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China und das Chinesenvolk sind auch heute noch den Europäern ein Buch mit sieben Siegeln.
Ein gelehrter Missionar, der einige dreißig Jahre in seinem Berufe in China tätig war, der das Chinesische in Schrift und Wort beherrschte, sogar mehrere Dialekte sprach, der mit allen Bevölkerungsklassen vom Vizekönig bis zum Kuli herab in Berührung gekommen war, äußerte: »Je mehr ich dieses Volk kennen lerne, desto rätselhafter wird mir seine Seele.«
Der Chinese, der seit dreitausend Jahren ein wohlgegliedertes Staatswesen, eine eigenartige Zivilisation sein eigen nennt, sieht, wenn auch heute durch die Fortschritte der europäischen Völker überholt, mit nicht unberechtigtem Stolze auf uns Fremde herab.
Das Chinesenreich ist eine Welt für sich, und es ist nur zu begreiflich, daß sein Volk mit seiner uralten Kultur und einer reichen, leider noch wenig gekannten Literatur schwer fremden Ideen zugänglich ist.
Die gewaltigste Bewegung, die je die Seele des chinesischen Volkes aufgerüttelt hat und das Tor öffnen wollte, das dem Christenglauben Verbreitung und europäischer Bildung Zulaß gewähren sollte, ward in Strömen Blutes erstickt mit Hilfe europäischer Kanonen, und nach wie vor herrscht der Mandarin in dem Reiche der Mitte.
Die Beamtenklasse ist der fanatische Gegner jedes Fortschritts in unserem Sinne, denn man erkennt in ihrer Mitte wohl, daß ihre Macht für immer dahin ist, wenn die Ideen des Westens Eingang finden in den Köpfen der Chinesen.
Sie sind die Todfeinde europäischer Gesittung.
*
Tiefe Stille herrscht in dem sonst so geräuschvollen Peking – denn der Sohn des Himmels wird heute die geheiligte Stadt verlassen, um im Tempel der Erde Opfer darzubringen.
In Festgewändern steht das Volk auf dem weit ausgedehnten Platze, der die Residenz umgibt, um dem Zuge des Herrschers aus der Ferne mit anzuwohnen, dessen Antlitz doch niemand sehen darf.
Feierliches Schweigen herrscht unter den dichtgedrängten Massen, die nur zu flüstern wagen, und gehorsam folgen sie den Anordnungen der Wächter, die den Weg freizuhalten haben für den kaiserlichen Zug. Fremde, das heißt Europäer, werden höflich ersucht, sich zurückzuziehen, da sie sich dem Gebrauche, sich vor dem »Sohne des Himmels« zur Erde zu werfen, nicht fügen oder gar den Kaiser unverzeihlich anstarren. Die Straßen der Stadt selbst sind leer, Fenster und Türen der Häuser geschlossen.
Überall hängen lange Fahnen herab von den Häusern, mit Tiergestalten und geheimnisvollen Schriftzeichen bedeckt, und vervollständigen das bunte Bild, das die in leuchtende Farben gekleidete, dichtgedrängte Menge, unter der jedoch keine Frauen zu sehen sind, dem Auge bietet.
Lange muß das Volk auf den feierlichen Zug harren.
Endlich ertönen die riesigen Glocken des Turmes der »Zwei Blumen«, dessen mit blauen glänzenden Ziegeln gedeckte Dächer über der hohen Mauer, welche die umfangreiche Stadt umgibt, sichtbar sind.
Aller Blicke wenden sich jetzt nach dem Südtore, aus dem der kaiserliche Zug kommen muß.
Soldaten erscheinen, in blaue Seide gekleidet, bewaffnet mit vergoldeten Bogen und Pfeilen.
Ihnen folgen vier Elefanten.
Stabträger, die seltsame Zeichen auf langen Stangen tragen, schließen sich ihnen an.
Soldaten in rotem, glänzendem Kleid führen und geleiten fünf Elefanten, deren bis zur Erde reichende Schabracken von Gold und Edelsteinen strotzen.
Acht Wagen in Gestalt von Elefanten folgen, gezogen von Menschen und Pferden. Vierzig Banner in fünf Farben, die alle den goldenen Drachen zeigen, schweben über einer Schar von Mandarinen.
