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An der Mündung des Peiho

Auf die Mündung des Peiho zu hielt, noch hatte sich die Sonne wenig über den Horizont erhoben, ein Barkschiff, das augenscheinlich von Wind und Wellen stark mitgenommen worden war.

Notstengen waren aufgesetzt, die nur geringe Leinwand führten, ein Teil der Reling war hinweggerissen und das Deck arg verwüstet. So machte die Bark auch nur geringe Fahrt. Vor wenig Tagen hatte ein Sturm das Gelbe Meer durchrast, und das Schiff, das achter in großen goldenen Buchstaben den Namen »Wittekind« führte, mußte gegen ihn angekämpft haben.

Da einige Leute an den Pumpen beschäftigt waren, schien es auch leck zu sein, obgleich es nur wenig tiefer lag, als seine Bauart erlaubte.

Die Ruhe an Bord ließ darauf schließen, daß die Schiffer hofften, ungefährdet Taku zu erreichen, besonders da Wind und Wellengang mäßig waren.

Am Hinterdeck ging ein hochgewachsener junger Mann auf und nieder, der in jedem Zoll den echten deutschen Seemann verriet, der Ruhe mit Kühnheit zu verbinden weiß. Die schlanke und doch kräftige Gestalt zeigte jenes Ebenmaß, welches vor allem zu dauernder Anstrengung befähigt; das schöne, wettergebräunte Gesicht mit den blitzenden blauen Augen war ernst, doch vollkommen ruhig. Von Zeit zu Zeit flog ein Blick nach oben und richtete sich prüfend auf Segel und Takelage, dann setzte er seinen Gang wieder fort.

Aus der mittschiffs liegenden Kambüse tauchte eine breitschultrige Gestalt auf, die durch die Schürze als Koch gekennzeichnet wurde. Der noch junge Mann, dessen Körperformen, obgleich er nicht über Mittelgröße war, auf ungewöhnliche Muskelkraft schließen ließen, warf einen Blick nach dem Hinterdeck, einen zweiten auf die Leute an der Pumpe und ging dann nach hinten.

Kopf und Gesicht entsprachen in ihrem Umfang dem massigen Körper, aber das fleischige Antlitz trug das Gepräge unverkennbarer Gutmütigkeit, das kein Fettpolster zu verwischen vermochte.

Als er das Hinterdeck betrat, nahm er die Mütze ab und wartete, bis der Offizier auf seinem Gange ihm nahte.

»Nun, Jan, was wollen Sie?« fragte dieser stehenbleibend.

»Ick wulld Sei woll wat seggen, Stürmann.«

»Heraus damit!«

Mit seinem freundlichsten Lächeln um den nicht gerade kleinen Mund erwiderte der Koch: »Ick wulld woll de Lüd wat tau eeten geven, Stürmann.«

»Würde nichts dagegen haben, Jan, wenn wir nicht Wasser im Raum hätten. Wer soll denn pumpen, Jan? Die anderen sind ja alle zur Koje gegangen.«

»Ick wulld woll so lange pumpen, Stürmann, bis de Lüd een Sluck Koffi namen hewwen.«

»So?« Der Steuermann zeigte ein äußerst vergnügtes Gesicht. »Sie wollen so lange pumpen, Jan?«

»Dat well ick all gern dhaun, bis de Lüd eeten hewwen.«

»Na, wenn das so ist – ich habe Sie ja oben arbeiten sehen, als wir die Bö bekamen – dann habe ich nichts dagegen.«

»Dank ook.«

Der Koch ging zu seiner Küche und erschien bald darauf wieder mit einem Brett, auf dem vier Kumpe mit heißem Kaffee dampften, neben dem Zwieback und magerer Speck lagen.

»Ju möt 'n Sluck Koffi nehmen, Lüd, ick well so lang en beten an de Pump gahn, mit de Stürmann heww ick all sproken.«

Die schwer arbeitenden Matrosen grinsten vor Vergnügen bei dieser angenehmen Unterbrechung ihrer einförmigen und ermüdenden Tätigkeit, wie über die Aussicht, Jan allein die Pumpe handhaben zu sehen, und saßen alsbald eifrig mit dem Frühstück beschäftigt an Deck.

