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Das blinde Mädchen

In der Mission hatte das Eintreffen Gerhardts und seiner Begleiter neue Hoffnung erweckt. Das waren entschlossene Männer, die da so rechtzeitig und so kräftig eingegriffen hatten.

Deutlich erkannte man, daß sich der Feind zu einem zweiten Sturmlauf vorbereitete. Dabei wurde unaufhörlich auf die Mission gefeuert, freilich ohne Erfolg.

Gerhardt schüttelte kräftig die Rührung, die ihn so mächtig überkommen hatte, ab, um nur Krieger zu sein. Er sah sich um, die Verteidiger waren den Umständen nach gut aufgestellt. Er beorderte noch Jan an den Verhau, der einem Angriff am meisten ausgesetzt war.

Da stürmten auch die Chinesen schon in drei Haufen vor.

Alle Gewehre krachten.

Gerhardt und Arnold standen nebeneinander und feuerten mit Schnelligkeit und Sicherheit. Schuß aus Schuß krachte, jede Kugel saß. Ihnen nahe stand der furchtlose Knabe, der sich eines kurzen Chinesensäbels bemächtigt hatte, unweit von ihnen Waltrop, dessen Gewehr sich ebenso oft entlud als die der Brüder.

Die Chinesen warfen sich zur Erde diesen tödlichen Schüssen gegenüber.

Nur der eine Haufe gewinnt den Verhau, wo Jan stand, mit Wu-ti und den bewaffneten Dienern der Mission.

Unter furchtbarem Geheul beginnen sie ihn zu ersteigen, die Diener weichen, selbst Wu-ti tritt zurück, und Jan steht allein.

Aber Jan ist in Zorn geraten, der Marsch hat ihn verstimmt, der unbefriedigte Appetit ihn verbittert; Jan ist wütend.

Ein Chinese erscheint auf dem Wall, ein furchtbarer Stoß mit dem Gewehre trifft ihn vor die Brust, er taumelt aufschreiend zurück.

Ein zweiter Chinese taucht auf. Jan feuert, der Mann stürzt. Zwei, drei erscheinen auf dem Verhau, dahinter die Köpfe andrer Stürmer; zum Laden ist keine Zeit; Jan schwingt mit furchtbarer Kraft die Flinte, der Kolben bricht ab – er schwingt den Lauf wie eine Weidenrute. Neben ihm taucht die schlanke Gestalt Wilhelms auf, der furchtlos den blitzenden Säbel braucht. Wu-ti stürzt vor, eine schwere Holzaxt in der Hand; der wütende Jan entreißt sie ihm, im nächsten Augenblicke spaltet sie das Haupt eines beturbanten Mannes bis zum Kinn – die Chinesen heulen auf vor Schreck, sie wollen zurück, aber andre drängen nach.

Aber in blitzgeschwinden Schlägen, von eines Riesen Arm im Zorn geführt, saust die blinkende Axt hernieder und bringt Tod und Verderben, wohin sie trifft. Kräftig schwingt der Knabe neben ihm das Schwert.

Gerhardt und Arnold haben die Not Jans, der gleich dem Telamonier auf den Schiffen der Achäer kämpft, erkannt und laufen zum Verhau.

Wu-ti, der sich eine andere Waffe verschafft hat, die Diener der Mission, ermutigt durch die verderbenbringende Kraft Jans und das Angstgeheul der Chinesen, dringen vor. Gerhardt schießt mit furchtbarer Geschwindigkeit seinen Revolver ab, jede Kugel trifft. Hurra! da stürzen, wie von Dämonen gehetzt, die Angreifer, einen Haufen Tote zurücklassend, unaufhaltsam davon.

Schüsse krachen ihnen noch nach. Alles weicht, auch die andern Haufen laufen zurück, der Kampf ist beendet, die Mission gerettet.

Schon sinkt die Nacht herab, dunkel wird es ringsum.

Jan ist außer Atem von der gewaltigen Anstrengung, aber unverwundet; er stützt sich auf seine schwere Axt.

»Jan, Jan, Sie haben gefochten wie ein Berserker – ohne Sie waren wir dem Untergange geweiht.«

»Is all gaud, Stürmann,« bringt Jan, der immer noch nach Atem ringt, mühsam hervor, »ick heww mi bannig iwwer die Kirls ärgert.«

Alle ringsum staunen Jan an gleich einem Wundertier, dergleichen Kraftentfaltung hat noch keiner von ihnen gesehen. Mit leuchtenden Augen sieht auch Wilhelm auf den Helden des Tages.

