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Oft waren sie wie die Kinder. Die jungen Körper der beiden liefen über eine sonnenheiße, verborgene Wiese, und keuchten dann eng aneinandergeschmiegt einer späten Blume entgegen. Sie rangen miteinander, jeder wollte besiegt sein. Heinz Heide sagte: »Du, an einem Sommerabend mit dir durch die schwülen Blumen zu gehen, wenn der Mond gerade über dem Walde steht –!«, aber er machte keinen Satz zu Ende, der Mond stand plötzlich wie eine glashelle Kugel in seinem Auge, und sein Mund zitterte von einer unersättlichen Gier nach Gioias Mund.
Sie verbrachten zwei Nächte auf den Elfwiesen. Sie legten Dareia zu Bette und wanderten herzklopfend durch den Wald aufwärts. Oben auf den Elfwiesen riß Gioia die Schleier fort. Heinz Heide mußte nun mit ihr durch die grüne Dämmerung gehen, bis beide müde waren.
Sie stritten dann, was das für ein Stern sei, gerade über ihnen. Es sei der Syrius, lallte Gioia. Heinz Heide lag in ihrem Arm. Es sei der Mars, widersprach er. Da zirpte ein Heimchen, – »mir ist es gleichgültig, vollkommen gleichgültig,« rief Heinz Heide, daß man das Echo hören konnte, und tötete Gioia fast mit seiner gefährlichen Liebe.
Darauf kamen Tage wie mit weißbedecktem Himmel. Die Liebe wurde ruhig, süß, anspruchslos, wie ein hellwolkiger Herbsthimmel. Sie wagten sich kaum aus dem Haus, sie mieden ängstlich jeden Menschen. Sie saßen sich stundenlang stumm gegenüber, oder sie saßen bei Dareia und spielten mit ihr. Auf einmal hatten sie das Bedürfnis, zum Kinde zärtlich zu sein.
Dann aber zuckten die glühenden Leben eines blanken Morgens wieder auf und vergaßen in einem Augenblick alle heimlichen Worte und Mahnungen des weißbedeckten Himmels.
Heinz Heide spottete ihrer.
Er ging bei Nachtwerden durch den Saal, er wollte zu Gioia auf den Balkon. Aber da war es ihm, als stünden an den Seiten des Saales die Gestalten seiner Familie. Der Vater mit dem schauderhaften Lächeln des Todes im Gesicht; die Mutter starräugigen Blicks nach ihm, und Assunta, betend in ahnungsloser Unschuld.
Aber auf dem Balkon stand Gioia leise auf und deutete nach dem Himmel, der im Westen lichtgrün war, über der schon lange erloschenen Sonne. Auf den Wiesen unter dem Haus saßen die Ulmen wie stilldunkle Lämmer, aus dem tiefen Tale brannten wenige Lichter. Da zerrann in Heinz Heide jeder grübelnde Gedanke in eine phantasierende Wohligkeit; kostbare Ruhe kam in ihn. »Empfindest du nicht, daß, wo wir beisammen sind, von den Dingen ein Schleier auffliegt und ihre Urgestalt entblößt? Was ich allein sehe, bleibt mir ein Rätsel. Ich bin unklar, ich weiß niemals genau, was ist und was nicht ist. Was ist, vermag ich nicht fest zu greifen, und doch greife ich nach vielem, was vielleicht nicht ist.« Er müsse Gioia sehen und hören und fühlen können, – »und auf einmal ist alles selbstverständlich und das Selbstverständliche zaubervoll!«
Die Dame lauschte stumm zu. Alle diese Worte nahm sie gerne hin, sie beruhigte sich dabei. Es sei ihr großes Glück, daß er so denke. »Was kann mir geschehen, wenn ich teilhaftig werde dieser Innigkeit?« Er sei ihr Heim, – »oft denke ich: bleibe bei Heinz! Es ist eine eingebildete Pflicht, die dich an den anderen bindet, – nur das gleiche Verhängnis bindet dich an ihn.«
»Sei ein Mensch! sage ich oft. Wirf das alles von dir, bleibe bei Heinz! Sieh', da sitze ich in Malaripa, ich weiß nichts vom andern, – als, daß ich da sein muß, wenn er zurückkommt. – Du kennst Malaripa nicht! Es ist Herbst, ich sitze in einer Kammer im kalten Hause und Dareia hustet; sie ist immerzu kränklich. – Sei ein Mensch! sage ich, zwinge dich!«
»Und nun, –« ob er das verstehen könne? – daß man einen Berg auf sich lasten hat, unerleichterlich? Man weiß nicht, wer ihn da auf die Schulter gelegt hat, – seit man das Leben liebzuhaben begann, liegt er da!