Jan, der Koch, der die volle Ausbildung eines Matrosen besaß, wie er denn als solcher alle Meere befahren hatte, war ein Mann von so ungewöhnlicher Körperkraft, daß deren gelegentliche Äußerungen nicht nur auf allen Hamburger Schiffen, sondern auch weit darüber hinaus bekannt waren. Doch war dieser selbe Jan kein Freund von schweren Arbeiten, war der sauren Mühen des Matrosen satt und hatte sich schon seit mehreren Jahren als Koch verheuert, eine Tätigkeit, die seinem etwas phlegmatischen Temperamente wie seinem sehr regen Appetit bei weitem mehr zusagte als die Arbeit im Takelwerk. Nur im äußersten Notfall gesellte er sich den Seeleuten helfend zu, ging dann auch nach oben und arbeitete dort, seine Riesenkräfte entfaltend, für ein halbes Dutzend. Das hatte er auch zum Erstaunen des jungen Steuermanns, der vom Achterdeck in die Kuhl hinabsah, während des letzten Sturmes getan, trotzdem der wußte, in welchem Rufe Jan bei den Matrosen stand.

Dabei war Jan, unter diesem seinem Vornamen kannte ihn die ganze Hamburger Handelsflotte, harmlos und gutmütig wie ein Kind, unfähig irgend einem Wesen etwas zuleide zu tun. Das war der Mann, der jetzt an die Pumpe trat, deren Einrichtung die Kräfte von vier starken Männern erforderte.

Trotzdem ihn der Steuermann in der Höhe während sehr schweren Wetters hatte arbeiten sehen, trotzdem die frühstückenden Matrosen seine Körperkraft kannten, waren doch alle überrascht, als Jan die muskulösen halbnackten Arme ausstreckte und nun, indem er die Pumpe in Bewegung setzte, die gleiche Kraft wie die vier stämmigen Burschen entfaltete, die den Schwengel eben hatten fahren lassen.

Die Matrosen lachten sich zu, ließen ihn gewähren und frühstückten weiter.

»Das ist geradezu fabelhaft,« sagte der Steuermann, nachdem er einen Augenblick der ruhigen, gleichmäßigen Tätigkeit Jans zugesehen hatte, und setzte dann seinen Spaziergang wieder fort.

Jan arbeitete mit derselben Ruhe und Kraft wohl eine Viertelstunde und länger, bis die Matrosen ihr Mahl vollendet hatten und nun herbeitraten, um ihn abzulösen.

»So, min leiwe Jan, wi danken di ook,« sagten sie und übernahmen die Schwengel wieder.

»Swar is dat nich,« sagte Jan gelassen, »aber ick heww dar kein Spaß an.«

Dann ging er in seine Kambüse zurück, um sich nach der ungewohnten Anstrengung etwas zu stärken. Diese Stärkung entsprach durchaus dem ungewöhnlichen Kraftaufwand.

Während die Matrosen in der Kuhl ihr einförmiges Geschäft fortsetzten, ließ der junge Steuermann am Hinterdeck seine Blicke das Meer nach dem Lande zu überfliegen; es war jetzt hell genug, um weit hinausblicken zu können.

Nur einige der schwerfälligen chinesischen Dschunken mit ihren großen Mattensegeln zeigten sich zunächst dem Auge von Bord aus, sonst war kein Segel in Sicht.

Doch nein, das scharfe Seemannsauge traf auf einige dunkle Punkte der Küste zu, die dessen besondere Aufmerksamkeit erregten.

»Was ist das?« murmelte der Steuermann. »Sollten das Kriegsschiffe sein?«

»Willem,« rief er dann einem Jungen zu, der an der Bordwand lehnte, »bring mir mal mein Glas.«

Mit dem schleunigen Gehorsam, der an Bord der Schiffe üblich ist, verschwand der Junge in der Kajüte, um gleich darauf mit einem Teleskop zurückzukommen, das er dem Steuermann überreichte.