Jan bemerkt es und sagt: »Dat is 'n braven Kirl, de lütte Jong, di stand newen mi.«

»Hast du auch gefochten, Wilhelm?«

»Ich? Ja. Ich bin ein Deutscher.«

Gerhardt streichelt ihm das Haupt.

Jan ist wieder zu Atem gekommen, und seufzend äußert er: »Ick bin ganz swak – es dar nich 'n beeten tau eeten?«

Gerhardt lächelt, er kennt die Schwäche des Riesen, er macht seinen Bruder darauf aufmerksam – und Jan wird eilends nach dem Hause zum Abendbrot geführt.

Alles ist freudig erregt über die Abwehr des gefährlichen Angriffs.

Dennoch vergißt man der Vorsicht nicht, denn der Feind ist schlau und tückisch.

Arnold nimmt seinen Bruder in den Arm: »Muß es sein, so sterben wir zusammen, Gerhardt.«

»Nein, Lieber, wir wollen zusammen leben.«

Sie setzen sich nieder auf die Stufen der kleinen Kirche, und hastig und gedrängt beginnt Gerhardt zu berichten, wie er hierhergekommen.

Mit kindlicher Verwunderung lauscht der junge Geistliche seinem Berichte.

Auch er erzählt bescheiden von seiner Wirksamkeit als Glaubensbote, von den Ereignissen des Tages. Arm in Arm sitzen die Brüder da in innigem Austausch.

Sie denken der Mutter im fernen Westen und fromm sagt Arnold: »Sie hat gewiß in dieser Schreckensstunde für uns gebetet.«

Ihre Gedanken kehrten dann zur Gegenwart zurück.

Es ist dunkle Nacht um sie her, von den Feinden ist nichts zu gewahren, aber in der Ferne leuchtet Feuerschein auf – das abliegende Dorf beginnt zu brennen.

Von Arnold begleitet sieht sich Gerhardt nach den Seinen um. Fung-tu hat eine Zuflucht im Hauptgebäude gefunden und sieht mit Ruhe dem Kommenden entgegen. Jan hat zu Nacht gegessen und macht ein Schläfchen. Neben ihm sitzt Wilhelm und lächelt Gerhardt entgegen. Der Führer Tung-po hat sich mit den Arbeitern und Dienern der Mission vereint. Die Kinder und die blinden Mädchen schlafen sanft, die Schwestern bewachen ihren Schlummer.

In dem kleinen Gemach nebenan schläft Bruder Hermann den letzten Schlaf.

Die hierher geflohenen Frauen und Männer hocken in den Ecken, ergeben in ihr Schicksal, doch hoffnungsfreudig.

Auch Waltrop, der tapfer gefochten hat, sieht die Lage in besserem Licht.

Wachen sind überall, auch draußen im Felde, ausgestellt. Ein Angriff in der Dunkelheit wäre sicheres Verderben. Doch der gewöhnliche Chinese fürchtet die Nacht, und die entschlossene Verteidigung, die Riesenkraft Jans mußte sie sehr erschreckt haben.

Von dem näherliegenden Dorfe, in dem einzelne Lichter zu erkennen sind, tönt Geschrei herauf, es sind Jubellaute, die da herüberdringen.

Es muß etwas geschehen sein, was die Feinde freudig erregt.

»Wenn wir nur jemand hinaussenden könnten, um zu sehen, was sie treiben.«

Neben den Brüdern steht Wilhelm, er vernimmt kaum die Worte Gerhardts, als er sagt: »Ich will gehen.«

»Nein, Kind, das kann ich nicht verantworten.«

»Ich schleiche geräuschlos wie der Marder und verstehe, was sie sagen, laß mich gehen.«

Arnold, der von Gerhardt über den Knaben unterrichtet ist, nimmt ihn liebkosend in den Arm.

»Du bist zu jung, mein Freund, und unsrem Schutze anvertraut.«

»Ich will gehen,« sagte entschlossen Gerhardt, dessen eiserner Körper keine Ermüdung kennt, »er kann mich begleiten, es ist wichtig, zu erfahren, was draußen vorgeht.«

Arnold erschrickt über den Vorschlag.

»Bruder!«

»Es muß sein, Arnold.«

»So gehe ich mit.«

»Nein – du mußt die Festung hüten.«

Es ward beschlossen, daß Gerhardt und der Knabe gehen sollten, mit Trauer im Herzen gab Arnold nach. Aber von den Chinesen wäre keiner zu dem Gang zu bewegen gewesen.

