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19

InitialHeinz Heide war in der Folge etwas zerstreut. Er redete einmal den Lehrer »Herr Pfarrer« an. »Ach, das freut mich,« sagte er zu Lorelock, als dieser meldete, er könne seine Patienten nun entlassen. Aber es passierte ihm dabei der Fehler, daß er sagte, man sollte nun besondere Vorsicht anwenden, wenn man die Kiebitzin in die Laast zurückbrächte.

Mit den Damen war er von besonderer Freundlichkeit. »Ja,« sagte er zu Frau Thore, »eine brave Frau im Hause macht zehn Männer überflüssig.«

Er rannte sehr oft in seine Stube hinauf, er las immer wieder das Briefchen. Es standen nur ein paar Worte darin: »weil ich dich liebte, – weil ich dich liebe.«

Er küßte es sogar einigemale. Nachts schlief er damit.

Er hatte eines Morgens eine lange Unterredung mit dem alten Matthä. »Schön,« sagte er nach dieser Unterredung, und pfiff ein Liedchen.

Er bestellte Geld von der Bank –

Als am Dreikönigstage die Tannenfreygger aus dem Heidehause zogen, begleitete er sie bis an den Waldrand. Er ging schnell, Frau Thore kam ihm kaum nach. Vor dem Walde nahm er von allen herzlich Abschied. »Ich werde das nie vergessen,« sagte er, er küßte den Damen die Hand.

Der Pfarrer blieb, drüben angekommen, mit Lorelock und dem Lehrer noch über ein Viertelstündchen vor der Kirche stehen. Sie hatten sich Mannigfaches zu erzählen. Er schaute dann mitten aus dem Gespräch friedlich nach Buchenfreygg hinüber, – »so ein Feuer,« sagte er, »es kann auch sein Gutes haben.«

Der Lehrer lächelte wie goldene Zukunft.

»Ja,« sagte er, »es geht aufwärts drüben!«

»Gott sei Dank!« hob Tobias Weiße die Hände wie beim Oremus. »Gott sei Dank!«

»Ha,« tat Lorelock die Pfeife aus dem Munde, sein Gesicht war das eines vielwissenden Propheten; ob man das Allerneueste wisse?

Die Herren schossen ihm an den Leib, sie fürchteten Schlechtes.

Heute Morgen sei Herr Heide ihm begegnet, auf dem Hausplatz. »Doktor,« ruft er, »eine wichtige Sache!«

Ein Windstoß erhob sich, ein feiner Westhimmelwind, er griff in die Hüte der drei Herren. Die Lindenäste über ihnen klimperten.

»Er redete da zuerst von dem und jenem, dann, – mitten darunter: ein neuer Verwalter muß her!«

Die Herren krochen ihm in den Pelz.

»Wen ich vorschlüge? – Euer Hochwohlgeboren, denke ich, der Lorelock wird seine Meinung sagen! Ja, sage ich, – man muß da vorsichtig umgehen, wie ein Diplomat, sozusagen, – ja, sage ich,« –

Er riß spannungsvoll den Mund auf. Da platzt er aber, ohne abzuwarten, heraus: »den alten Matthä nehme ich!«

Die Herren sprangen wie Kautschukbälle aus dem Schnee. »Den alten Ma –?«

»Den alten Matthä!« schmetterte Lorelock aus kirschrotem Gesicht und lüftete das Hütchen. »Ich habe die Ehre.«

Wie eine braune Kugel rollte er über den Schnee. –

Und während der Pfarrer und der Lehrer sich langsam aus dem Eise der Überraschung lösten, »das ist –!« »Das ist ein kolossaler Erfolg!« »Das ist fürwahr!« –, und der Lehrer seine vorsintflutliche Sturmmütze schwenkte, »es wäre ungerecht, so einen Herrn noch weiter zu verdächtigen, – ein solcher Mann –,« – währenddessen zog oben im Doktorhause Lorelock seinen Jüngsten aus der Wiege. »Mann der Zukunft!« rief er und trug das dralle Wickelkissen ans Buchenfreygger Fenster. Aber der Kleine kam ins Schreien, darum begann Lorelock sanft zu pfeifen, pfiffig pfiff er, er hielt den Kleinen dem Abendhimmel entgegen, – »so ein Feuerlein, so ein Feuerlein,« pfiff er.

Er fand noch in derselben Nacht einen traumvollen Schlummer. Wer ihn im Traume gesehen hätte! Er hätte ein rotes Vollmondgesicht gesehen, in dessen Lächeln die kühnsten Hoffnungen der deutschen Nation wahrgeworden erschienen. Ein Herr prangte darin von biederbem Wesen, er zog den Ackerpflug, die treugute Sitte saß ihm zu Hause, die Untertanen beteten in der Kirche für des Herrn Wohl, und am Sonntag, in einem märchenhaft vogelvollen Walde, sang ein kräftiges deutsches Trutzlied gegen den Süden hinab.