»Ich lese, zum Beispiel, – ein Verbrecher hat einen solchen Berg auf sich. Nimm ihn herab! ruft ihm der Richter oder ein dicker Krämer zu; werde ein Mensch wie wir!« – Aber dieser Berg sei nicht fortzubringen; hie und da bringe man ihn fort; im Traum, oder wenn man einen kostbaren französischen Wein getrunken hat, oder wenn man einen noch größeren Verbrecher sieht. Aber nur auf Minuten!«
Heinz Heide fühlte, sein Herz wurde wie ein Meer, jedes Wort machte die übervolle Zärtlichkeit für Gioia aufwallen. Der Berg muß fort! sagte er sich, die Frau muß ein Heim bekommen! Was ist Geld? Solche Liebe darf nicht um Silberlinge gehen! Ich baue ihr ein Haus, da bleibt sie, sie kann die Türen versperren, wenn er kommt!
Denn, sagte er zu sich, bin ich nicht überall umhergewandert und ruhelos geblieben? Erinnere dich, sagte er, wann die erste Nacht war, und wo die erste Nacht war, in der du einschlummertest, lachend? War es nicht die Nacht, da Gioia zum ersten Male kam?
Seitdem ging er, versonnen in diese Gedanken. Oft war er zerstreut, Gioia durfte von seinen Absichten nichts merken. Er kam einmal aus dem Hause, siehe, da lief Gioia erschreckt vom Verwalter fort. »Du hast mit dem Verwalter geredet?« fragte Heinz Heide. Er sei ein komischer Kauz, lachte Gioia vergnügt, – »biegen wir in den Wald ein!« bat sie – man könne nur lachen mit ihm! »Komm, Dareia!« rief sie und wartete auf das Kind, um es an der Hand zu nehmen. Alles das, habe der Verwalter gesagt, was Euer Gnaden da sehen, ist Eigentum des gnädigen Herrn. Die Wälder gehen meilenweit, die Wiesen gehen meilenweit, der Herr ist ein Fürst. Oh, sagte er, wie gut, daß gerade dieser Herr der Erbe ist! Er ließ dabei den Kopf sinken, wie ein Priester tat er, der den Namen des Heilands spricht. Welch ein Glück, daß gerade dieser Herr –
»Wo ist eigentlich dein Bruder?« wagte die Dame leise zu fragen.
»Ich weist nicht, wo,« sagte Heinz Heide. Er wisse das nie.
Wie verschieden es sei mit den Söhnen gleicher Eltern, wagte die Dame zu sagen. Hier einer, der seit der Geburt in Leichtsinn schwimmt, – und hier! – Leichtsinnige seien eine Geißel Gottes! Es wäre besser, man könnte ihnen böse sein. »Aber diese Menschen, die Gewissenlosen und so weiter, – haben sie nicht ein eigentümliches Lachen? Man will sie verachten, – da lachen sie einen so an, ich möchte sagen mit Herzensgüte, und man besinnt sich und denkt: er ist eigentlich wie ein liebes Kind und du bist ein Philister! Und weist man etwa von ihnen je etwas Bestimmtes, – ob sie gestohlen oder veruntreut haben; weist man das etwa? Gar nichts weist man von ihnen!«
Ob sein Bruder jemals etwas Schlechtes getan, wagte die Dame zu fragen? Das würde er gewiß nicht sagen können!
