auf einer glatten Straße, sie schienen hier zu Hause. Immer höher ging es hinauf, immer schwindelerregender wurde der Blick in die Tiefe. Der Weg führte ständig nahe am Abgrund vorüber. Als sie höher kamen, sahen die hohen Bäume auf der Sohle der Barranca winzig und zierlich wie niedrige Sträucher aus.
Pablo fühlte sich wenig wohl in seiner Haut. Hände und Füße waren ihm gebunden, er war ganz auf die Geschicklichkeit seines Pferdes angewiesen, hatte keine Möglichkeit, das Tier zu lenken oder zurückzureißen; der geringste Fehltritt mußte ihn in den Abgrund stürzen. In seinem hart verschlossenen Gesicht war nichts von der Unruhe zu lesen, die ihn bewegte. Sie erreichten den Rand der furchtbaren Schlucht und befanden sich nun auf einer mit saftigem Gras bedeckten, von Baumgruppen durchsetzten Ebene, die im Süden von einer Kette zackiger Berggipfel begrenzt wurde.
Ein phantastischer Anblick bot sich dem Auge. Pablo, der sich kaum jemals weit von del Roca entfernt hatte, wußte so gut wie nichts von der Schönheit seines Vaterlandes; er riß die Augen auf und glaubte sich in eine Traumwelt versetzt.
Von den Küsten der Ozeane erstreckt sich das Land in immer wechselnden Formationen, ansteigend zu schwindelerregenden Höhen und vereinigt in sich alle Klimate. An den Küsten und in den tiefliegenden Tälern herrscht die Glut der heißen Zone mit all ihrer Pflanzenpracht; auf den von eisigen Winden umtobten Höhen ragt steil die nordische Fichte zum Himmel empor. Die vulkanische Glut des Erdinnern, die einst gewaltige Felsbrocken zu Bergen türmte und die Barrancas aufriß, glüht noch nach; die Berge rauchen noch, und dann und wann speien sie Feuer wie in alter Zeit. So erbaute die Natur hier in großartiger Steigerung eine Kulisse von traumhafter Schönheit, an der sich das Auge nicht sättigen kann.
Die kleine Reiterschar setzte sich in Galopp; sie verhielt erst am Rande einer zweiten Barranca, die wie ein dunkles Höllental zu ihren Füßen gähnte. Der Führer wechselte ein paar Worte mit seinen Leuten, die Pablo nicht verstand, dann begann der Abstieg auf schmalem Felsenpfad. Pablo ritt als vorletzter in der Reihe; hinter ihm ritt ein Mann mit düster verschlossenem Gesicht und unruhigen Augen; er trug gleich den anderen die lange Lanze.
Sie mochten in ihrem halsbrecherischen Abstieg einige hundert Meter tiefer gekommen sein, als die gefährlichste Stelle des Weges nahte. Der Pfad wurde hier so schmal, daß die Tiere buchstäblich nur noch Fuß vor Fuß setzen konnten. Zur Linken ragte himmelansteigend die schroffe Felswand, rechts gähnte in steilem Abfall die grausige Tiefe. Und eben hier machte der Pfad eine schroffe Biegung. Die berggewohnten Tiere bewegten sich nur noch tastend vorwärts und schnaubten ängstlich. Die ersten Reiter waren um den Felsen herum verschwunden, Pablo nahte sich der gefährlichen Stelle. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, er fühlte dumpf den Ansprung doppelter Gefahr; er sah nicht, daß der hinter ihm reitende Indianer die Lanze zum Stoß erhob, er hörte nur den gellenden Schrei des Mannes, als er samt seinem Tier hinter ihm in die Tiefe stürzte. Ein plötzlich von der Höhe herabsausender Felsbrocken hatte das Pferd am Kopf getroffen und ins Wanken gebracht.
Alle hatten den Todesschrei gehört, doch keiner vermochte an dieser Stelle auch nur den Kopf zu wenden. Pablos Maultier blieb zitternd stehen. Pablo, alle Kraft zusammenraffend, flüsterte ihm Schmeichelworte ins Ohr, und das Tier, vorsichtig sichernd, nahm die Biegung und trug ihn um den gefährlichen Felsvorsprung herum.
Der Pfad führte dann noch weiter an Abgründen entlang, noch immer konnte es keiner der Reiter wagen, den Kopf zu wenden. Schließlich war der Anführer unten angelangt und wandte sich im Sattel. Pablos Blick traf auf den des Mannes; er sah das nackte Entsetzen darin glimmen, ein bei einem Indianer ungewöhnlicher Anblick.
