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Verzweiflungskampf

Jetzt begann ein Kampf der wenigen in der Riesenstadt eingesperrten Europäer, der seinesgleichen in der Weltgeschichte nicht hat. Die Schutztruppen sämtlicher Mächte zählten kaum dreihundertundfünfzig Mann, denen sich vielleicht hundertundfünfzig dem Zivilstande angehörige Männer zur Verteidigung ihres Lebens, des Lebens von Frauen und Kindern angeschlossen hatten.

Der Telegraph nach Tientsin war in den Händen der Chinesen, durch ihn war keine Hilfe herbeizurufen. Wohl ein Dutzend treuer und zuverlässiger Boten hatte man von den Gesandtschaften mit Briefen nach Tientsin geschickt, doch war es mehr als zweifelhaft, ob auch nur einer an das Ziel gelangen würde.

Auch war von dort kaum Hilfe zu erwarten, denn man wußte in den Gesandtschaften, daß dort heiß gekämpft wurde.

Alle aber, die hier von heulenden, mordlustigen Chinesen eingeschlossen waren, waren entschlossen, sich bis zum letzten Augenblick zu wehren.

Auch die Frauen waren bewaffnet worden, um teilzunehmen am Kampfe.

Es war eine auserlesene Heldenschar, die hier hoffnungs- und aussichtslos gegen viele Tausende von Mongolen täglich mit neuem Mute stritt, abgeschlossen von aller Welt.

Die Chinesen hatten verschiedentlich gestürmt, waren aber stets mit blutigen Köpfen und unter schweren Verlusten zurückgetrieben worden.

Wiederholt war der Gedanke angeregt worden, sich nach der festeren englischen Gesandtschaft zurückzuziehen, aber Graf Soden und der Vertreter des ermordeten Gesandten, Herr von Below, wollten, so lange es anging, deutsches Eigentum verteidigen, und erst wenn die äußerste Notwendigkeit es gebieten würde, die englische Gesandtschaft aufsuchen.

Hoch flatterte noch die deutsche Flagge über der Gesandtschaft.

Die chinesische Regierung bot den Europäern immer noch freies Geleite bis Tientsin an, doch wurde dies abgelehnt, da man zu gut wußte, daß kein Mensch lebend nach Tientsin gekommen sein würde.

Aber man wußte auch nur zu gut, daß man von der fremdenfeindlichen Partei, deren Seele Prinz Tuan war, keine Gnade zu erwarten hatte, daß weder der Kaiser, den man aller Macht entkleidet hatte, noch die einsichtsvolleren Mandarinen zu Gunsten der Gesandtschaften eintreten würden. Die Haltung der alten Kaiserin schien zweifelhaft, sicherlich stand auch sie unter dem Einflusse der Fremdenhasser.

Es mußte, wenn nicht, was sehr unwahrscheinlich war, Entsatz kam, bis zum letzten Hauche gekämpft werden.

Gerhardt, der ein sehr guter Schütze war, und Jan, der durch seine Körperkraft den Feinden Schrecken einjagte, hatten sich bei allen Kämpfen ausgezeichnet, aber die Schutztruppe war im Laufe der Tage durch Tote und Verwundete schon auf die Zahl von dreißig Mann herabgesunken.

Es war ein Glück, daß die Chinesen so schlecht schossen, obgleich sie gute Hinterlader hatten, während jeder Schuß der Deutschen traf. – Die Chinesen hatten endlich, um geschützter angreifen zu können, Schanzen gebaut und diese immer näher an die deutsche Gesandtschaft herangeschoben. Der Augenblick nahte, wo die englische Gesandtschaft als letzter Zufluchtsort ausgesucht werden mußte. Es war Nacht, der Tageskampf war beendet und hatte nur einige leichtere Verwundungen im Gefolge gehabt. Gerhardt und Jan saßen an dem verbarrikadierten Tor und hielten Wache.

Aufmerksam lauschten sie auf jedes Geräusch draußen. Da vernahmen sie deutlich, daß die Chinesen an ihren Verschanzungen arbeiteten, um sie wieder, wenn auch nur einige Schritte, vorzuschieben; am Tage wagten sie das nicht.