»Er hat sein Vermögen durchgebracht,« sagte Heinz Heide, »es geht das niemanden an.«
Man könne in einer Nacht eine Million verspielen, meinte die Dame. »Ich war vergangenes Jahr in Lachsmühle. Ja, wenn es Monte Carlo gewesen wäre! Aber es war ein deutsches Nest. Da verlor ein Mann in einer Minute dreimalhunderttausend Gulden. In einer Minute!«
»Hat dein Brüder auch gespielt?« wagte die Dame zu fragen.
Er wisse es nicht, sagte Heinz Heide zerstreut; er führte jetzt Dareia. »Er hat Mutters Gut gehabt und Geld dazu; mehr als ich. Es war auf einmal beim Teufel.«
»Sonderbare Dinge!« sagte die Dame. Aber gerade solche Leute fänden Frauen, die ihnen anhänglich seien wie Hunde. »Ich kannte die Frau eines ausgemachten Hochstaplers, – ich darf wohl so sagen. Ich dachte mir oft: arme Frau!« Aber diese Frau war von ihrem Mann nicht wegzubringen. Obwohl er ihr oft wie eine immerwährende Sünde vorkam, – sie schauderte oft vor ihm, – sie liebte ihn. Ja, gewiß, sie liebte ihn, denn es wäre sonst unbegreiflich, daß sie neben all der Lüge blieb.« – Freilich glaube sie, daß diese Frau mit der Zeit an den Hochstapeleien ihres Mannes teilnahm, – »die Liebe brachte sie dazu!«
Das sei ihm nicht vollkommen klar, bemerkte Heinz Heide. Man könne da höchstens von Leidenschaft reden. »Liebe, – Liebe –«
»Also dann Leidenschaft!« Sie rechne Leidenschaft auch zur Liebe. Ich wollte nur sagen: ich begreife das.« Bei einer solchen Leidenschaft müsse das Verwerfliche im Mann wenigstens teilweise auf die Frau übergehen, geradeso, wie etwa umgekehrt –; zum Beispiel: ich habe Vieles von dir angenommen. Du bist ein stiller Mann, – der genießt nicht nur das Schöne, er kann auch am Schmerz eine gewisse Freude haben, er findet sie auch darin. Und du siehst das Kleine nicht. Sagen wir, ob der Verwalter hie und da einen Gulden einsteckt oder einen Meter Holz frevelt, oder ob er einmal lügt und keine Ordnung hat, und so weiter, – was kümmert dich das? Du siehst es, – natürlich, – aber du denkst: das Ganze muß stimmen! Und das Ganze bekommt die Harmonie nicht von den nebensächlichen Dingen da außen, es bekommt sie vom selbständigen Innern. Man muß selbständig wissen, wer man ist und wie es in der Welt zugeht, – das ist dir die Hauptsache. Dafür gäbest du Buchen- und Tannenfreygg her. »Ist es nicht so?« – Genau so sei es und sie habe da manches von ihm gelernt.
Und ebenso glaube sie, müsse auch das Verwerfliche eines Mannes, wenigstens zum Teil, auf die Frau übergehen. Was kann sie dafür? »Die Liebe allein lehrt sie das!«
Heinz Heide war entzückt von diesen Worten. Was für eine kluge Frau sie sei! »Ist es nicht schön, so zusammenzugehen und zu wissen: sie versteht mich und ich verstehe sie?« Gerade was sie da vom Verwalter gesagt habe, zum Beispiel: »Ich warnte seinerzeit meinen Vater vor diesem Mann. Ich kannte mich in den Menschen nicht aus, und ich war die deutsche Bauernwirtschaft gewöhnt; da war alles spiegelblank; war ein Zaunsparren gebrochen – große Geschichte: der alte Mattä schlug einen Höllenlärm! Dabei aber eine Arroganz, – ich möchte sagen ein feindselig demokratischer Zug in Jedem, – und Knödelgeruch!« – Wie gesagt, er warnte seinen Vater.