Mandschusoldaten führen riesenhafte Nachbildungen von Sonne und Mond einher. Zahlreiche, prächtig gekleidete Leute tragen gewaltige Fächer, die bald aus Pfauen-, bald aus Fasanenfedern gebildet sind, während andere, rot und gelb gefärbte, auf ihrer Fläche kämpfende Drachen zeigen. Sonnenschirme in allen Farben, reich gestickt mit Ornamenten, Blumen, Vögeln oder Sinnsprüchen geschmückt, die dem Herrscher Glück wünschen, folgen. Wiederum kommen Soldaten der kaiserlichen Garde mit Pfeil und Bogen, den kaiserlichen Drachen auf der Brust.
Ein goldener Altar, goldene und silberne Räuchergefäße werden von Leuten geleitet, die rotbrennende Fackeln halten.
Jetzt kommt die von acht Prinzen des kaiserlichen Hauses getragene Sänfte des Kaisers, strahlend von Gold, edlem Gestein, leuchtenden Federn und gelber Seide.
Schon liegt überall das Volk am Boden, mit der Stirn die Erde berührend.
Matt sitzt der junge Kaiser Kwang-sü in die Kissen gelehnt da, sein jugendliches Antlitz trägt den Ausdruck des Leidens, fast der Trauer.
Müde, apathisch schaut er aus halbgeöffneten Augen über die Menge hin.
Das gelbliche Angesicht ist von sanftem Ausdruck, die Züge sind zart, fast mädchenhaft.
Dieser schwache, kränkliche Herr ist der Sohn des Himmels, der über vierhundert Millionen Menschen herrscht und jetzt der Mutter Erde zu opfern sich anschickt, der Mutter Erde, der nächst dem Himmel das Chinesenvolk alles verdankt.
Himmel und Erde sind die beiden großen Gewalten, die der Chinese verehrt, die gemeinsam alles, auch den Menschen gezeugt haben, der zwischen ihnen steht.
Gekleidet ist der Kaiser äußerst einfach – er trägt für dieses hohe Fest die Tracht des schlichten Landmanns, der den Acker bebaut.
Hinter ihm schreiten zahlreiche Prinzen je nach ihrer Rangordnung, ihnen folgen die großen Mandarinen. Alle in prächtigen, mit Gold und Silber gestickten seidenen Kleidern, Federn auf den spitzen Hütchen, die den Scheitel decken, Wappentiere auf der Brust, die den Rang des Trägers verkünden.
Einige von ihnen tragen die »gelbe Jacke«, das ist ein reiches Ehrenkleid von kostbarer Seide, in Gelb, der kaiserlichen Farbe, ein Geschenk des Herrschers, das ungewöhnlich große Verdienste belohnt und nur bei besonderer Veranlassung getragen werden darf.
Mandarinen geringeren Grades, Offiziere, Palastbeamte folgen; in ihrer Mitte rollt die kostbare Kutsche von Nephrit, einzig in ihrer Art auf der Welt; mehrere Soldaten und Diener mit Fackeln und bunten Laternen schließen den Zug.
Durch die stillen menschenleeren Straßen der Chinesenstadt bewegt er sich nach dem Tempel der Erde, der innerhalb eines von einer Mauer von drei Kilometer Umfang umschlossenen Raumes errichtet ist.
Am Tore erwarten ihn die Tempeldiener, die sich niederwerfen, sobald der Kaiser erscheint.
Der ungeheure Zug betritt den umschlossenen Raum, bis auf die Soldaten und die Elefanten.
Unter den zahlreichen Gebäuden und Türmen, die sich in eigenartigen Formen erheben, überladen mit den seltsamsten Schnitzereien, ragt der Tempel der Erde gewaltig hervor.
Auf vierundzwanzig Stufen aus glänzend poliertem Porphyr, die von steinernen Löwen und Drachen flankiert sind, erreicht man den breiten Eingang.
Ein Saal, hoch und groß, liegt in buntem Dämmerlichte da. Wände und Decke sind mit wunderlichen Schnitzereien bedeckt, die sinnbildliche Bedeutung haben.
Riesengroß erhebt sich der Altar, der aus Granit gemeißelt ist, nach Sonnenaufgang hin.
Auf kleinen goldenen Tischen, die vor ihm stehen, brennen wohlriechende Flammen.
Als der Kaiser eintritt, ertönt eine Musik, betäubend, nervenerschütternd, ihr Hauptinstrument ist das Gong.