Gerhardt nahm nur seinen Revolver mit, den er frisch geladen hatte, und einen handfesten Stock, mehr als Führer auf unbekanntem Terrain, denn als Waffe. Wilhelm wollte von seinem kurzen Schwerte, das er so tapfer gebraucht hatte, nicht lassen.

Die draußen aufgestellten Wachen wurden von dem nächtlichen Gang der beiden unterrichtet und das Wort »Hung-li«, das so große Bedeutung für einen Teil der Chinesen hatte, als Kennwort verabredet.

Draußen im Dunkel der Nacht trennten sich Gerhardt und Wilhelm von Arnold, dessen Augen sie bald entschwunden waren. Der junge Missionar betete für sie und ging sorgenvoll zur Mission zurück.

Gerhardt und der Knabe schritten vorsichtig und geräuschlos den Weg hinab, der zu dem Dorfe führte. In der Ferne leuchtete das brennende Schwesterdorf.

Wilhelm schlich wie eine Katze einher.

Von Zeit zu Zeit standen sie still und lauschten. Nichts war zu hören.

Als sie dem Dorfe näher kamen, erkannten sie, daß dort noch reges Leben herrsche. Ein Gewirr von Stimmen drang zu ihnen.

Ein alleinstehendes Haus fiel ihnen auf, dessen Inneres beleuchtet sein mußte, auch aus ihm drangen Stimmen hervor.

Vorsichtig schauten sie sich nach Wachen um, doch war nichts, was darauf hindeuten konnte, zu gewahren.

Unhörbar, auf weichen chinesischen Filzsohlen, gebückt einherschleichend, nahten sie dem Hause. Es schien mit Menschen gefüllt zu sein. Bald vernahmen sie das Gemurmel zahlreicher Stimmen, bald die Stimme eines einzelnen, eines Redners, wie es schien.

Sie schlichen dicht an die geöffneten und nur verhängten Fenster.

Wilhelm lauschte.

»Es sind die Führer,« flüsterte er Gerhardt zu, »sie beraten.«

Wieder lauschte er.

Ein Mann mit tiefer Stimme sprach zu den andern, und beifälliges Gemurmel folgte seiner Rede.

Gerhardt gelang es, durch einen Spalt einen Blick in das Innere zu werfen.

Der Raum war gefüllt mit bewaffneten Männern, die rauchten oder Tee tranken.

»Es sind hundertfünfzig Mann frischer Krieger eingetroffen,« flüsterte Wilhelm, »mit Tagesanbruch wollen sie angreifen.«

Wieder sprach ein andrer, dem mehrere entgegneten. Schließlich erhob sich ein zustimmender Ruf.

»Einige glauben, daß wir in der Nacht davongehen könnten, andre, das sei in der Dunkelheit unmöglich. Sie beschlossen, uns beim Morgengrauen anzugreifen und uns alle unter furchtbaren Qualen zu Tode zu martern.«

»Komm, wir wissen genug.«

Sie lösten sich langsam vom Hause und traten den Rückweg an.

Es war nicht leicht, den Pfad wiederzufinden, glücklicherweise zeigte die Lage des brennenden Dorfes an, wo die Mission lag. Endlich erreichten sie den Pfad.

Sie hatten kaum hundert Schritte auf ihm zurückgelegt, als sie vor sich Stimmen vernahmen.

Gebückt schlichen sie zur Seite des Weges; die Stimmen kamen ihnen entgegen. Zwei Männer schritten schattenhaft an ihnen vorüber. Als sie weit genug waren, erhoben sich Gerhardt und Wilhelm und gingen weiter.

Unerwartet trat plötzlich von der Seite her eine Gestalt auf sie zu, die einige chinesische Worte sagte. Gerhardt faßte seinen Knüttel fester.

»Schlag zu,« flüsterte Wilhelm.

Der Stock sauste auf den Schädel des Mannes nieder, der lautlos umsank.

Aber gleich darauf erhob sich zur Seite ihres Weges ein gellender Hilfeschrei, der bis zu dem Haus drang, an dessen Fenster sie gelauscht hatten, dunkel sahen sie eine kaum erkennbare Gestalt davonhuschen. Der gellende Ruf wiederholte sich, Stimmen wurden im Dorfe laut.

Gerhardt und Wilhelm gingen eilig in das Feld und dann auf die Mission zu.

Das ganze Dorf schien lebendig zu werden, aber dennoch schien es, daß man sich scheute, sie zu verfolgen.