Nun erkannten auch die anderen, daß ihr Gefährte, der letzte in der Reihe, abgestürzt war; sie sahen Pablo an, und in ihren stoischen Zügen malte sich ein Ausdruck abergläubischer Scheu.
Einer der Männer wandte sich dem Anführer zu und sagte: »Du hast Böses im Schilde geführt, Zabualga, aber die Unsichtbaren haben den Enkel der Könige geschützt.«
Der Anführer streifte den Mann mit einem vernichtenden Blick. »Schweig!« zischte er, »du weißt nicht, was du redest. Chamulpo hat befohlen, den Burschen von den Blancos zu holen. Wir haben ihn geholt. Das ist alles.«
Die Worte waren leise gesprochen, aber Pablo hatte sie verstanden. Chamulpo! dachte er, wer ist Chamulpo? Was will er mit mir? Ich sollte abstürzen an jener Felsbiegung, aber der Ewige hat mich beschützt. Warum will dieser Mann mich töten? Was heißt das mit dem ›Enkel der Könige‹? Der Kopf schmerzte ihm vom vielen Denken, aber er begriff nichts.
Der Weg wurde schweigend fortgesetzt; er führte bald, nun aber auf breiterem, gangbarem Pfad, wieder aufwärts. Auf der Höhe angelangt, ließ man die Pferde ausgreifen, bis hochstämmiger Wald die Reiter umfing.
Ein einzelner Reiter näherte sich dem Trupp, sprach kurz mit dem Anführer und entfernte sich wieder. Die Männer stiegen auf einen kurzen Befehl hin von den Pferden, und auch Pablo wurde herabgehoben. In einem einsam gelegenen, verfallenen Rancho wurde gerastet. Erst spät am anderen Morgen stiegen die Männer wieder in die Sättel. Sie ritten den ganzen Tag und verbrachten abermals eine Nacht im Walde. Pablo, der nun reichlich Gelegenheit gehabt hatte, die Gesichter zu studieren, erkannte, daß nicht alle Indios Mayas waren. Er wurde auf das strengste bewacht, an Flucht war nicht zu denken. Er fürchtete nach der Erfahrung auf dem schmalen Felsengrat ständig um sein Leben; er rechnete damit, daß irgendwann eine Kugel oder ein Messerstich auf ihn lauerte, aber dann nahm er wahr, daß der Maya, der nach dem Abstieg von der gefährlichen Stelle mit dem Anführer gesprochen und der Unsichtbaren gedacht hatte, die den Enkel der Könige schützten, ständig in seiner Nähe weilte und daß schweigende Ehrfurcht aus seinen Mienen sprach. Er war überzeugt, daß dieser Mann ihn schützen würde und wurde darüber ganz ruhig.
Aus düsterem Waldschatten gelangten sie auf eine kleine angebaute Fläche; zwischen Feldern und Gärten standen mehrere indianische Häuschen. Sie hielten. In der Nähe eines größeren Hauses lagerte eine Schar bewaffneter Indianer. Pablo mußte mit seinen Begleitern am Waldrand zurückbleiben; der Anführer ritt zu dem Hause hinüber, stieg aus dem Sattel und trat ein. Es verging eine ganze Zeit. Dann kam ein Mann aus dem Hause heraus und schrie einige kurze Befehle. Die lagernden Indianer erhoben sich, bestiegen die in der Nähe weidenden gesattelten Pferde und ritten ab.
Der Mann winkte den Reitern, die Pablo hierhergebracht hatten. Er wurde aus dem Sattel gehoben; seine Handgelenke ließ man gefesselt. Er wurde in das Haus gebracht und in ein kleines niedriges Zimmer geführt.
Er sah vor sich einen breitschulterigen, untersetzten Mann, einen Indianer mit einem groben, brutalen Gesicht; der Mann war nicht mehr jung. Wäre das kalte und grausame Gesicht nicht gewesen, der Anblick des Indianers hätte einen grotesken Eindruck gemacht. Er trug das baumwollene Hemd und die hirschlederne Hose, die alle Indianer hierzulande zu tragen pflegten, seine nackten Füße steckten in derben Schuhen. Über den massigen Oberkörper aber hatte er eine alte, verblichene Uniformjacke gezwängt, die so eng war, daß sich die Knöpfe nicht schließen ließen. Die Litewka trug die Rangabzeichen eines Generals der Armee. Ein schwerer Reitersäbel war mit Hilfe eines indianischen Gürtels um die Hüften geschnallt. Ein groteskes Raubtier, eine als Clown kostümierte Bestie! Pablo verschlug der Anblick fast den Atem. Der Mann sah den gefesselten Jungen an der Tür an wie ein Raubtier seine Beute betrachtet; in seinen dunklen, gefährlichen Augen glitzerte es; er ließ einige Minuten schweigend verstreichen. Und das war gut, es gab Pablo Zeit, sich zu wappnen. Das Antlitz des Jungen war ausdruckslos; seine Augen sahen durch das uniformierte Untier hindurch.