Der Kaiser naht sich dem Altare und kniet auf einem seidenen Kissen nieder. Alles ringsumher wirft sich zur Erde und berührt den Boden mit der Stirn.
Die Musik schweigt, und ein Gesang von Kinderstimmen, melodisch und weich, erfüllt den weiten Raum.
Tiefe Stille herrscht, sobald die Töne verklungen sind.
Durch die Stille erklingt des Kaisers Stimme im Gebet.
»In tiefer Ehrfurcht komm' ich zu deinem Tempel, Mutter Erde, Schwester des hohen Himmels; ich komm' dir zu danken und dich zu ehren durch tiefe Demut meines Herzens und Opfer, die ich dir darbringe.
Alle meine hohen Beamten begleiten mich und liegen vor dir im Staube, demütig flehend um deine Gunst.
Dein Diener ist nur ein Schilf, eine gebrechliche Weide, sein Herz das der Ameise.
Tief empfinde ich in meinem Herzen meine Hilflosigkeit und Niedrigkeit.
Was wären wir, o Erde, Schwester des hohen Himmels, wenn du durch seine Gnade befruchtet uns nicht gäbest, was uns zu leben gestattet.
Dein Diener, sich hinwerfend vor dir, wie es sich gebührt, bittet dich, als Zeichen tiefster Ehrfurcht die Gaben anzunehmen, die wir dir in Demut bringen. Alle Geister, die dich umschweben, hören und sehen uns.
Sei uns gnädig wie bisher und würdige die, die anbeten deine unerschöpfliche Güte.«
In demselben Wortlaute hatten schon zweitausend Jahre früher die Vorfahren Kwang-süs auf dem Thron zur Allerhalterin Erde gebetet.
Der Kaiser erhebt sich, und auf einen Ruf des Zeremonienmeisters erheben sich auch alle anderen in dem weiten düsteren Raum.
Kwang-sü nimmt drei Stangen Weihrauch, steckt sie in goldene Leuchter und zündet sie an.
Ihr Duft füllt alsbald die gewaltige Halle.
Nach und nach nimmt nun der Kaiser Seide, Früchte, Wein, verschiedene Speisen und opfert sie in der Flamme der Altäre.
Jedes Opfer wird auf ein Zeichen des Zeremonienmeisters mit Kniebeugungen oder Niederwerfen des kaiserlichen Gefolges begleitet.
Wieder erheben die Kinder in dem Nebensaale ihren feierlichen Gesang und begleiten die Opferhandlung, bis sie vollendet ist.
Noch einmal werfen sich alle vor dem Altar nieder, und unter dem betäubenden Lärm der Musik verläßt der Kaiser den Tempel.
Draußen erwarten ihn dessen erste Hüter und führen ihn zu einem Felde, inmitten des weiten ummauerten Raumes, auf dem ein überaus kunstvoll gearbeiteter Pflug mit vergoldeter Schaufel steht, vor den zwei weiße Stiere mit vergoldeten Hörnern gespannt sind.
Der Kaiser ergreift dessen Handhabe und läßt, während Tempeldiener die Stiere antreiben, die Schaufel die Erde aufreißen und zieht eine Furche.
Gesang begleitet die Handlung.
Dann bietet der erste Tempelvorsteher, knieend und das Haupt gesenkt, dem Kaiser eine Jaspisschale dar, die mit Reis gefüllt ist. Der Kaiser nimmt und sät die Frucht in das durchpflügte Land aus.
Dann zieht er sich, begleitet von den Mandarinen der Bekleidungsämter, in ein kleineres Gebäude zurück, um dort die Tracht des Landmannes mit kaiserlichen Gewändern zu vertauschen.
Unterdessen ergreifen die Prinzen nach ihrer Rangfolge den Pflug, ziehen Furchen, säen, ihnen folgen die Mandarinen der ersten Ordnung und diesen wirkliche, zu dem Fest aus verschiedenen Teilen des Reiches herbeigerufene Landleute. Auf allen Altären, die in dem weiten Raum zerstreut auf Wiesen, Felsgruppen, zwischen Büschen, unter Fruchtbäumen errichtet sind, lodern jetzt wohlriechende Flammen empor.
Der Kaiser erscheint nun im vollen Schmuck der kaiserlichen Würde, alles wirft sich nieder, um dann, nachdem Kwang-sü seine Sänfte bestiegen hat, in derselben Ordnung zum kaiserlichen Palaste zurückzukehren, in der der Zug gekommen war.