»Hören Sie, Jan?«

»Woll, Stürmann. Ick wulld se den Spaß woll verderwen, wenn ick nur Pulver hätt.«

»Wie das?«

»Ick smiet se een ganzes Faß voll öwer de Barrikad.«

»Der Mann wären Sie dazu.«

»Ick denk ook.«

In diesem Augenblick kam ein Offizier, um seine ausgestellten Wachen zu inspizieren.

Er mußte wohl etwas von der Unterhaltung der beiden Leute vom »Wittekind« vernommen haben, denn er fragte: »Was wollen Sie den Chinesen über die Barrikade werfen?«

»Een Faß mit Pulver, dat es die gele Röwerbande mit eens in de Luchtens sprengt.«

»Wie denken Sie sich denn das?«

»Na, wenn ick so 'n Faß von fünfundtwintig Pund hedd, mit 'n Lunt dran, smiet ick et mitten tüschen de gelen Kirls.«

»Das wäre ein Wagstück, könnte uns aber Frist schaffen. Wie ich höre, sind die Herren Chinesen eifrig am Schanzen.«

Der Offizier ließ einen Feuerwerker rufen und sagte dem, was der Hamburger für eine Idee habe.

»Das geht, Herr Leutnant,« sagte der Mann, »die einzige Schwierigkeit ist die, das Faß weit genug zu schleudern. Es herzustellen, mit einer Zündmasse, die es beim Aufschlagen zur Explosion bringt, ist nicht schwer.«

»Wie weit glauben Sie das Faß schleudern zu können, Jan?«

»Ick denk all fuftig Schritt.«

»Alle Wetter!«

»Ick heww dat all oft matt, wenn ook nich mit Pulver.«

Erich Gerhardt bestätigte, daß Jan der Mann wäre, seine Worte wahr zu machen. Hiernach gab der Offizier seine Zustimmung zu dem Wagstück.

Der Feuerwerker versprach ein solches Sprenggeschoß rasch herzustellen, Pulver war genug vorhanden, und binnen einer halben Stunde wurde vorsichtig das mit Pulver und Sprengmasse gefüllte Faß herbeigetragen.

Jan wog es in den Händen.

»Dat is gaud,« sagte er.

Die Barrikade der Chinesen war wohl hundert Schritt von der Gesandtschaft entfernt, Jan mußte also mehr als fünfzig Schritt an sie herantreten, um seine Zerstörungswaffe zu schleudern, wozu seine riesenhafte Kraft nötig war. Freilich war die Nacht sehr dunkel, aber die Chinesen hielten Wache. Man machte ihn darauf aufmerksam.

»Bah,« sagte Jan, »di Kirls künt jo nich zielen.«

Das Gerücht von dem, was sich vorbereitete, hatte sich verbreitet und eine Anzahl der Verteidiger der Gesandtschaft hatte sich eingefunden, um dem kecken Wagestück beizuwohnen.

Jan war sehr ruhig. Der Verhau im Torweg hatte eine Öffnung, durch die ein Mann durchschlüpfen konnte.

»Ich werde Sie begleiten,« sagte Gerhardt, den das Verhalten Jans sehr aufregte, denn der Koch setzte sein Leben auf das Spiel.

»Ne, leiwe Stürmann, laten Se mi man allein gahn, mi sehn die Chinesers nich.«

Er hob das Faß auf und nahm es unter den Arm, als ob es ein Federkissen gewesen wäre.

Er ging vorsichtig auf seinen filzsohligen Chinesenschuhen, die er noch immer trug, hinaus.

Alle andern kauerten hinter dem Verhau im Anschläge.

Die Nacht war dunkel genug. Jetzt tropfte auch ein lauer Regen hernieder. Langsam, vorsichtig, sich gebückt haltend, schritt Jan Schritt für Schritt vor. Er zählte seine Schritte, denn die Barrikade war nur schattenhaft zu erkennen.

Jetzt hatte er sechzig Schritte hinter sich, aber er traute der Schätzung von hundert Schritten nicht, und ging noch fünf Schritte weiter.