»Wer bist du?« fragte der Mann nach einer Weile lauernd.
»Das wirst du besser wissen als ich«, antwortete der Junge lakonisch.
»Vielleicht!« Es zuckte kurz in den etwas geschlitzten Augen des Mannes. »Aber vielleicht möchte ich es von dir hören. Weißt du, vor wem du stehst?«
»Ich vermute, vor dem Jefe einer Räuberbande.«
»Hund!« Der Mann riß den Säbel aus der Scheide; er begegnete Pablos kaltem, entschlossenem Blick und ließ ihn wieder sinken. – Ich weiß nicht, was das alles bedeutet, dachte Pablo, aber ich beginne, etwas zu ahnen. Enkel der Könige! Das Wort ging ihm durch den Kopf, er entsann sich der Worte, die der junge Indianer ihm unter dem Baum auf dem Hofe von del Roca zugeflüstert hatte, des geheimnisvollen Zeichens, das er auf der Brust trug, der ehrfürchtig-scheuen Blicke, mit denen die bewachenden Mayas ihn gestreift hatten; von tief innen aufbrechender Stolz durchflammte ihn ganz und verlieh ihm eine Sicherheit, die er selbst kaum begriff.
»Warum hast du mich durch deine Bandidos rauben und hierherschleppen lassen?« fragte er scharf. »Weißt du, was du tust? Du wolltest mich durch einen deiner Mörder in die Barranca stoßen lassen; ein Höherer hat die Tat abgewendet und deinen Mordgesellen bestraft.« Er straffte sich noch etwas; in seinen dunklen Augen flammte es auf. »Weißt du, daß der letzte Abkömmling eines Geschlechtes vor dir steht, dem deine Vorfahren ehrfurchtsvoll die Fußsohlen küßten?«
Und wieder zuckte die uniformierte Bestie kaum merklich zusammen; ein tückisches Blinzeln kam in seine Augen. »Oh, die Schlange ist gefährlicher, als ich dachte«, raunte er, »nun, wir wollen sehen, daß wir ihr schnell den Kopf zertreten.«
Er stieß mit der Säbelspitze auf den Boden; ein alter Neger betrat den Raum, dessen Leib nur aus Knochen und Sehnen zu bestehen schien. Die Augen des Negers waren entzündet, er blinzelte mit ihnen. »Was befiehlst du?« fragte er, sich an den Uniformierten wendend.
»Wo ist Chimal?«
»Draußen, Herr.«
»Sind die Soldados fort?«
»Alle bis auf die Leibwache.«
»Gut. Komm etwas näher.«
Der Neger trat dicht an ihn heran, und der Mann mit der Generalsjacke flüsterte ihm einige Worte ins Ohr, die Pablo nicht verstand. Ein breites Grinsen verzog das Gesicht des Negers. Der Uniformierte streifte Pablo mit einem finsteren Blick und verließ das Haus. Gleich darauf setzte sich draußen ein Pferd in Galopp.
Der Neger, der den Jungen wie ein Stück Schlachtvieh gemustert hatte, stieß einen gellenden Pfiff aus, wenig später betrat ein alter, einäugiger Indianer das Zimmer, der nach Landessitte nur mit Hemd und Hose bekleidet war. Der Mann hatte ein fahles, düsteres Gesicht, dem das fehlende Auge einen beinahe gespenstischen Ausdruck verlieh. »Was gibt's?« wandte er sich in spanischer Sprache an den Neger.
»Führ das Hühnchen da in den Keller«, sagte der. »Der Kazike hat es uns anvertraut. Hebe es gut auf, es ist ein kostbares Hühnchen.«
Der Indianer sah seinen jungen Stammesgenossen an; den durchlief ein Schauder, aber er hielt dem Blick des Einäugigen stand.
»Folgt mir, Señorito!« sagte der Indianer, öffnete die Tür und hieß Pablo voranschreiten. Der Neger stand lauernd in halbgebückter Haltung und ließ ihn vorübergehen. Seine Augenlider kniffen sich zusammen; sein Mund öffnete sich zu einem breiten Grinsen und enthüllte zweiunddreißig prachtvolle Zähne, ein Raubtiergebiß.