»Aber ist der Mann nicht ein Kavalier? Wie er mich empfing! Wie er sich verneigt! – Ja, gewiß, ich lache, – denn, sieht es etwa aus wie eine Musterwirtschaft? Ich sehe es, – natürlich, – es ist eine gewisse signorile Indolenz in allem – aber, – Rosen auf dem Tisch! Das Mädel singt, – das ganze Haus singt mit ihr! Und sie reden mich in der Sprache an, in der ich denke! Es lacht mir das Blut dabei! – Und wenn ich mir vorstelle, der ganze Plunder ohne Rosen und – diese Art und Weise – –«
Der Besitz müsse einen märchenhaften Wert haben? unterbrach die Dame.
»Was weiß ich?« lachte Heinz Heide. »Ich brauche, so möchte ich sagen, einen gepolsterten Sessel, in dem ich meine Gedanken haben kann. Wenn ich diesen Sessel habe –«
Er wollte nichts dazusetzen, aber er wurde immer froheren Sinnes. »Ich muß hineinschauen können in mich, und hinausschauen in die Welt. Die richtige Distanz will ich haben, – alles ansehen, von der Nähe, und dann von der Ferne auf alles niederschauen! So komme ich zum Recht und es kommt die Welt zum Recht; wir lernen uns gegenseitig kennen, ohne alle Verpflichtungen. Ich bin keines Menschen Freund, keines Menschen Feind, – alle mögen selig werden auf ihre Art, ich werde es auf die meine.«
»Hier rasten wir ein bißchen,« blieb er vor einer Buchengruppe stehen, »es sind das die schönsten Buchen in Freygg.«
»Ich habe viel darunter gelegen,« breitete er eine Decke aus, gerade unter den hängenden Buchenzweigen, und half der Dame sich niederlassen. Er war hastig dabei und seine Augen irrten fieberig auf ihrer Gestalt herum. »Dareia,« sagte er und lief ein paar Schritte aus dem Schatten in die Waldwiese voraus, die hinter den Räumen begann, »hier sind die Apollofalter.« Sie müsse auf die Disteln achthaben, »sie sitzen bestäubt auf den roten Disteln, man kann ihnen ganz nahekommen, und mit zwei Fingern, – sieh her, Dareia, – so –!«
Dann lief er zurück und legte sich vor der Dame in den Schatten. Sie trug heute ein fraisefarbenes Kleid, sie war blühend und jung wie ein Apfelbaum. »Was für Augen du hast!« sagte er leise, »ich sehe sie, auch wenn sie geschlossen sind.«
Die Dame regte sich nicht, sie hatte die Arme unter den Kopf gelegt und die Augen geschlossen. »Wenn man mir sagen würde: gib ihre Hände her, dann darfst du die Augen behalten, –« er versuchte, ihren Arm zu lösen und kniete vor ihr. – »ich gäbe nichts her, nichts, nichts, nichts an dir, kein Haar, kein Gliedchen, keine Bewegung – nichts, nichts; – aber diese Augen –«
Er fiel auf sie nieder, wie ein heftiger Regenschauer auf die fraisefarbene Erde. Sein Gesicht war wild, seine Arme hatten eine süßwohltuende Gewalt, sie schmerzten, aber sie brachten ohne jeden Widerstand die verführende Gestalt zum Gehorsam. Er küßte sie wie ein Durstiger, jede Stelle an der gehorchenden Gestalt küßte er eilend, gespenstig heiß, – bis sich zuletzt seine Lippen in ihren halboffenen Mund einnisteten. Und auch dieser Mund war heiß wie eine Kohle, verschmachtete, bohrte sich in die kühlen Zähne des Mundes, der ihn besaß, und schrie dabei ein unverständliches heftiges Wort.