Dieser richtete das Glas auf die auffallenden Punkte und sagte, es absetzend: »Wahrhaftig, Panzer, und sicher keine chinesischen. Kriegsschiffe vor der Peihomündung? Was bedeutet das?«

Aus der Achterkajüte trat ein älterer Mann mit frischem rotem Gesicht, warf einen Blick auf Himmel und Meer und rief dann dem jüngeren zu: »Na, Gerhardt, all gaud to Wege?«

»Ganz gut, Herr Kapitän, aber ein kleines Schläfchen könnte nichts schaden.«

»Schallen Sei all hewwen, min leiwe Stürmann, in dat Chinesennest könnt Sei slapen so veel Sei mögen, denn die olle ›Wittekind‹ muß in dat Dock, helpt nix vor. – War een hart Stück Arbeit mit dat Chinesenmeer, awer wi hewwt em unnerkregen. Wo steiht dat mit dat Water in Raum?«

»Seit drei Stunden ist es nicht mehr gestiegen.«

»'s is all gaud; de leiwe God hedd uns holpen. Dat war 'ne slimme Fahrt von Valparaiso an, ick bin all froh, dat wi Land hewwen.«

»Dieses Gefühl teilen wir wohl alle.«

»Hewwen Sei no die Küst utlugt, Stürmann?« fragte der Kapitän, auf das Fernglas blickend, das Erich Gerhardt noch in der Hand hielt. »Dar is nich veel tau siehn as die ollen Chinesenforts, die kein Schuß Pulver wert sin.«

»Dort liegen sieben bis acht Kriegsschiffe, Herr Kapitän.«

Der Kapitän fuhr erstaunt auf: »Wat? Sieben bis acht men of war? Dat wer? Laten Se siehn.«

Gerhardt reichte ihm das Glas, und der Kapitän richtete es nach der Peihomündung, um es nach einiger Zeit mit sehr ernstem Gesicht wieder abzusetzen.

»Dat sin Panzer, dar is kein Zweifel. Donnerslag, wat is dat? Sollten sich die Chinesen auf die Hinterbeine gestellt haben, dat so viel Kriegsschiffe da liegen? Na, die werden ihnen schon dat Tanzen lehren. Awer, Düwel ook, dat is nich gaud für uns, wenn di gehlen Kirls Rewolutschon machen. De ›Wittekind‹ muß ins inglische Dock, und wo schallen wi Ladung herkregen? Na, all eins, wi ward jo siehn.«

Damit gab er gelassen Gerhardt das Glas zurück. Als sie der Küste näher kamen, belebte sich das Wasser mehr mit kleinen Fahrzeugen, auch waren die ankernden Panzerkolosse, die ihres Tiefgangs wegen nicht in den Peiho einlaufen konnten, deutlicher zu erkennen.

Der »Wittekind« signalisierte nach einem Schlepper, und nach etwa einer Stunde kam ihnen auch ein kleiner flinker Dampfer, der chinesische Flagge trug, entgegen. Bald hatte er die schwerfällig segelnde Bark erreicht. Sein Kommandant war ein Engländer, der aber chinesische Kleidung trug, und Kapitän Holtung hatte sich bald mit ihm über den Preis, um den »Wittekind« bis Tientsin hinaufzubringen, geeinigt. Über die Anwesenheit der Kriegsschiffe befragt, konnte der Engländer nur die Auskunft geben, daß es ihm eine Demonstration der europäischen Mächte zu sein scheine, um einen Druck auf die Regierung in Peking auszuüben. Genaueres wüßte er nicht, doch eine Gefährdung des Friedens sei seiner Meinung nach nicht zu fürchten.

Der Dampfer nahm die Bark ins Schlepptau, und so näherte sich das deutsche Schiff rasch der Peihomündung. Als sie den gewaltigen Kriegsdampfern näher kamen, ließ der Kapitän die deutsche Flagge in die Höhe gehen.