Der Erde war das jährlich sich wiederholende Opfer dargebracht. – Durch die drei gewaltigen festungsartigen Tore, zwischen aufgestellten Truppen hindurch bewegt sich der Zug durch die verbotene oder Tatarenstadt zur kaiserlichen Residenz, der Purpurstadt, um sich dort aufzulösen. Der Kaiser selbst begibt sich nach dem großen Ahnentempel, um dort zu beten, ehe er sich in seine Gemächer zurückzieht.
*
Der kaiserliche Palast in Peking, die heilige oder auch die Purpurstadt genannt, ist eine Welt im kleinen. Zwanzig kaiserliche Paläste, zu verschiedenen Zeiten gebaut, überreich mit Treppen, Balustraden, bronzenen, vergoldeten Tiernachahmungen, Skulpturen und Pflanzen geschmückt, erheben sich zwischen Blumenanlagen, Teichen, Wäldchen, Gärten, Hügeln. Pagoden mit glänzenden Dächern und wunderlich geschweiften Dachfirsten überragen sie. Die für die Truppen und Diener bestimmten Häuser, die Ställe, Remisen, Wirtschaftsgebäude, Magazine liegen ringsum im Schatten alter Bäume versteckt. Die heilige Stadt birgt acht- bis neuntausend Einwohner.
*
Der Kaiser Kwang-sü betrat den alten prächtigen Ahnentempel, nur begleitet von Kang-ju-wei, seinem Jugendgespielen.
Beide befanden sich allein in dem weiten Raume, der durch die mit buntem Papier als Scheiben verklebten Fenster nur ein zweifelhaftes Dämmerlicht erhielt.
Auf zahlreichen Altären brannten wohlriechende Flammen, und ringsum erhoben sich die Standbilder der Herrscher Chinas, die seit zweitausend Jahren im Reiche der Mitte geboten hatten. Aus Holz gebildet, auf reichgeschmückten Thronen sitzend, mit ihrem Range entsprechenden Kleidern, die mit Gold und Edelsteinen bedeckt sind, angetan, Gesichter und Hände bemalt, selbst Haar und der spärliche Bart künstlich hergestellt, bildeten sie in dem geheimnisvollen Halblicht schwach bestrahlt von den Flammen der Opferaltäre, eine merkwürdige Versammlung.
Kwang-sü warf sich vor dem Bilde des letzten Kaisers nieder und betete. Kang-ju-wei berührte in einiger Entfernung von ihm mit der Stirne den Boden.
Endlich erhob sich der Kaiser, wandte das Haupt nach Kang-ju-wei und sagte: »Steh auf und komm zu mir.«
Gehorsam nahte sich der dem Herrscher, gebeugten Hauptes.
Mit leiser Stimme sagte Kwang-sü: »Ich habe vor dem Bilde dessen, der einst auf dem Drachenthrone saß gleich mir, zu den Unsichtbaren gebetet, daß sie mich leiten und schützen, auf daß ich meinem Volke Gutes erweisen kann. Von allen Menschen stehst du, Kang-ju-wei, mir am nächsten. Du bist mein Freund – der einzige, den ich habe,« setzte er seufzend hinzu; »ich weiß, du liebst mich. Und dies hier ist die einzige Stätte in meinem weiten Reiche, an der ich vertraulich mit dir reden kann.«
»Erhabenster Herrscher, dein Diener und treuergebener Freund lauscht in tiefster Ehrfurcht deinen Worten.«
»Du weißt, von welchen Strömungen ich umflutet werde, wie sie an mir reißen und zerren nach oben und unten und mich zum willenlosen Werkzeug machen möchten, und ich, ich besitze nicht die Kraft zu widerstehen, ich bin oft zum Sterben müde.«
Das intelligente und zugleich energische Gesicht des jungen Mandarinen zeigte Trauer, als der Sohn des Himmels, der erschöpft schien von der langen Zeremonie, so sprach.