Da sprang aber das Kind herbei, Heinz Heide fuhr wie ein Ertappter auf. Ein Mann sei aus dem Walde gekommen, keuchte das Kind, er habe es angeschaut und sei häßlich im Walde verschwunden.
Die Dame schrak empor, daß das fraisefarbene Kleid wie ein Kettenhemd raschelte. Wie der Mann ausgesehen habe? – Er sei dick und häßlich gewesen!
Die Dame band die Schleier um, sie wurde sehr nervös. Es rege sie das auf, klagte sie, fast weinend; diese ewigen Überraschungen –! Heinz Heide aber gefiel ihr Zittern, er lächelte darüber; es sei doch kein Unglück, wenn sie jemand gesehen hätte, sagte er ruhig. Die Dame aber wurde unmutig; ihr sei es gleichgültig, es wäre nicht das erstemal, daß die Menschen über sie redeten. – Aber seinetwillen! Die Leute werden sagen: sie ist nicht seine Frau, – sie kenne das, und er würde es zu büßen haben.
Heinz Heide lachte übermütig, er fühlte sich jung. Er wolle sie einen ganz versteckten Heimweg führen, beruhigte er sie, und nahm die Decke auf.
Aber der Dame ging der Mann nicht aus dem Kopf. Sie flüsterte, wenn sie reden wollte, und blickte vor jedem Schritt nach links und rechts in den Wald. Heinz Heide ging hinter ihr, er betrachtete sie. Er ging langsam, aber je länger er sie betrachtete, um so heißer wurde er, eine geheime Freude, daß Gioia ihm gehöre, reizte ihn auf. Er erinnerte sich an die Stunde, da Gioia sein geworden war, – es kam ihm wie etwas Unerhörtes vor: die ist mein! Ein wilder Stolz erfaßte ihn: was war alles Frühere gegenüber diesem Weibe!
Zum Beispiel: die jugendlichen Sehnsüchte! Unklare Knabenwünsche! Heiß war oft der Boden von Buchenfreygg gewesen, sein Dampfen und Gären stieg in alle Poren wie eine Peitsche. – Oder später: eine Gasse in Tunis. Was für schamlose Sinnlichkeit! – »Komm, Dareia, hier wird es finster, ich trage dich!« – Die Gasse schwarz, ein paar Mauerflecke schaumweiß, einer trug eine stinkende Laterne in der Hand. Dann war in einem blutroten Zimmer ein nacktes Weib! Das Blut wurde ein qualmender Rausch; wie es brodelte! Als ob es Gott lästere; es ist alles egal, was da sonst noch Schönes in der Welt herum ist, – da ist ein Weib!
»Hier, rechts?« flüsterte die Dame.
»Nein, links!«
Oder noch später: ein sommerlicher Park in England. Der Himmel blaßblau und die Rasen unendlich weit und pastellweich. Unter allen Himmeln, – das war es! – überall, überall war das Weib! An allem ging man vorüber und wurde müde, es ist überall dasselbe, dachte man. Aber das Weib, ob weiß, schwarz, rot, blond, braun, aschfarben, grüngelb, ockerfarbig, – da blieb man jedesmal wieder stehen!
Er lachte. Was war dies alles gegen Gioia!
Aber, – wenn ich sie einmal verliere? huschte ein Schrecken in ihn!
Ja, – aber wie kann man ein Weib verlieren, das stündlich sagt: ich liebe dich?! Sie ist neben einem, du, fragt man, bist du da? Sie lacht. Ja, lacht sie.
Aber ist es etwa nicht vorgekommen, daß die Pest aus der Luft fällt? Oder ein Blitz? Oder sie fährt in einem Eisenbahnzug, mit vielen anderen. Mit Müttern, mit Bräuten, es ist vielleicht sogar ein Kronprinz darin; – und plötzlich der Zusammenstoß! – Tausend Tote, heißt es in den Zeitungen. Eine Liste kommt heraus: nein, sie ist nicht darin. Aber morgen, es wurde die Leiche einer gewissen Gioia identifiziert.