An den Wimpeln erkannte man, daß da ein englischer, ein russischer, ein französischer, ein amerikanischer und ein deutscher Panzer lagen, deren gewaltige Armierung schreckeneinflößend war. Einige Avisos und Kanonenboote lagen zwischen ihnen. Als der »Wittekind« in den Peiho einlief, sahen sie zahlreiche chinesische Handelsfahrzeuge vor sich und weiter hinauf wiederum einige Kriegsschiffe leichterer Gattung, denen ihr Tiefgang erlaubte, den Peiho bis Tientsin hinaufzudampfen.

Unerwartet stieß ihr Auge auch hier auf den deutschen Kriegswimpel, und helle Freude bemächtigte sich aller an Bord, als sie das Vaterland durch den »Iltis« ewig ruhmvollen Namens hier vertreten sahen.

Der wachhabende Leutnant des Kriegsschiffes rief sie an: »Was für ein Schiff und woher?«

»Hamburger Bark ›Wittekind‹ von Valparaiso nach Tientsin mit Ladung.«

»Habt ihr Havarie erlitten?«

»Ja, hatten schweres Wetter, sind leck, Wasser im Raum.«

»Seht, daß ihr bald wieder segelfertig seid.«

Damit war der »Wittekind« an dem Kriegsfahrzeug vorüber, in dessen Nähe noch andere Kanonenboote verschiedener Nationalitäten lagen, auch einige chinesische Kriegsfahrzeuge trafen sie näher den Forts, die sich rechts und links des Flusses drohend erhoben.

Ein chinesischer Zollbeamter kam an Bord, und nach kurzer Zeit lag das Hamburger Schiff im Hafen von Tientsin.

Die lang andauernde, durch Stürme und widrige Winde verzögerte Fahrt des »Wittekind« hatte damit ihr vorläufiges Ende erreicht.

*

Am anderen Morgen begab sich Gerhardt nach dem deutschen Konsulat, um nach Briefen aus der Heimat zu fragen. In Valparaiso hatten ihn keine erreicht, und er war seit vielen Monaten ohne Nachrichten von Mutter und Bruder.

Er war so ganz von dem Wunsche erfüllt, von seinen Lieben etwas zu erfahren, daß er chinesisches Leben und Treiben, so weit er es auf seinem Wege zum Konsulate berührte, außer acht ließ.

Zu seiner großen Freude fand er dort Briefe vor von der Mutter und von Arnold.

Nicht gering war seine Überraschung, als er daraus ersah, daß Arnold schon seit Monaten in China im Dienste der Mission weilen mußte.

Arnold hatte noch von Deutschland aus dem Bruder nach Valparaiso geschrieben, daß er nach China ausgesandt sei und zunächst das Mutterhaus in Schanghai aufsuche, um dort seinen weiteren Wirkungskreis angewiesen zu erhalten, und der Brief hatte das von widrigen Winden zurückgehaltene Segelschiff überholt. Erich war von dieser Nachricht sehr erregt. Sein lieber Bruder, den er so lange nicht gesehen, weilte in China, wohin auch ihn das Schicksal geführt hatte.

Welch wunderbares Zusammentreffen!

Daß er selbst chinesischen Boden betreten würde, hatte er in Deutschland nicht ahnen können, das hatte sich zufällig gemacht, als der »Wittekind« in Valparaiso in Ermanglung anderer Fracht nach Tientsin laden mußte, um nicht lange müßig zu liegen. Gerhardt setzte sich noch auf dem Konsulat hin, schrieb an Arnold, zeigte ihm seine Anwesenheit an und sandte den Brief an die Mission in Schanghai zur Weiterbeförderung. Zugleich bat er den Missionsvorstand um Auskunft über den derzeitigen Aufenthaltsort Arnolds. Wenn es möglich war, wollte er seinen lieben Heidenapostel aufsuchen, den ihm ein gütiges Geschick so nahe gebracht hatte. Auch schrieb er an die Mutter, die freilich durch seinen Brief von Valparaiso schon wissen mußte, daß der »Wittekind« nach China segelte.