Sie gingen weiter; ohne das brennende Dorf würden sie die im Dunkel liegende Mission nicht gefunden haben.

Wiederum zeigte sich eine dunkle Gestalt vor ihnen und Gerhardt griff schon nach dem Revolver, als das Wort »Hung-li« sein Ohr berührte. Er erkannte Arnolds Stimme.

»Arnold!«

»Dem Himmel sei Dank, daß ihr da seid, Todesangst trieb mich hinaus, als ich gewahrte, wie es dort unten lebendig wurde; ich glaubte, ihr wäret entdeckt und gefangen worden.«

»Du siehst, wir sind wohlbehalten.«

Rasch erreichten sie die Mission.

Hier teilten Gerhardt und Wilhelm mit, was letzterer erlauscht hatte, daß die Feinde mit verstärkter Macht am Morgen angreifen würden.

»Dann ist unser Erdenschicksal besiegelt,« sagte trauervoll Arnold, »dem können wir nicht widerstehen.«

»Aber ist es denn unmöglich, einen Rückzug in die Berge zu nehmen?«

»In den Wäldern würden wir bald umringt sein und vernichtet werden, der Weg in die Felsen ist bei Nacht unmöglich, schroff fallen die schmalen Felspfade ab.«

Waltrop wurde gerufen und Wu-ti, um mit ihnen die Lage zu besprechen.

Beide waren der Meinung, daß ein Rückzug in die Felsen bei Nacht unmöglich wäre.

Die Männer und Wilhelm standen im Dunkel beieinander.

Eine zarte melodische Stimme sagte in ihrer Nähe: »Warum wollt ihr nicht in die Felsen gehen? Ich will euch führen, ich kenne dort jeden Weg und Steg.«

Es war die blinde Mi-hei, die so sprach.

Staunend horchten Arnold, Waltrop und Wu-ti bei diesen Worten auf.

Das blinde Kind ging oft genug allein in die Felsen, zwischen denen sie groß geworden war, und Tag oder Nacht war für sie gleich. Sollte dies Rettung sein?

Als Gerhardt dies verdolmetscht wurde, fragte er: »Bieten die Felsen Zuflucht?«

»Zehn Mann können dort auf den engen Pfaden eine Armee zurückhalten.«

»Und ist der Weg dahin frei?«

»Ich glaube es, da die Feinde unsre Flucht für unmöglich halten.«

»So laß das blinde Mädchen vorangehen, die hat uns der Himmel gesandt, sie allein sieht in dunkler Nacht.«

Es wurde beschlossen, den Weg unter Mi-heis Führung anzutreten. Wu-ti ging hinaus, um zu sehen, ob der Weg frei sei.

Während alle geweckt und von dem Vorhaben in Kenntnis gesetzt wurden, die Frauen die Kinder nahmen, die Schwestern die armen blinden Kinder ankleideten, die Männer Speisen einpackten, alles so geräuschlos als möglich, trugen Arnold, Gerhardt und Waltrop die Leiche Bruder Hermanns nach der kleinen Kapelle und legten sie unter dem Altar nieder, um sie soweit möglich der Entweihung durch die Chinesen zu entziehen. Arnold sprach tiefempfundene Worte vor den sterblichen Resten seines Mitstreiters, dann suchten sie die andern wieder auf.

Jan war von dem nächtlichen Auszug, der neue Strapazen mit sich führte, nicht erbaut, doch Fung-tu, der die Gegend kannte, sah Rettung in der Flucht nach den Felsen, wenn sie dieselben glücklich erreichten. »Ich habe Freunde da drüben,« äußerte er.

Dunkel war die Nacht, die Wolken hingen schwer herab, kein Stern glänzte am Himmel und jetzt fiel auch ein feiner Regen hernieder, der die Dunkelheit noch tiefer machte.

Wu-ti kehrte zurück und berichtete, daß die Gegend frei sei von Feinden.

Schweigend wurde der Zug geordnet. Die Frauen trugen die Kinder oder führten die Blinden.

Mi-hei stand mit ihrem Stabe an der Spitze, hinter ihr gingen Gerhardt und Arnold, die Flinten in der Hand, ihnen folgten Fung-tu und Wilhelm. Dann kamen die Frauen mit den Kindern, die Schwestern mit den Blinden. Die Männer Jan, Waltrop, dessen Frau und Kinder im Zuge waren, und Wu-ti bildeten das Hintertreffen.

In langer Kette gingen alle einher, einem Zuge von Nachtgespenstern gleichend.