Welche Unvernunft! Sie kann an einer Kinderkrankheit sterben! Gift könnte sie nehmen! Sie hat einen geheimen Konflikt, – Gift! Man merkt zuerst gar nichts. Dann aber atmet sie auf einmal nimmer. Sie liegt da, ein Arzt entkleidet sie, sie ist genau so schön wie vor einer Stunde. Sie muß als Leiche nackt sein vor dem Arzte. Man kniet da, der Arzt sagt: Zyankali. Man kniet, das glaubt man nicht, Ärzte sind Dummköpfe. Aber wenn sie in einem Sarg dann durch die Gassen getragen wird –.
Nein! Pfui, pfui! Nicht in ein Grab! Sieht man nicht schon nachts nachher, wie die Würmer kommen? Die Füßchen stecken in scharlachroten Schuhen; es war das ihr Wunsch. Ha, was ist der Wunsch der Würmer? Sie ziehen, sollte man's glauben?, die scharlachroten Schuhe aus; sie ziehen die scharlachroten Strümpfe aus; sie sitzen am kalten Fleische. Drei Tage noch: Knochen sind da! Ein Laie weiß nicht, sind es Knochen von einem Haushund, – oder von –!
Pfui!
Aber auch nicht ins Feuer! Eine Handvoll Asche! Die Asche von den Lippen Gioias! Nur Naturwissenschaftsprofessoren bringen das zusammen. Nein! – Aber ins Wasser mit der Leiche! Ins Wasser! Ja, ins Wasser! Ein gläserner Sarg, gegen Räuber und Diebe mit Silberketten verankert, schaukelt in einem Bassin. Man steht davor, Tag und Nacht, man schaut! Welcher Trost! Man kann schauen; ohne Unterlaß. –
»Aber, wenn man erblindete!?«
Dieser Gedanke brachte ihn in fürchterliche Erregung; er bemerkte es gar nicht, daß sie nun aus dem Walde kamen. Wenn man erblindete! Ja, aber –!
Das Kind hatte sich losgerissen, es eilte der Dame nach, die aus dem Weg gebogen war.
Da erwachte er.
»Ah, Fräulein Judith,« rief er überrascht aus und grüßte.
Fräulein Judith stand am Wegzaun. »Guten Abend, Fräulein Judith!« reichte er im Vorbeigehn seine Hand hin und grüßte noch einmal.
Wie es im Eschentore stehe? rief er nach, als er schon wieder im Schritt war. Sie danke, es gehe gut.
– – – Wer das gewesen sei? fragte die Dame, als er ihr nachgelaufen kam.
»Fräulein Judith,« ging er hastig. Ha, dachte er, wäre es möglich, daß man den Verstand verliert, weil einem ein Weib stirbt, ein ganz bestimmtes, das einzige, – es liegt einem im Blut? »Drüben, vom Eschentore,« setzte er hinzu.
»Gott bewahre!« rannte er abwesend dahin, »ein hochwohlgebornes Fräulein von erster Sittennote.«
Es ging ihm nun wie dem Reiter, nachdem er den gefrorenen Bodensee durchritten: es schauderte ihm vor dem Leichtsinn, mit dem er bisher Gioia ihrem Leben überlassen hatte.
Kaum im Hause angekommen, wollte er wieder fort. Er fühle das Bedürfnis, noch eine Stunde ins Freie zu gehn; ob sie mitkomme? – Die Dame wollte nicht, aber sie wagte nicht zu widersprechen, denn er sah eigensinnig aus. Ja, sie ginge mit.
Im Wege aber wurde er plötzlich sehr gesprächig. »Von hier aus« zeigte er nach Buchenfreygg hinab, das eben die letzte Sonne hatte, »hat es nicht ein trauliches Gesicht?«
Weiß Gott, es stecke doch etwas in solch einer Waldheimat. »Ist man überflüssig in der Welt, kommt man einfach hierher und sperrt sich ein. Es kann niemand herein, den man nicht hereinlassen will!