Während er in einer Ecke des Bureaus schrieb, war mehrmals ein älterer, vornehm aussehender Herr aus und ein gegangen, der den Schreibenden mit besonderer Aufmerksamkeit betrachtet hatte.

Als Erich seine Briefe vollendet und einem der Beamten mit der Bitte um Weiterbeförderung übergeben hatte, trat dieser Herr auf ihn zu und sagte höflich: »Halten Sie es nicht für unbescheiden, wenn ich Sie ohne weiteres anrede, aber Sie haben eine so wunderbare Ähnlichkeit mit einem meiner verstorbenen Jugendfreunde –«

»Ich bin der Sohn des Gymnasialprofessors Gerhardt –«

»Ah – so hat mich Ihr Gesicht nicht getäuscht – Paul Gerhardt war mein Jugendgespiele und Schulkamerad –« sagte ganz gerührt der alte Herr.

»So sehe ich gewiß Herrn Hellmuth vor mir –«

»Ja – ja – ich bin Ernst Hellmuth. Hat also von mir gesprochen der liebe Alte?«

»Wir Kinder haben Ihren Namen oft aus des Vaters Mund gehört, als seines Freundes von früher Jugend an.«

»Freut mich, freut mich. Das Leben hat Ihren Vater und mich früh auseinandergerissen und auf verschiedene Bahnen geschleudert. Ich lebe schon länger als zwanzig Jahre hier im Lande – aber wie ich Ihr Gesicht sah – da stand die Jugendzeit wieder vor mir und mit ihr mein lieber Freund von alters her. Wie freue ich mich, in Ihnen den Sohn meines Paul auf meinem Lebenswege zu finden. Sie sind Seemann?«

Erich erzählte Herrn Hellmuth von seinem Lebensgange, von der Mutter und dem Bruder, und Herr Hellmuth lauschte mit inniger Teilnahme.

»Sie sind natürlich mein Gast, mein lieber Erich – erlauben Sie, daß ich Sie gleich so vertraulich anrede – solange Sie in Tientsin verweilen. Ich werde das mit Ihrem Kapitän, der auch Ladung für mich hat, schon in Ordnung bringen, er ist ein alter Bekannter von mir. Wie ich höre, werden Wochen vergehen, ehe der ›Wittekind‹ wieder seetüchtig ist. Schlagen Sie ein, junger Freund, Sie können mir keine größere Freude bereiten, als wenn Sie der Gast meines Hauses sein werden. Meine Frau und Tochter sind freilich in Hongkong, wo ich Verwandte habe, aber Sie sollen trotzdem bei mir gut aufgehoben sein.«

Nach einigem Zögern nahm Erich die so herzlich gemeinte Einladung Herrn Hellmuths, des Chefs einer der größten deutschen Firmen, an, vorausgesetzt, daß sein Kapitän ihm dies gestatte.

Mit Unwillen vernahm Herr Hellmuth, auf welche Weise Erichs Mutter ihr kleines Vermögen verloren habe.

»Ich entsinne mich,« sagte er, »von dem Falle, der so viele Menschen unglücklich gemacht hat, in der Zeitung gelesen zu haben; der Bankier ist hoffentlich der gerechten Strafe zugeführt worden.«

»Leider nein; er ist verschwunden, und man hat nie wieder etwas von ihm gehört.«

»Nun, dann wird die Sühne wohl in anderer Weise sich vollzogen haben.«

Mit Teilnahme, wenn auch nicht gerade mit Befriedigung, vernahm er auch, daß Arnold Gerhardt als Missionar im Lande weile.

Auf eine dahin lautende Äußerung Erichs meinte er: »Ihren Bruder aufzusuchen wird nicht leicht sein, denn man reist in China nicht ohne große Schwierigkeiten; aber wir wollen erst vernehmen, wo er sich befindet; vielleicht macht's sich leichter, als wir denken, und selbstverständlich stehe ich Ihnen mit Rat und Tat bei.«

Der Kaufmann nahm Erich noch das Versprechen ab, um vier Uhr zum Mittagessen zu ihm zu kommen, und bezeichnete ihm seine Wohnung, die im Fremdenviertel lag.