Leise Stimmen drangen zu seinem Ohr. Sollten die von der Barrikade kommen?

siehe Bildunterschrift

Gewaltig krachend schoß eine Feuergarbe empor.

Nein, sie waren neben ihm. Er sah dunkle Gestalten. Das galt der Gesandtschaft – ein Überfall wurde geplant.

Da schwang er mit der ganzen gewaltigen Kraft seines Leibes das Faß – hoch im Bogen sauste es empor – und warf sich nieder mit dem machtvollen Rufe: »Der Feind! Feuer!«

Unter gewaltigem Krachen schoß eine Feuergarbe hinter der Barrikade empor und beleuchtete einen Augenblick alles ringsumher in rotem Schein, auch die Chinesen, die sich auf die Gesandtschaft zu bewegten. Die Mausergewehre krachten, Geschrei, Geheul, Stöhnen ließ sich ringsum hören. Jan lag noch immer am Boden. Was von den vorgedrungenen Chinesen noch lebte, strebte in eiliger Flucht rückwärts.

Jan kroch vorsichtig aber eilig nach dem Eingang der Gesandtschaft zurück.

»Stürmann.«

»Jan.«

»Ick bin all taurüg.«

Er trat hinter den Verhau, wo er von allen Seiten auf das wärmste beglückwünscht wurde.

»Ja, Sie sind ein Prachtbursche, Hamburger,« sagte der Offizier und reichte ihm die Hand, »das wird den Chinesen auf einige Zeit das Schanzenbauen verleiden.«

»Ick denk woll.«

»Das haben Sie wirklich gut gemacht, Jan.«

»Na, wat is darbei? Et waren jo blot fifentwintig Pund.«

Der Koch dachte nur an sein Kraftstück, nicht an die Gefahr, der er sich ausgesetzt hatte.

»Sie haben uns vor einem Überfall bewahrt, der sehr gefährlich hätte werden können; es soll nicht vergessen werden.«

Während der Offizier ging, um Herrn von Below Bericht abzustatten, setzten sich die Soldaten um Jan und reichten ihm Herzstärkungen und Tabak, was der Koch schmunzelnd annahm.

Die tiefste Stille war wiederum eingekehrt ringsum, die Chinesen schienen gänzlich verschwunden zu sein.

»St! Herr Gerhardt,« flüsterte der Mann, der vorn Wache hielt.

»Was gibt's?«

»Kommen Sie mal hierher.«

Gerhardt ging.

Der Soldat deutete in die Dunkelheit und sagte: »Ist es nicht, als ob da etwas herumkröche?«

Gerhardt strengte die scharfen Seemannsaugen an.

»Ich sehe nichts.«

»Ja, jetzt liegt es ruhig – geben Sie acht, wenn es sich bewegt.«

»Wahrhaftig, da bewegt sich etwas.«

»Soll ich schießen?«

Eine Stimme drang durch die Dunkelheit; in deutscher Sprache klang es gedämpft zu ihnen her: »Schießt nicht. Gut Freund!«

»Was ist das? Kommen Sie hierher,« rief Gerhardt leise, hielt aber, wie der Soldat, sein Gewehr schußbereit. Gleich darauf tauchte eine Menschengestalt vor ihnen empor.

»Hierher.«

Sie ließen sie durch die Öffnung eintreten und faßten sie auch beide sofort mit kräftigen Händen an. Ein Boxer stand vor ihnen.

»Erwürgen Sie mich nicht,« sagte der Mann; »ich bin ein Bote von Tientsin.«

Gerhardt und ein Soldat führten den Menschen in die rückwärts gelegene erleuchtete Wachtstube, und ein Chinese im Turban des Boxers stand im Lichte da.

»Ah – Herr Gerhardt,« sagte der Mann, »das freut mich. Führen Sie mich sofort zu Ihrem Chef, ich bringe Briefe und Nachrichten.«

Mit nicht geringem Erstaunen erkannte Gerhardt in dem Boxer Herrn Lange.