»Leuchtende Sonne des Reiches,« erwiderte er dann, »ich kenne die Kräfte, die in deiner erhabenen Nähe wirksam sind, denen nur deine kaiserliche Energie Ruhe gebieten kann. Wie ich denke, weißt du; ich sehe das Heil des Reiches und seiner Dynastie in zeitgemäßen Reformen.«
»Ich weiß, Kang-ju-wei, du bist den Fremden freundlich gesinnt, und ich schätze deine Klugheit wie deine Treue, aber ich kann deinem Rat nicht folgen; zu gewaltig ist die Macht derer, die jeder Reform in deinem Sinne widerstreben.«
»Spricht deine erhabene Majestät von der Kaiserin des westlichen Zimmers?«
»Hsi-Tsi, die Gemahlin Sien-Fungs, des abgeschiedenen Kaisers, ist eine kluge und energische Frau, die, während ich ein Kind war, das Reich mit Kraft regierte; aber ich weiß nicht, wie sie denkt, und mich sieht sie mit Mißtrauen an; sie hat ungern das Zepter aus der Hand gelegt, als ich den Thron bestieg.«
»Ja, sie ist eine bedeutende Frau und weise genug, um sich der Einsicht nicht zu verschließen, daß die Macht der fremdenfeindlichen und aus egoistischen Interessen jeder Reform widerstrebenden Mandarinen gebrochen werden muß, wenn dem Kaiserhause nicht Gefahren drohen sollen. Die Zeit ist eine andere geworden, der Fremde pocht mit gewaltiger Faust an unsere Tür, und es ist ratsamer, sie ihm in weiser Freundschaft zu öffnen und dabei die Würde des Reiches zu wahren, als ihn zum Kampfe herauszufordern, dem wir einstweilen noch nicht gewachsen sind. Mir liegt die Wohlfahrt des Vaterlandes am Herzen wie meinem erhabenen Herrn, aber diese gebietet, in Frieden mit den Europäern zu verkehren und im Reiche Reformen einzuführen, die China auf die Höhe stellen, die es einzunehmen berechtigt ist. Die Zeit, wo wir uns abschlossen von der übrigen Welt, ist vorüber.«
»Ganz wie du spricht der weise Hsü-Ching-Cheng, der so lange in Europa gelebt hat – aber –« Der Kaiser schwieg und schaute vor sich nieder.
»Kang-ju-wei,« flüsterte er dann fast, »du bist der einzige Mensch, dem ich das anvertraue, Kang-ju-wei, ich fürchte mich – vor –«
»Mein erhabener Herr geruhe auszusprechen, was seine Seele bewegt, es bleibt verborgen in meinem Herzen.«
»Ich fürchte den Prinzen Tuan.«
»Er ist mächtig, ja, aber der Sohn des Himmels ist sein Gebieter wie der meinige.«
»Ach, du weißt nicht. Er hat die Generale für sich und die Bannertruppen. Er hat Soldaten aus dem Norden kommen lassen und sie in die Purpurstadt gelegt, zu meinem Schutze, wie er sagt; ich fürchte, ich kann mich nicht einmal auf meine Tigergarde verlassen. Ich glaube, auch die Kaiserin des westlichen Zimmers fürchtet ihn. Er widerstrebt allen Reformen und haßt die Fremden tödlich.«
In Kang-ju-weis Antlitz zeigte sich ein Zug von finsterer Energie, der aber alsbald wieder dem der Ruhe wich. Gemessen sagte er dann: »Der Sohn des Himmels ist der Vater des Chinesenvolkes, dem wir alle blind gehorchen müssen. Gebrauche deine Macht, erhabener Herrscher, laß ihn verhaften und verbanne ihn an die Grenze des Reichs; sein blinder Fremdenhaß wird Unheil über uns bringen.«
Kwang-sü erschrak.