Rasch ging Mi-hei voran über Wiesen und Felder in schnurgerader Richtung. Keiner von allen hätte bei dieser Dunkelheit die Richtung innezuhalten vermocht.

Sie kamen an den Wald, und das blinde Mädchen traf ohne Zögern den schmalen Pfad, der hindurchführte.

Es kostete jedem Mühe, seinen Vordermann im Auge zu behalten, und die meisten hielten sich an dem Kleide des Vorangehenden. Sie verließen den Wald. Das Geräusch eines eilig zu Tal rinnenden Baches berührte ihr Ohr, alle wußten, daß sie vor den Felsen standen, daß erst jetzt der gefährliche Teil des Weges kam.

Mi-hei sagte zu den hinter ihr stehenden Männern: »Geht alle in meinen Fußstapfen, oder ihr stürzt in den Abgrund.«

Flüsternd ging die Warnung von Mund zu Mund. Mi-hei ging voran einen steilen Felspfad entlang, neben dem tief unten das Wasser des Baches rauschte.

Immer schmaler wurde der Pfad, links eine Felswand steil emporsteigend, rechts ein Abgrund. Nur die Dunkelheit bewahrte die Dahinwandelnden vor Schwindel.

siehe Bildunterschrift

Mi-hei führte die Flüchtigen in die Berge.

Mi-hei, die mit ihrem Stocke sah, mit aller Sicherheit einen aus, und wiederum schritten sie an einem Abgrund hin auf einem Wege so schmal, daß kaum ein Mensch ihn beschreiten konnte. Ängstlich drückten sich die Männer und Frauen an die Wand, nur Fuß vor Fuß setzend – ein Fehltritt war sicherer Tod.

Lange, bange Minuten vergingen, schneckenhaft langsam bewegte sich der Zug vorwärts.

Endlich, endlich wurde der Weg breiter. Es war zu erkennen, daß sie sich in einer Schlucht befanden.

Endlich blieb Mi-Hei stehen und sagte: »Zünde jetzt Licht an, Vater, denn wir sind da; hier ist mein Haus.«

Arnold zog sein Feuerzeug und machte Licht. Bei seinem schwachen Scheine sah er den Eingang zu einer Höhle vor sich.

Jetzt flammte überall Licht auf, denn viele der Chinesen führten ihre Laternen mit, die sie nun anzündeten.

Arnold ging dem Zug, der sich bereits ganz in der Schlucht befand, entlang, und zu seiner Freude waren alle da und wohlbehalten.

Er sprach freundliche, tröstende Worte zu den Leuten, die jetzt die Angst, die sie überfallen hatte, abschüttelten. Man brachte die blinden Kinder in die Höhle, die, wie Mi-hei sagte, groß war, die Frauen folgten und dann die Männer.

»Gott war mit uns,« sagte Arnold, »er hat unsrer Feinde Trachten zunichte gemacht, durch dieses des Augenlichtes beraubte Kind, dessen inneres Auge umso heller sieht. Nächst ihm sind wir diesem Kinde Dank schuldig, es hat uns gerettet.«

»Gott lohnt Gutes hier getan, auch hier schon,« sagte, das Haupt des blinden Mädchens streichelnd, Gerhardt leise, die Worte Lessings wiederholend.

Feuer wurden angezündet aus Reisig, das man in der Schlucht fand, Lagerstätten so gut es ging aus Gras und Moos bereitet, und alle waren glücklich, tödlicher Gefahr entgangen zu sein, bis auf Jan, der nach dem gefährlichen Marsche »'n lütten Appetit« verspürte.

Glücklicherweise waren die Mittel vorhanden, ihn zu stillen.

Gerhardt sank bald in tiefen Schlaf, neben ihm Wilhelm, der den Steuermann sehr in sein Herz geschlossen hatte. Jan hatte sich selbstverständlich nach gehaltener Mahlzeit zur Ruhe begeben. Ringsum saßen und lagen Männer, Frauen und Kinder, die letzteren im sorglosen Schlafe der Jugend.

Nur der junge Missionar saß am Eingang der Höhle und sah in die Nacht hinaus, ein guter Hirte, der die ihm anvertraute Herde treu bewachte.

Die Wolken verzogen sich, der Regen hörte auf und die blitzenden Sterne blickten vom Himmel hernieder. – Heller und heller wurde es, und endlich brach der goldne Tag herein, wenn auch in die tiefe Schlucht, in der der Höhle Eingang lag, der Sonne Strahlen nicht herabfielen.