»Wie kommen Sie hierher?«

»Das ist eine lange Geschichte – doch führen Sie mich zunächst zu Ihrem Chef.«

»Sind die Chinesen noch in ihren Schanzen?«

»Nein, die sind davongelaufen, Ihre Bombe hat eine furchtbare Panik hervorgerufen. Dies allein ermöglichte es mir, mich ihren Verschanzungen zu nahen.«

»Hatte der Feind Verluste?«

»Sie müssen groß sein.«

»Kommen Sie, Herr Lange, Sie erzählen uns später, wie Sie hierhergekommen sind und was draußen vorgeht.«

Er führte Lange zu Graf Soden und kehrte zurück. Den Soldaten, die den deutschredenden Chinesen verwundert angesehen hatten, sagte er, was er von Lange wußte.

Nach einiger Zeit kam dieser zurück und die Leute drängten sich um ihn, um Neues aus der Welt zu erfahren, von der ihnen seit Wochen jede Kunde fehlte.

»Es hat Mühe gekostet, zu euch hierher zu gelangen, und nur meiner chinesischen Visage und der Sprache meiner Mutter verdanke ich es, daß ich durchgekommen bin. Ganz ohne Lebensgefahr ging es nicht ab. Zuletzt mußte ich Boxer werden, um zu euch kommen zu können.«

»Ist Tientsin von den Chinesen genommen?«

»Nein, Gott sei Dank, nicht.«

»Lebt Herr Hellmuth noch?«

»Ja, und ist wohlauf mit den Seinen.«

»Dürfen wir denn Hoffnung auf Ersatz hegen?«

»Ich glaube, ja. Versäumt wird nichts Rettung zu bringen.«

»Und wann? Das Ende naht mit Riesenschritten.«

»Wir stehen alle in des Allmächtigen Hand.«

Alle waren stumm nach dieser Antwort.

Lange fuhr fort: »Als die bedrängte Lage der Gesandten bekannt wurde, und selbst die chinesische Regierung europäische Hilfstruppen erbat, brach Admiral Seymour am 10. Juni mit wenig über zweitausend Mann, Engländern, Russen, Amerikanern, Japanern, Deutschen und Österreichern, nach Peking auf, trotzdem die Eisenbahn dahin bereits zerstört war, um euch Hilfe zu bringen. Von den Unsern waren die Landungsmannschaften der ›Hertha‹, ›Hansa‹, ›Kaiserin Augusta‹ und ›Gefion‹ unter Kapitän von Usedom dabei.

In Tientsin wurde die Lage immer bedrohlicher. Boxerscharen tauchten ringsum auf und Truppen wurden in die Forts am Peiho geworfen. Am 16. Juni forderten die europäischen Kriegsschiffe den chinesischen General auf, die Forts zu räumen, oder um zwölf Uhr Nachts würde das Bombardement beginnen.

Doch schon vor zwölf Uhr eröffneten die Chinesen das Feuer auf die Kanonenboote, die im Peiho lagen. Hei, Kinder – Sie wissen, Herr Gerhardt, daß ich ein guter Deutscher bin, trotz des chinesischen Blutes in meinen Adern – da ging einem das Herz auf. Die Chinesen fochten und schossen gut, das muß man sagen, sie hatten auch leichter zielen auf die Schiffe als diese bei der Dunkelheit auf die niedrigen Schanzen. Die Kugeln sausten zischend gleich Feuerwerkskörpern im Bogen durch die Luft und ein Donnern durchschallte die Nacht, das meilenweit hallte. Endlich wurde es Tag. Da ward unser ›Iltis‹ schwer getroffen, mehrmals – aber unter dem donnernden Hurra der Engländer und Russen legte er nun furchtlos näher an die Forts heran. Unaufhörlich entluden sich seine Schnellfeuergeschütze und die Leute schossen trotz des heftigen Feuers der Forts, das vorzugsweise dem ›Iltis‹ galt, trotz herber Verluste, mit einer Ruhe, wie bei einer Schießübung.