Und wenn auch, zufälligerweise, in derselben Nacht Tobias Weiße den himmlischen Thron erblickte, auf dem stand ein Cherubim, – ein Cherubim? – nein, Gott Vater selber war es, er verkündete unter zustimmendem Jubel von Millionen Seligen, der Himmel habe mehr Freude über einen Sünder, der Buße tut, denn über neunundneunzig Gerechte, – und wenn, ebenfalls in dieser Nacht, Pius Vesper vom Messias träumte, der mit allen überlieferten Dummheiten und Vorurteilen aufräumte, er schaffte das Erbrecht und den Adel und das Militär ab, er sagte, alle Menschen auf Erden seien Brüder, die sich umarmen müssen, – am besten schlief in dieser Nacht doch Lorelock, denn in dieser Nacht gab er seinen Argwohn auf und hatte sogar einen Einfall.

Als nämlich am nächsten Nachmittag unter seinem Fenster ein Glöcklein läutete, ein Schlittenglöckchen, das hell durch die Sonne drang, steckte er den Kopf beim Fenster hinaus, im Schlitten, wahrhaftig, saß Heinz Heide.

»Herr Heide,« rief er hinab, »wohin, Herr Heide?«

»Nach dem Eschentore,« klingelte es zurück.

»Nach dem Eschentore?« schmunzelte Lorelock, und lief aus dem Haus. Er war selten zu einem Kranken so schnell gelaufen, als er jetzt in den Tannenfreygger Höfen herumlief und von den Höfen zum Pfarrer und zum Lehrer, und so oft er bei diesem Rundgang über die Schlittenspuren Heinz Heides stieg, lachte er diesen Spuren nach. »Euer Hochwohlgeboren werden schauen!«

Im Walde aber fuhr Heinz Heide, in seiner Brust tobte ein heißer Kampf, den der himmelfrohe Lorelock nicht wußte. In seiner Brust stand unversehens als ein süßes Heimweh der Wald auf. Der Wald stand da, mitten im Herzen drin, wie war das so schnell gekommen? Kommt her, alle Freunde, alle Treuen, kommt zu mir! habe ich vor kurzem gerufen, und siehe da, der Wald ist da! Er verneigt sich: ich kenne dich, Heinz Heide! Du bist oft bei mir zu Gaste gewesen, wir sind zwei uralte Bekannte!

Der Wald war da wie ein Vater mit all seinen Söhnen, Töchtern und Enkelkindern, eine trauliche Familie. Es war sogar die Wetterlärche da, die seit ungezählten Jahren oben auf dem Felsen stand. Diese Lärche hatte keinen einzigen Zweig mehr, nur einen braungrauen, häßlichen Stamm, der sich nicht einmal mehr im Winde biegen konnte. Auch diese war da, sie lächelte hocherfreut und geschmeichelt, denn Herr Heide zog sie der schönen Buche vom Birkenmoos nicht vor.

Heinz Heide fuhr langsam durch den Wald, sein Schimmel redete mit dem Schnee. Er betrachtete die weißen Mäntel auf den Zweigen, oft hingen sie wie keulenschwere Zuckerwürfel auf den Zweigen, oft schmeichelten sie ihnen wie Zobelhandschuhe.

Einmal hielt er den Schimmel an, er wollte ein Zweiglein fassen. Er nahm es in die Hand, es fühlte sich an wie das kalte Händchen eines Kindes, es zitterte. Und einmal stieg er vom Schlitten, mit seinem Stocke zerhieb er den weißen Panther, der mit raubzähen Tatzen zwei Tannengipfel, Braut und Bräutigam, erdrosseln wollte.

Braut und Bräutigam atmeten auf.

»Wie kalt der Wald ist,« seufzte da das knisternde Briefchen an Heinz Heides Herz.

Kalt sei der Wald?

Das Briefchen lächelte. Es kenne einen Mann, der fuhr durch den Wald. Wie herrlich ist der Wald, sagte der Mann, denn von allem, was er lieb gehabt, war ihm nichts geblieben als der Wald. Es sei also nicht zu verwundern, daß der Mann nun den Wald liebt!

»Zur selben Zeit aber« seufzte das Briefchen, »saß vor dem Bogenfenster im Palazzo Doria eine junge Frau. Warum weint Euere Herrlichkeit? fragt das blaßgrüne Wasser vor dem Fenster; warum weint Euere Herrlichkeit? fragt der blaßblaue Himmel mit den ziegelroten Türmen. Es tritt ein Diener herein, ein gallonierter, vornehmer Diener: warum weint Euere Herrlichkeit? fragt er. Er werde Giandino, den Gondoliere, holen.

Giandino kommt, er stellt sich an die braungoldene Wandseide, sein Fuß sitzt auf dem weißen Windspiel.

Warum weint Euere Herrlichkeit? fragt Giandino.