»Und dann,« sagte er im Weitergehen, »die Wälder! Man ist in der ganzen Welt nirgends so gottvoll allein wie im eigenen Walde.« Sie kenne den Berg nicht; aber er wisse tausend Verstecke. »Man ist vollkommen frei auf dem Berge.«
Ah, sie möchte nicht immer unter Bauern leben. Sie sind hinterhältig; man weiß nie –
»Man weiß immer,« unterbrach er sie enttäuscht, »man hat sie ganz einfach in der Hand. Wird der Mann unangenehm, – eins, zwei, drei, adieu!«
Das habe sie allerdings nicht gewußt. Aber trotzdem, es sind Rassenunterschiede, die sie hier fühle. Auch die Landschaft, – ja sie gebe zu, sie ist imposant, – »aber sie sagt mir nichts.«
Sie wurde fast heftig. Und er: dagegen könne er nichts einwenden; das möge sogar richtig sein. Aber, wenn sie noch ein Stück weiter mitkommen wollte, – der Blick vom roten Stein würde sie widerlegen. »Man sieht von dort oben gegen Süden bis an die Grenze von Venetien.«
Aber die Dame blieb auch auf dem roten Stein apathisch. Sie blickte gleichgültig in das Tal hinab, hinter dessen blauen Torkulissen der rotgelbe Himmel strahlte. »Rechts von hier,« erklärte Heinz Heide eifrig, »ist es deutsch; links, was du vor dir siehst, – du siehst es doch, – es ist deine Landschaft.«
Es war eigentümlich, die Landschaft wurde durch eine unvermittelte Grenze in zwei vollkommen verschiedene Zonen geteilt. Die Zacken und Scharten setzten im Nordwesten mit einemmal ab, die Berge wanderten von da südwärts in weichen Bogenlinien und reichten sich die blauen Hände zu einem Ringelreihen um das schläfrige Tal. – Wenn sie in Buchenfreygg nicht wohnen wollte, – es könnte hier ein Landhaus gebaut werden; »weiß, die Fenster nach allen Himmelsrichtungen offen –«
Die Dame wehrte fast leidenschaftlich ab. »Hier würde ich Heimweh bekommen; ich kann von da aus alle Gegenden auffinden, wo wir glücklich waren.«
»Es ist schön gedacht von dir –« setzte sie hinzu.
»Ah – aber du willst nicht!« sagte Heinz Heide finster.
Er solle sie nicht quälen, klagte sie, denn die traurige Stimme hatte ihr Mitleid verursacht. Sie begreife so gut, »ich weiß es, du leidest darunter, – wir beide leiden darunter, ich sagte ja selbst: das ist das Verhängnis! – Und wenn es nur auf mich allein ankäme!«
»Aber ich kann nicht! – Glaubst du, ich möchte nicht? Das ist mir das Schreckliche: du mußt glauben, ich will nur nicht, du zweifelst –«
Erschreckt griff sie in Heinz Heides Arm: ein Mann trat aus dem Schatten ihnen zu. Aber Heinz Heide erkannte ihn sofort, »es ist der Feldkönig,« lachte er, »ein Narr«. Vor dem brauche sie sich nicht zu fürchten. – »Guten Abend, Herr Feldkönig!« rief er laut, um ihr Mut zu machen.
Der kam nahe und zog zaghaft den Hut, so daß die Dame sein herabwallendes Haar sehen konnte. Sie wurde gleich beherzt, als sie sein gütiges Gesicht sah; sie lächelte sogar. Er habe sie sehr erschreckt, warf sie ihm vor, »ist das Ihre Art, so mitten aus den Bäumen herauszutreten?«
»Er schläft nachts im Felde,« spottete Heinz Heide. Damit sei alles gesagt.