Arnold weckte Wu-ti und noch einen Mann von der Mission und ging mit ihnen nach dem Ausgang der mit Gras bewachsenen und mit Büschen durchsetzten, von hohen steilen Felswänden eingefaßten Schlucht, durch die sie in diese eingetreten waren.

Als sie den Ausgang erreichten und nun den Pfad sahen, den sie in der Dunkelheit zurückgelegt hatten, schauderten alle drei.

Gähnend öffnete sich der Abgrund neben dem schmalen Wege.

Von den Feinden war nichts zu gewahren, auch würden diese wohl schwerlich gewagt haben, angesichts einer geladenen Büchse diesen Pfad zu betreten.

Arnold ließ die beiden Leute als Wache zurück und schritt wieder der Höhle zu.

Schon waren einige Frauen dabei, die Feuer anzufachen und Tee zu bereiten, wozu sie das Wasser aus einem kleinen Bächlein, das die Schlucht durchfloß, schöpften, als Arnold zurückkehrte.

Die Kinder schliefen alle, auch sein Bruder und Wilhelm schliefen, und Jan schnarchte vernehmlich.

Nur Fung-tu war wach und kam ihm entgegen.

Eine der Frauen brachte ihnen Tee, der sehr wohltuend wirkte nach der rauhen Nacht.

Nach einiger Zeit sagte Arnold: »Wir sind einer großen Gefahr entronnen.«

»Es ist wie du sagst.«

»Aber was nun weiter werden soll, weiß ich nicht. Ich bin erst seit einigen Monaten hier und kenne die Gegend nicht. Lange können wir zwischen diesen unwirtbaren Felsen nicht bleiben und zur Mission zurückzukehren, wird, selbst wenn unsre Feinde abziehen sollten, nicht möglich sein.«

»Nur dann, wenn der Vizekönig zu deinem Schutze eingreift, und das wird nicht geschehen.«

»Du bist erfahren, Fung-tu, kennst Land und Leute, rate, was beginnen wir.«

Der Chinese wiegte das Haupt hin und her und sagte: »Jenseits dieser Berge liegen zahlreiche Dörfer, und ich habe Freunde dort wohnen. Gib mir zwei von deinen Leuten, ich will hingehen und sehen, ob sie euch aufnehmen.«

»Fürchtest du nicht, daß auch dort die Christen verfolgt werden?«

»Nein, ich fürchte das nicht. Auch liegen die Dörfer abseits von den großen Straßen.«

»So geh, Fung-tu, du tust ein gutes Werk.«

»Ich werde gehen.«

»Wirst du den Weg aus diesem Felsengewirr finden?«

»Wenn du mir einen jungen Mann mitgeben willst, der die Felsen erklettern kann, um Umschau zu halten, ja. Jenseits dieser Felsen fällt der Höhenzug sanfter ab als auf dieser Seite.«

Arnold weckte zwei seiner zuverlässigsten Leute, von denen einer ein gewandter Jüngling war, der früher seine Herde in den Felsen herumgetrieben hatte, und befahl ihnen, Fung-tu zu begleiten.

Nach kurzer Vorbereitung brachen sie auf.

Da es sehr wichtig war, Nachrichten von dem Verhalten der Feinde einzuziehen, bewog Arnold einen der jüngeren Leute, den Weg, den sie in der Nacht gekommen waren, zurückzugehen, um sich von dem Zustande der Mission und möglichst von dem, was die Gegner planen konnten, zu überzeugen. Auch dieser Mann ging.

Waren die Flüchtlinge auch für den Augenblick gesichert, der Mangel an Nahrungsmitteln mußte sie bald aus den unwirtlichen Felsen vertreiben.

Arnold war von den Ereignissen des vorigen Tages, der schlaflosen Nacht so erschöpft, daß auch er endlich Ruhe suchen mußte.

Als er erwachte, war er Tag schon weit vorgeschritten.

Sein Blick fiel auf Gerhardts freundliches Gesicht, der neben ihm saß und ihn liebevoll anblickte.

»Nun, mein lieber Heidenapostel, ausgeschlafen?«

»Ja, mein lieber Gerhardt, und gekräftigt zu neuen Werken.«

Lange saßen die beiden Brüder, die das Geschick tief im fernen Asien vereint hatte, beisammen, sprachen von der Heimat, von der Mutter, von ihren Erlebnissen, und alles um sie her verschwand in der Erinnerung an ihre Lieben.