Kapitän Lans wird schwer verwundet, beide Beine sind entzwei geschossen, aber dennoch behält er das Kommando. Endlich will man ihn hinuntertragen, die Ärzte befehlen es, da wird noch die Kajütentreppe durch eine Chinesenkugel zerschmettert und er stürzt hinab. Leutnant von Waffenstein kommandiert weiter. Achthundert Mann Sturmtruppen waren schon vor zwölf Uhr in der Dunkelheit gelandet worden, aus allen Nationen zusammengesetzt, unter dem Kommando des Kapitäns Pohl und versteckt aufgestellt.

Jetzt, wo es Tag war, und den Forts schon gehörig zugesetzt war, wurde das Signal gegeben: Feuer einstellen! Zum Sturme vor!

Das war eine Überraschung für die Chinesen. Das hatten sie nicht erwartet.

Mit wildem Ungestüm, mit todesverachtender Kühnheit dringen die Sturmkolonnen vor. Die Chinesen verlieren den Kopf, sie haben tödliche Angst vor dem Bajonett, sie feuern – vergebens – die Stürmenden sind nicht zu schrecken. – Immer vorwärts – die flinken Japaner sind auf dem Wall, die Deutschen gleich darauf neben ihnen – einige Chinesen wehren sich tapfer, andre weichen, da fliegt ein Pulvermagazin in die Luft, da ist kein Halten mehr – in wilder Flucht rennen die Chinesen davon. Das Nordfort ist genommen, die deutsche Flagge weht von der Schanze.«

Atemlos lauschen die Männer der Schilderung Langes.

»Und weiter? Weiter?« klingt es von allen Seiten.

»Die Forts waren in unsrem Besitz, aber während die europäischen Truppen dem General nun entgegenrückten, der mit starker Macht in der Nähe stand, begannen zehntausend Mann Boxer und reguläre Soldaten den Angriff auf das europäische Viertel von Tientsin. Da galt es sich zu wehren.

Wir fochten für Weib und Kind wie die Löwen; die Häuser wurden uns von den Chinesen zusammengeschossen, aber wir fochten weiter.

Ein verwegener Engländer James Watt, ein außerordentlicher Reiter, hatte mit Todesgefahr den russischen General Stößel, der das Oberkommando führte, aufgesucht und ihn von unserer Lage benachrichtigt.

Am 23. Juni, schon waren wir todesmatt, kam endlich Hilfe. O, welch ein blutiger Kampf um das Arsenal, das die Chinesen kräftig verteidigten – aber es wurde nach furchtbarem Ringen genommen – wir waren befreit.«

»Gott sei Dank.«

»Und General Seymour?«

»Der war auf zwanzigtausend Mann regulärer, europäisch geschulter chinesischer Truppen gestoßen und von der Übermacht zurückgeworfen worden.

Am 26. erfuhren wir, daß er in bedrängter Lage im Fort Hsikoo läge. Alsbald zogen wir aus, zweitausend Mann aller Nationalitäten, um die Brüder zu befreien. Nach heftigem Kampfe gelang es uns, jubelnd zogen wir nach Tientsin zurück. Unsre Landsleute hatten sich überaus tapfer gehalten.

Als der Admiral, der ritterlich aufgebrochen war, um euch hier zu helfen, nicht mehr weiter konnte, war Kapitän Usedom die Seele des furchtbaren Rückzugs. In ununterbrochenem Kampfe wurde der Weg zurückgelegt. Bei jeder gefährlichen Attacke aber befahl der Admiral: die Deutschen voran! Und sie gingen voran, und ich hoffe – ich bin auf nichts stolzer, als daß mein Vater ein Deutscher war –, daß die Deutschen immer vorangehen werden, immer und überall.«

»Hurra! Hurra!« jubelte alles ringsum, und Jan, der nach seiner Heldentat ein kleines Schläfchen gemacht hatte, wachte auf.

»Was gibt's denn, Leute?« ließ sich die Stimme eines herantretenden Offiziers vernehmen.

»O, Lange erzählt uns von Taku und Tientsin.«

»Und die Deutschen voran!« rief ein Soldat.