Erich beeilte sich, sein Schiff aufzusuchen, und beglückwünschte sich, solch einen wohlwollenden Gönner und Freund gefunden zu haben.

Da seine Anwesenheit auf dem Schiffe, das einer gründlichen Reparatur unterzogen werden mußte, nicht nötig war, beurlaubte ihn der Kapitän gern, und Erich siedelte in Herrn Hellmuths stattliches Heim über.

Einige Tage später führte ihn der alte Freund durch die Chinesenstadt, die es Erich zu sehen drängte.

Auf ein an deren Grenze gelegenes riesenhaftes Gebäude deutend, sagte er: »Dies ist das Arsenal, gefüllt mit Kanonen und Gewehren der neuesten Konstruktion, und dort,« ihm ein anderes umfangreiches Bauwerk zeigend, »liegt die Kriegsschule, in der europäische Instruktoren chinesische Offiziere ausbilden.«

»Wenn man den Berichten glauben darf, ist die chinesische Kriegstüchtigkeit nicht weit her,« meinte Erich.

»Wenn Sie damit den Zustand der chinesischen Armee meinen, gebe ich Ihnen recht; ein großer Fehler wäre es aber, an der Tapferkeit und Geschicklichkeit der chinesischen Soldaten zu zweifeln.« Ernst setzte er noch hinzu: »Wir werden die Chinesen so lange instruieren und mit Kanonen neuester Konstruktion und Hinterladern bewaffnen, bis sie über eine Armee verfügen, die uns Europäer sämtlich zum Lande hinausjagt.«

Das vernahm Erich mit Verwunderung.

»Es ist so. Ich kenne durch meine Reisen im Innern die Chinesen besser als die meisten in den Hafenstädten ansässigen Europäer. Der Chinese kennt keine Todesfurcht und ist, wie er das besonders im Taipingkrieg gezeigt hat, gegebenen Falles von einer fanatischen Tapferkeit. Sein stumpfsinniger Hochmut aber ist unser Glück. Diese Eigenschaft läßt ihn mit Verachtung auf uns herabblicken, und daher steht seine Armee, wie mehr oder weniger alle anderen Staatseinrichtungen, nur auf dem Papier. Es gehört ein eherner Besen dazu, um hier reinigend zu wirken. Der junge Kaiser soll zu Reformen geneigt sein, wie man sagt, ob er aber die Kraft haben wird, sie ins Werk zu setzen, ist mir sehr fraglich. Das Volk ist seit Jahrhunderten versteinert und hält mit unglaublicher Zähigkeit am Althergebrachten fest.«

Während sie sich so unterhielten, hatten sie die Chinesenstadt betreten.

Erich war erstaunt über das rege Leben und Treiben in den engen, dichtbevölkerten Straßen. Von allen Häusern hingen die Geschäftsanzeigen in Form von Bannern herab, jedes Haus zeigte einen Kaufladen, in dem mit gellendem Geschrei gehandelt wurde, oder die Werkstatt eines Handwerkers, der seine Tätigkeit oft genug bis in die Straße hinein verlegte. Überall herrschte Tätigkeit und Geschäftigkeit. Beladene Kamele, roh gefertigte Lastwagen, von kleinen Pferden gezogen, Kulis, die an Bambusstangen schwere Lasten trugen, machten das Gedränge in den Straßen noch unheimlicher. Mehrmals sah Erich einen schöngearbeiteten Sarg in der Tür eines Hauses stehen, und Hellmuth erklärte ihm, daß darin der Vater des Besitzers ruhe. Der Sarg bliebe so lange stehen, bis eine geeignete Grabstätte ermittelt worden sei. Die Chinesen verehren ja ihre Eltern und Vorfahren mit seltener Anhänglichkeit. Hie und da wurde auch ein vornehmer Chinese oder eine Dame in einer Sänfte vorübergetragen oder in einem kleinen zweiräderigen Wagen von Kulis gezogen. Ganz unbeirrt übte auch der Barbier, ein vielbeschäftigter Mann in China, sein Geschäft auf offener Straße aus, indem er einem Arbeiter den Schädel rasierte, bis er einer Elfenbeinkugel glich. Erich sah auf seinem Gange durch die Stadt mehrere Pagoden in jener Form, wie sie uns durch Abbildungen längst vertraut sind. Einige dienten der Verehrung des indischen Buddha, dessen Lehre schon seit vielen Jahrhunderten in China heimisch ist. Auch auf eine mohammedanische Moschee trafen sie.