Mit inniger Teilnahme wurde auch des Schicksals des Knaben gedacht, der so kühn Gerhardt und Jan aus dem Gefängnisse in Lao-tschi befreite, des armen Knaben, dessen in der ersehnten Heimat eine geisteskranke Mutter harrte. Was die nächste Zukunft anbetraf, so mußte abgewartet werden, was Fung-tu und der nach der Mission gesandte Mann rückkehrend berichteten.

»Die Chinesen sind im ganzen ein widerliches, bösartiges Volk,« äußerte Gerhardt.

»Du tust ihnen unrecht,« entgegnete sanft der Missionar, »sie haben vortreffliche Eigenschaften. Sie sind fleißig, sparsam, ehrlich –«

»Und mordlustig.«

»Wer wollte nach dem, was wir erfahren haben, bezweifeln, daß auch alle schlimmen Leidenschaften ihrer Herr werden können. Wir wissen zu wenig von diesem Volke und bemühen uns auch nicht genug, es gründlich kennen zu lernen. Bruder Hermann hat in Gnadental zehn Jahre friedlich gewohnt, verehrt von den Heiden und geschätzt von den chinesischen Beamten, weil er sich nie in Dinge mischte, die außerhalb seines Amtes lagen und bereitwillig dem Kaiser gab, was des Kaisers ist. Ohne das Eindringen der aufgeregten Banden würde auch noch der Friede in unsrem Tale herrschen, der so schrecklich gestört wurde.«

»Aber die Erfolge der Missionen in China sind doch gering, Arnold.«

»Die Gelehrten und die Buddhapriester sind unsre Feinde, und beide sind sehr mächtig. Und dennoch hat der Taipingaufstand gezeigt, wie gewaltig die schlichte Lehre Christi die Gemüter zu ergreifen vermochte.«

»Ich habe davon gehört,« sagte Gerhardt und dachte an Kau-ti und seine geheimnisvolle Macht.

»Der Taipingaufstand war ein gewaltiges Aufflackern der chinesischen Volksseele und ein Beweis, daß erhabene Ideen auch in diesem Volke ihre Macht bewahren.«

»In einem verderben es die christlichen Glaubensboten mit den Chinesen stets, in ihrem Verdammen des Ahnenkultus. Die Verehrung der abgeschiedenen Seelen der Vorfahren, so alt wie das Volk selbst, ist dem Chinesen in Fleisch und Blut übergegangen; er stirbt gefaßt, wenn er weiß, daß ein Sohn für ihn betet.«

»Wir haben unsre Gemeindeglieder nie abgehalten, ihren Ahnenkultus zu üben, in dem etwas Rührendes liegt, und sie nur so weit belehrt, daß sie die Idee nicht mit dem Symbol verwechseln. Denken wir doch auch liebend unsrer abgeschiedenen Teueren, schmücken ihre Gräber und hoffen, daß ihr seliger Geist vom Himmel auf uns niederblicke. Sind auch die Formen der Chinesen bei ihrer Ahnenverehrung heidnisch, ist auch ihr törichter Glaube an den guten oder auch bösen Einfluß abgeschiedener Geister auf das Geschick der Lebenden zu tadeln, so liegt in der Sache selbst ein tiefsittlicher Kern, den herauszuschälen und von Schlacken zu befreien wir bemüht sein müssen.«

»Du hast also eine gute Meinung von dem Volke?«

»Nach dem wenigen, was ich gesehen, nach dem, was ich von dem erfahrenen seligen Bruder Hermann gehört habe, glaube ich, daß dieses begabte Volk noch eine große Zukunft hat.«

»Und der barbarische Gesandtenmord in Peking?«

»Mache nicht ein Volk von fast vierhundert Millionen Seelen verantwortlich für das, was einzelne verbrochen haben.«

»Ich für meine Person habe an den Chinesen gerade genug.«

»Hast du nicht in deinem Herrn Kau-ti, in Fung-tu auch aufgeklärte, ehrliche und gütige Menschen kennen gelernt?«

»Da schlägst du mich, das ist wahr.«

»Stelle solche Leute an die Spitze des Staatswesens, und alles gestaltet sich anders.«

Spät am Tage kam der nach der Mission abgesandte Bote zurück. Seine Nachrichten lauteten traurig. Das eine der Dörfer war niedergebrannt, die Mission lag in Asche.

Die in das Tal eingefallene mörderische Schar war weiter gezogen nach Osten zu, aber an die Rückkehr der Flüchtlinge war darum doch nicht zu denken, ehe nicht die Obrigkeit ihre Hand schützend über sie ausstreckte. Verworrene Gerüchte über Vorgänge in Peking liefen um, der Kaiser sollte gestorben sein, große Würdenträger hingerichtet, und ein furchtbares Heer habe alle Fremden vernichtet und zum Lande hinausgetrieben. So berichtete der Bote.