»Ja, ja, meine Jungen, wir wollen auch vorangehen. Einstweilen müssen wir uns noch wehren.«

»Kommt denn Hilfe?«

»Sie kommt, nur getrost –«

»Ach, wir fürchten uns nicht –«

»Aber wir müssen aushalten, bis sie kommt.«

»Das werden wir auch.«

»Der Kaiser hat sofort nach dem Eintreffen der Nachricht von der Ermordung unsres Gesandten zwanzigtausend Mann hierher abgeschickt und alle Panzerschiffe.«

»Hurra!«

»Dann wollen wir's den Chinesen zeigen.«

Immer mehr mußte Herr Lange nun erzählen von den Kämpfen um die Takuforts und Tientsin. Die Leute erkundigten sich nach Kameraden, und Lange gab Auskunft, so viel er konnte. Dann erzählte er von seiner abenteuerlichen Reise als Boxer nach Peking: er kannte alle Geheimzeichen dieses Bundes.

Endlich konnte ihn Gerhardt etwas für sich haben.

»Sind Nachrichten aus dem Lande von den Missionen eingetroffen?« fragte er mit bebender Stimme, denn seines Bruders Schicksal lag ihm schwer auf der Seele.

»Von einigen, ja, und leider nicht gute.«

»Von Lao-tschi auch?«

»Nein, dort scheint es noch ruhig zu sein. Auch im Süden ist man friedlich gesonnen; die fremdenfeindliche Bewegung ist nur am Hofe und im Norden stark.«

»Gott schütze meinen armen Arnold.«

Er teilte ihm dann seine Schicksale mit, seit er Peking verlassen hatte.

Mit Staunen vernahm Lange sie.

»Haben Sie noch Hoffnung für uns?«

»Ja.« Leise sagte er ihm dann: »Am Kaiserhofe bekämpfen sich zwei Strömungen, von denen doch vielleicht die friedlichen jetzt, nachdem der Anschlag auf Tientsin mißglückt ist und Europa rüstet, die Oberhand gewinnt.«

»Gott gebe es.«

»Und unser Freund Fung-tu?«

Gerhardt sagte ihm, was er von ihm wußte.

»O, o, das tut mir leid, Fung-tu war ein Ehrenmann und ein Freund der Europäer. Aber ich hoffe, er wird Hilfe gefunden haben, er gehört einem mächtigen Bunde an.«

Überrascht sah Gerhardt ihn an.

»Ich darf nicht darüber reden, aber hier in China ist alles Geheimbündelei, und der Bund, dem Fung-tu angehört, ist, wie ich weiß, sehr mächtig.«

»So will ich hoffen, daß es ihm gut geht, ihm und seinen kleinen Mädchen.«

Lange noch saßen sie zusammen, ehe sie die Ruhe suchten. Der kommende Tag brachte eine Überraschung.

Der nächtliche Angriff auf die Verschanzungen, der ihnen einen starken Menschenverlust zufügte, hatte die Chinesen veranlaßt, mit vieler Mühe zwei Geschütze in Position zu bringen, und gegen elf Uhr sauste die erste Granate in die Gebäude der Gesandtschaft, glücklicherweise ohne zu explodieren.

Jetzt wurde die Sache gefährlich, jetzt hieß es die Geschütze nehmen, oder sich nach der festeren englischen Gesandtschaft, die durch die Gärten unschwer zu erreichen war, als letzten Zufluchtsort zurückzuziehen, obgleich dies nicht ohne Gefahr geschehen konnte. Die chinesischen Geschütze standen zwar im Bereich des Gewehrfeuers, aber sie waren verdeckt aufgestellt und schossen über Bank, was sehr weise getan war unsern Scharfschützen gegenüber, die die Bedienungsmannschaft bald weggefegt haben würden. Aber die Gefahr lag nahe, daß die Gesandtschaft in Brand geschossen werden könnte.

Man war entschlossen, die Geschütze zu nehmen. Die Chinesen hielten sich infolge bitterer Erfahrungen ängstlich gegen das Gewehrfeuer der Deutschen gedeckt und schossen mit ihren Flinten auch über Bank, das heißt im Bogen über eine Deckung hinweg, wobei sie natürlich nie trafen. Darin lag überhaupt die Rettung der Gesandtschaften; entschlosseneren Angreifern hätten sie nicht zu widerstehen vermocht.