»Zu welcher Religion bekennen sich eigentlich die Chinesen?« fragte Erich.

»Von Religion,« erwiderte Herr Hellmuth, »kann man bei den Chinesen gar nicht sprechen. Die Lehren des Confucius und des Laotse, die beide etwa fünfhundert Jahre vor Christi Geburt lebten, bestehen wesentlich nur aus Sittengesetzen. Die Staatsgewalten bekennen sich zu denen des Confucius, der in Himmel und Erde die schaffenden Gewalten personifizierte, aber einen Schöpfer alles dessen, was da ist, nicht kannte. Umso üppiger wuchert der widersinnigste Aberglaube, und die Zahl der guten und vor allem der bösen Geister, die nach dem Glauben der Chinesen Einfluß auf das Leben der Sterblichen haben, ist Legion.«

»Aber sie glauben doch an eine Unsterblichkeit der Seele?«

»Ja, in ihrer Art. Jede Familie, auch die ärmste, hat ihre Ahnentafel, und den Seelen der Verstorbenen, besonders jenen der Eltern, bringt der Chinese täglich Opfer. Sie sind die Schutzgötter seines Hauses.«

Das Leben und Treiben der bezopften Leute betrachtend, schritten sie, oft neugierig, hie und da mit schlecht verhehltem Hasse angestarrt, weiter.

Erich erhielt auf diesem Rundgang durch die Chinesenstadt Tientsin den Eindruck, ein überaus fleißiges, genügsames Volk vor sich zu haben, dessen Reinlichkeitssinn freilich zu wünschen übrig ließ.

Aber dennoch machten die bezopften Leute mit ihren gelben, schiefäugigen Gesichtern, der weibischen, oft recht bunten Tracht bei den Vornehmen, der sehr spärlichen bei den Kulis, dem Fächer, der keinem fehlte, auch dem Arbeiter nicht, den Eindruck von Hampelmännern. Als er dieses seinem Begleiter gegenüber äußerte, sagte der: »Ebenso komisch, wie sie uns, kommen wir mit unserer Tracht den Chinesen vor, die über uns lachen und uns für unendlich roh halten. Jeder von diesen Arbeitern und Lastträgern dünkt sich weit erhaben über uns und schaut hochmütig auf die fremden Teufel herunter. Beliebt sind wir bei den Söhnen des Reiches der Mitte nicht.«

Den grenzenlosen, auf Unwissenheit beruhenden Hochmut der Chinesen schildernd, daneben aber auch die Zuverlässigkeit chinesischer Kaufleute hervorhebend, schritten sie zum Europäerviertel zurück und suchten das freundliche Heim des deutschen Kaufmanns auf.

Erich Gerhardt hatte eine fremde Welt vor sich gesehen, die in ihrer Eigenart verschieden von allem war, was die Erde sonst bot. Wenn er sich seinen Bruder in der Mitte dieses seltsamen Volkes als Lehrer der christlichen Wahrheiten dachte, überkam ihn unwillkürlich ein Gefühl des Kummers und Mitleides; unter Negern oder Indianern konnte er sich den Missionar eher denken als gerade unter diesen eigentümlichen Gestalten. Mit Sehnsucht wartete er Nachrichten von Schanghai ab, um zu erfahren, ob Arnold für ihn erreichbar wäre in diesem fernen Lande.


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