Am andern Tage kam Fung-tu zurück. Er hatte die Bewohner der Dörfer jenseits des Gebirges bereit gefunden, die Flüchtlinge aufzunehmen. Daß er, der als sehr reicher Kaufmann dort bekannt war, sich bei den Dorfältesten mit einer namhaften Summe für die Verpflegung der Vertriebenen und besonders der blinden Kinder verbürgt hatte, sagte er nicht.

Damit war der einzige Weg gewiesen, der Arnold, seine Pfarrkinder und seine Freunde aus der Not erretten konnte.

Es wurden auch alsbald Veranstaltungen getroffen, den Marsch anzutreten.

Betrübt sagte Mi-hei, als sie es erfuhr: »Jetzt kann ich euch nicht führen, den Weg kenne ich nicht.«

Sie war nicht wenig stolz, daß sie die Flüchtlinge in die Berge geleitet hatte, sie, die Blinde die Sehenden.

Unter Führung der Leute, die Fung-tu begleitet hatten, gewannen sie nach rauhem Wege endlich die Niederung jenseits der Felsen.

Sie fanden hier Leute aus der Umgegend, die für ihr Unterkommen sorgen wollten. In einem der nahe gelegenen Dörfer hatte der Ortsvorstand ein hinreichend geräumiges Haus für die blinden Kinder angewiesen, die mit den beiden Schwestern dort blieben, die andern mußten sich auf die andern Ortschaften verteilen, doch kam man ihnen überall freundlich entgegen, so auch dem Missionar und den Europäern; Haß gegen Christen und Fremde schien hier nicht vorhanden zu sein.

Fung-tu, Gerhardt, Jan, der Knabe Wilhelm und auch Arnold wurden in dem Gehöft eines Mannes einquartiert, der Handelsgeschäfte trieb und mit Fung-tu von früher her bekannt war.

Waltrop fand mit den Seinen Unterkunft bei einem andern.

Die ganze Gegend, die abseits von der Straße lag, durch das unwegsame Gebirge von dieser getrennt, schien von einer friedlichen, von den Begebenheiten im Osten kaum berührten Bevölkerung bewohnt zu sein.

Es vergingen einige Tage, und Arnold überzeugte sich, daß seine Pflegebefohlenen in guter Obhut waren und Fung-tu für ihre Existenz bis zur Rückkehr der Ordnung in das Land gesorgt hatte.

Fung-tu dachte daran, den Weg nach Süden zu nehmen, um den Kwangho hinabzugehen und Schanghai oder Tientsin zu erreichen.

In seiner Gesellschaft wollten auch Gerhardt und Jan mit Wilhelm den Weg zur Küste nehmen.

Waltrop aber, der auf einer solchen Reise Gefahren für Frau und Kinder fürchtete und sich inmitten einer friedlichen Bevölkerung sah, auch den Einfluß erkannte, den Fung-tu ausübte, entschloß sich zugleich mit den Schwestern zu bleiben, bis bessere Tage kämen.

Nach manchen Vorstellungen und einsehend, daß er hier zunächst für seine Gemeinde nichts mehr tun konnte, entschloß sich Arnold, den Bruder zu begleiten, um in Schanghai den Vorstand der Mission aufzusuchen, und bei klarer Erkenntnis aller Verhältnisse unter dessen Leitung alle Schritte zu tun, die zum Heile seiner Pfarrkinder nötig und nützlich schienen.

Die Schwestern, Waltrop mit den Seinen wurden dem Schutze der Ortsvorstände anvertraut, und Fung-tu verbürgte sich für deren Zuverlässigkeit.

Schwer wurde dem jungen Geistlichen der Abschied von den Menschen, die ihm mit herzlicher Liebe zugetan waren.

Die Kinder riefen ihm ein über das andre Mal zu: »Komm nur wieder, Vater Ano.«

Und Mi-Hei setzte hinzu: »Wir haben dich alle lieb, Vater Ano.«

Doch endlich kam die Stunde der Trennung. Auf den kleinen Pferden, wie sie in China allgemein anzutreffen sind, ritten Fung-tu, die Brüder, Jan, Wilhelm, der gut gekleidet worden war, in Begleitung des von Kang-hau gekommenen Boten auf einsamen Wegen, abseits der großen Verkehrsstraßen, nach Süden zu.


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