Man sagte den Leuten, daß die Geschütze genommen werden müßten, und sie waren bereit, ihr Bestes zu tun. Daß Gerhardt und Jan an dem Ausfall teilnehmen, verstand sich von selbst. Auch Lange wollte mitkämpfen, aber der kommandierende Offizier duldete es nicht.

»Sie können uns auf andere Weise nützlicher werden,« sagte er, »wir brauchen einen gesunden Boten nach Tientsin.«

Dies einsehend, blieb der tapfere Mann widerwillig zurück.

Mit Tagesanbruch sollte der Ausfall gemacht werden.

Kaum war es hell genug, brach die kleine Heldenschar geräuschlos aus der Gesandtschaft hervor. Kein Chinese war zu erblicken.

In größter Eile erkletterten sie die von den Feinden aus Balken und Steinen aufgeworfene Verschanzung. Erst von oben erblickten sie sorglos gelagerte chinesische Truppen.

Das gellende Hurra und eine volle gutgezielte Salve brachte die, die noch laufen konnten, zu eiliger Flucht.

Zehn Mann blieben oben zur Rückendeckung, so war es bestimmt, die andern steigen herab. Da sind die Geschütze.

Jetzt beginnen die Chinesen zu schießen, sie schießen viel zu hoch, aber die zurückgebliebenen Deutschen nahmen sicheres Ziel.

Jetzt bricht eine starke Schar Bannersoldaten hervor.

»Halt!« ertönt das Kommando. »Feuer! Zwei Patronen!« Die Kugeln schlagen ein, die Bannertruppen machen kehrt.

Die Unsern sind bei den Geschützen, aber immer stärker wird das Feuer ringsum.

Das eine ist ein neuer Hinterlader, das andre eine alte Haubitze. Auch darauf ist man vorbereitet. Schnell wird der Verschluß dem Hinterlader genommen und ein Nagel in das Zündloch der Haubitze getrieben; beide Geschütze sind unbrauchbar.

siehe Bildunterschrift

Ununterbrochen krachten die Gewehre der Marinesoldaten.

Jetzt aber dringen starke Schwärme von Chinesen von allen Seiten auf die kleine Schar heran, jetzt gilt es, sich durchzuschlagen.

»Seitengewehr auf! Zurück!«

Die Kameraden auf der Verschanzung feuern ununterbrochen, aber die Lage wird bedrohlich, schon sind die Chinesen zum Handgemenge heran.

Da hebt Jan den Ladestock der Haubitze, den er aufgegriffen hat, mehr als eine ihm zusagende Waffe denn als Trophäe, und schwingt ihn mit solcher Schnelligkeit und solch furchtbarer Kraft ums Haupt, daß jeder niederfallende Schlag Vernichtung bedeutet.

Entsetzt weichen die Chinesen vor diesem Keulenschwinger zurück.

Schon sind die Marinesoldaten an dem Wall, auf dem die Ihrigen liegen, und beginnen ihn zu ersteigen, als Jan über einen Balken stolpert und schwer niederschlägt.

Ein Jubelgeheul der Chinesen erhebt sich bei diesem Anblick. Gerhardt, der schon halb oben war, springt wieder herab, um dem Koch beizustehen – von neuem dringen chinesische Truppen heran – die nächsten stürzen mit Wutgebrüll auf Gerhardt und Jan, andre erklettern die Schanze – Gerhardt und Jan sind dicht umdrängt, kaum können sie sich rühren. Gerhardt und Jan sehen schon den Tod vor Augen, als ein nahestehender chinesischer Offizier den Seinigen einige Worte zuruft. Mit boshaftem Grinsen und Jubelgeheul werden seine Worte aufgenommen; statt die am Boden liegenden Seeleute rasch zu töten, werden sie emporgehoben von vielen Händen und nach rückwärts geschleppt, wo man sie entwaffnet zu den Füßen eines hohen Befehlshabers, der den erbitterten Kampf in sicherer Stellung mit angesehen hat, niederwirft.


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