»Aber,« reichte ihm die Dame taktvoll die Hand, »sobald man Ihr Gesicht sieht, fürchtet man sich nimmer.« Der Feldkönig errötete, für ihn war diese Begegnung ein Ereignis. Er trat an die linke Seite der Dame und betrachtete sie mit wachsender Freude. Ob er sich für ein Stück Wegs anschließen dürfe? Ja, das dürfe er.
So ging er ein Stück neben ihr und schwieg hartnäckig; große Schüchternheit bemächtigte sich seiner. Aber die Dame wollte ihn zum Sprechen bringen. Sie habe viel von ihm gehört, begann sie; sie interessiere sich; »ist es wirklich wahr, daß Sie nachts im Freien liegen?«
»Er betet die Natur an!« sagte Heinz Heide, den dies Interesse der Dame nervös machte.
»Ja, das stimmt,« sagte der Feldkönig unbeirrt, denn die Stimme der Dame war angenehm und ermunterte; aber das machten ja auch die Zigeuner und viele andere ebenso. Das sei Gewohnheitssache. »Gewiß,« blickte er die Dame an, denn sie wurde mit jedem Schritt freundlicher und schöner, »es mag etwas Anheimelndes haben, ein Haus zu besitzen, darin man zu Abend erwartet wird!« Aber auch seine Schattenseiten, denke er. Man ist dann gebunden, – mit der Freiheit ist es dahin! »Ich, – ich kann um Mitternacht in den Himmel hinaufschauen; ich stelle mir den ungeheuren Kreis der Erde vor: nirgends, soweit ich denke, erwartet mich jemand.«
»Das verstehe ich; das muß schön sein!« Er könne heute da sein und morgen dort; überall bekannt oder überall unbekannt; wie er es wünsche.
»Ja, und denken Sie: eine Regennacht! Rundum regnet es! – Sie kennen das nicht, gnädige Dame, dies Gefühl: von allen Seilen regnet es auf mich herein!«
Aber was sei es dann mit dem von ihm so hochgepriesenen Evangelium? Es ist nicht gut, daß der Mensch allein bleibe, lachte Heinz Heide. Und es fände sich wohl auch für solch ein Leben eine Gefährtin. »Suche, suche!«
»Ah,« blieb der Feldkönig an der Wegkreuzung stehen, »davon will ich gar nicht reden!« Freilich, Herr Heide habe es leicht, so was zu sagen, »mit dieser Frau!« Oh, er habe vieles von der Dame gehört, sehr vieles, »aber,« legte er die Hand auf die Brust, »seit ich Sie gesehen?!« Es gibt eben Ausnahmen, und die kenne man, wenn er dies Kompliment machen dürfe, auf den ersten Blick. Aber sonst!? Ein Bekannter von ihm, jahraus, jahrein ging er herum, keine war ihm gut genug. »Da war ein Mädchen –« doch das sei überflüssig. »Kurz und gut, eines Tages kommt er prahlerisch: jetzt habe ich sie! – Es war ein wunderschönes Mädchen, sittsam, vornehm, – wahrhaftig ein herrliches Geschöpf.«
Und nun denke man: nach nicht einem ganzen Jahr betrog sie ihn! »Ich sage: ein vornehmes Mädchen, und nach keinem ganzen Jahr – –«
Ob das alles sei, was er von den schlechten Frauen wisse? lachte Heinz Heide gefährlich.
»Danken Sie Gott!« umklammerte der Feldkönig Heinz Heides Hand und blickte schwärmerisch zur Dame empor. »Danken Sie Gott! Zweimal im Tage, – dreimal, – Sie haben alle Ursache!«
Er verbeugte sich und drehte nach dem Walde.
Die Dame stand verblüfft da. Er solle nicht so ohne weiteres davonlaufen! rief sie nach. Aber das nützte nichts, man sah ihn nicht mehr. Man hörte nur ein paar Ästchen klirren, tief aus dem Walde heraus.
»Er ist ein Narr!« lachte Heinz Heide, als sie den Weg fortsetzten.
Die Dame wollte sagen: das hat mir nicht geschienen. Aber sie besann sich und schwieg.