»Um der ewigen Gewalten willen, die Einfluß auf unser Erdenschicksal haben, sprich so etwas nicht, selbst nicht hier im heiligen Ahnentempel. Hast du nie gehört, daß man auch einem Sohne des Himmels in der Stille seines Palastes ein Leid antun kann? – Ich kann mich auf niemand verlassen als auf dich – und auch dich wird man mir rauben, Kang-ju-wei, denn du bist als Freund von Reformen verdächtig, und ich fürchte, ich kann dich nicht schützen.«
»Mein Leben gehört meinem erhabenen Herrscher und meinem Vaterlande; solange ich atme, wird mich nichts hindern, beiden zu dienen.«
»Ja, du bist ein Mann, mein Freund, und ich wollte, ich hätte etwas von deiner Kraft. Aber du kannst mir nur dienen, wenn du vorsichtig bist. Man sucht mich einzuschüchtern, indem man mir von der drohenden Haltung des Geheimbundes der ›Starken Hand‹ berichtet, dessen Bestrebungen gegen den Drachenthron wie gegen die Fremden gerichtet sein sollen, und sucht mir Befehle gegen die Fremden und die Christen abzuzwingen, um die Leute von der ›Starken Hand‹ zufrieden zu stellen.«
»Der Bund der Leute von der ›Starken Hand‹ ist mächtig, das ist nicht zu leugnen; aber es ist ein großer Fehler, sie gewähren zu lassen, sie müssen mit eherner Hand unterdrückt werden.«
»Du hast gewiß recht, Kang-ju-wei, auch Prinz Tsching ist der Meinung, aber – laß mir Zeit nachzudenken. Es wird der Tag kommen, wo ich dich zum Mitglied des Tsungli-Yamen ernenne, dann wirst du mir nachdrücklicher beistehen können.«
»Weit gefährlicher als die Rotte von der ›Starken Hand‹, Gebieter der Welt, sind die im stillen wirkenden langhaarigen Rebellen, die Tai-pings, wie sie sich nennen, deren Väter einst das Reich unter dem Verräter Hung an den Rand des Abgrunds brachten.«
»Wie? Gibt es solche noch?«
»Sie tragen wieder den Zopf gleich uns, seit sie unterworfen find, aber sie sind zahlreich und harren geduldig des günstigen Augenblicks, der sie wieder zum Kampfe gegen den Drachenthron ruft; sie sind umso gefährlicher, als tiefes Geheimnis sie umgibt.«
»Gefahren von allen Seiten,« sagte der Kaiser mit einem leichten Seufzer, »offen und geheim. Es gärt rings um mich und mir fehlt die Macht, Ruhe zu gebieten. – Ich will deine Worte erwägen, Kang-ju-wei,« fuhr er fort, eine Erwiderung des jungen Mandarinen damit abschneidend. »Komm morgen zu mir, ich bin müde und muß ruhen.«
Er neigte grüßend das Haupt und ging, während Kang-ju-wei sich zu Boden warf und mit der Stirn die Erde berührte, nach dem Ausgang zu, vor dem ihn sein nächstes Gefolge erwartete, bestieg seine Sänfte und wurde über die wunderbare Drachenbrücke nach dem Hause des blauen Himmels getragen.
Kang-ju-wei stand noch einen Augenblick sinnend im Dämmerlicht des Ahnentempels und sagte, dem Kaiser nachblickend, leise: »Du meinst es gut, Sohn des Himmels, mit deinem Volke, aber ich fürchte, deine Seele ist zu weich, um es mit eherner Hand herauszureißen aus dem langen Schlafe. Wann wird meinem Lande der Held kommen, der mit Macht gebietend seine unendlichen Kräfte entfesselt und es zum Herrn der Erde macht?«
Langsam schritt auch er dem Ausgang zu und verließ den Tempel.
Die Stille des Todes herrschte in dem weiten einsamen Raume, und die Nachbildungen der Herrscher, die einst auf dem Drachenthrone geboten, starrten mit den toten Augen gespenstisch vor sich hin.
Ein leises Geräusch störte das feierliche Schweigen, und hinter dem Altar, in dessen Nähe sich Kwang-sü mit Kang-ju-wei unterhalten hatte, erhob sich ein tückisches Mongolengesicht, dessen dunkle Augen dem jungen Mandarinen mit dem Ausdrucke des Hasses nachblickten.
»Möchtest du den Sohn des Himmels bewegen, unreifer Knabe, altehrwürdige Heiligtümer zu stürzen und die Weisheit der verruchten Fremden im himmlischen Reiche zur Geltung zu bringen?« sagte der Mann vor sich hin, der, sich langsam erhebend, jetzt ganz sichtbar in der Kleidung eines Bonzen neben dem Altare stand. »Du irrst dich, hochmütiger Günstling des Herrschers, wir sind mächtiger als du und er, und es gibt Mittel, den Gefahren vorzubeugen, mit denen deine Neuerungssucht uns bedroht. Dein Kopf steht lose auf deinen Schultern, Mann der Reformen, und es soll nicht an Tsu-su, dem Hüter des Ahnentempels, liegen, wenn du ihn noch lange aufrecht trägst.«
Er lachte tückisch in sich hinein, bewegte sich geräuschlos zu einem geheimen Ausgang und verließ unbemerkt den Tempel.