»Singe, singe, singe!«

Giandino ist der Sänger der Liebe. Wo ein Herz zittert, errät er es, seine Saiten erraten es. Sein Lied horcht in der Welt herum, es fliegt über Land und Meer: wo bist du, wo bist du, nach dem ihre Herrlichkeit weint? Das Gesicht ihrer Herrlichkeit ist bleich, Tränen hängen im Schatten ihrer Augen. Die Arme, die Arme ihrer Herrlichkeit, steigen sehnend empor und ihr Haar trauert nach einem, der es küßte, rotgolden trauert es!«

»Im Wald, durch den der Mann fährt, blitzt etwas durch die Zweige. Es kann nicht herein, aus Goldgespinst ist es, »komm herein, komm herein!« ruft der Mann. »Der Wald ist so kalt, ich kann nicht herein.« »Der Wald ist kalt?« der Mann wird wild, »der Wald ist kalt?« – Es fliegt ein Goldwölkchen über den Wald, weit fort, weit fort, – nun wendet der Mann den Schimmel, – »heidi, heidi, ich folge dir!« –

»So floh der Mann, den ich kenne, vom Walde. Giandinos Lied hatte ihn gefunden!« sagte das Briefchen –

Heinz Heide dachte daran, als er bei Frau Thore und Fräulein Judith saß. Er wiederholte dreimal, daß er gekommen sei, um den Damen den Dank abzustatten für die außerordentliche Hilfe, die sie beim Brande und nachher geleistet, und dann lachte er ein bißchen. Denn der Wald sagte: wie heimelig ist es im Eschentore, bei den Stubenfenstern sieht man aufs ganze Land hinaus, hundert altbekannte Kirchtürme sieht man!

Der Wald sagte auch: Frau Thore ist eine Großmutter im Bilderbuche, sie hat etwas mit ihren biedermeierischen Möbeln und den vielen Heiligenbildern gemeinsam.

Und Fräulein Judith, sagte der Wald, glaubst du, sie läßt im Winter ein Vögelchen verhungern?

Ja, als Heinz Heide unversehens vor den Flügel trat, über dem ein liebliches Pastellbild hing, »erlauben Sie,« sagte er, machte der Wald vor den Fenstern ein menschliches Gesicht und hob ein paar Finger in den apfelgrünen Himmel. Aber Heinz Heide wagte es nicht zu sagen: »Meine Mutter!«, obwohl der Wald und Fräulein Judith es erwarteten.

Es kicherte nämlich das Briefchen von der Brusttasche heraus. Es sei eine altfränkische Sitte, einem Besuch mit Tee aufzuwarten. Es sei etwas sonderbar, daß ein junges Mädchen, daß die Hände eines jungen Mädchens dem Gaste die Butterbrötchen bestrichen und mit Honig bemalten.

Aber der Wald wieder sagte: Fräulein Judith hat ein liebes Gesichtchen!

»Herr Heide,« lächelte Frau Thore aus ihrer goldrandigen Tasse herauf, »das erinnert nun ganz an alte Zeiten, da Sie hier saßen.«

Und dazu fügte sie, gleichsam in seine Verbeugung hinein, ein mütterliches Lob. Er habe sich prächtig bewährt, und die Wahl des Matthä war ein kluger Griff. Diese Wahl könne man nur gutheißen.

Dieses Gespräch behagte ihm nicht, es fädelte ihn ein. Aber er machte es schnell seinem Plane dienstbar, er tat die Hand, die auf dem Tische lag, auf und warf sie wie eine Sandscholle leichtfertig in die Luft. »Jawohl,« nun werde die Geschichte da drüben ein bißchen vorwärts gehen. Er redete in großen, phrasenhaften Sätzen davon, wie er das machen wollte. Und nun könnte er es auch wagen, wieder einmal eine kleine Reise, – auf den Matthä verließe er sich.

Fräulein Judith begleitete ihn dieser hastigen Bemerkung halber an den Schlitten.

»Sie wollen wieder fort, Herr Heide?« fragte sie, während er den Schimmel streichelte. Ihm war nicht recht zumute.

»Fort?« – Ja, er habe die Absicht, – »nur ein paar Tage.«

»Hoh,« sagte er dem Schimmel, der aber ganz schön stillstand. Es war nur Verlegenheit, daß er das sagte.

»Ich habe mit dem Matthä alles besprochen,« sagte er, »Geld hat er, was soll da vorderhand ich –?«

Er war wie ein hilfloser Knabe mit seinen Entschuldigungen.

Aber Fräulein Judith lächelte da, alle ihre Zähnchen lächelten liebenswürdig, sie reckte sich so hoch an den Schlitten heran, daß man ihre feinen Füßchen sehen konnte, und der Wind trieb ihr die Haare tief aus der Stirn. Recht habe Herr Heide, lächelte sie, ein bißchen Urlaub sei redlich verdient, recht nach solcher Mühsal, – »nach der Arbeit kommt der Lohn!« –

Dieses eigentümliche Lächeln lief ihm noch in den Wald nach.

Der Wald machte wieder Spalier. Hinter dem Walde stand die Abendsonne, auf den Wipfeln saß die Abendsonne, »laß mich herein, laß mich herein!« rief Giandinos Lied in den Wald. Aber der Wald bog sich und wehrte sich, er rauschte und tobte, es war der Ostwind im Walde.

Heinz Heide fuhr zornig durch den Wald, er hatte einen bösen Mund. Er hatte ein finsteres Auge, es war ihm nicht vorgekommen, daß ein Mädchen ihm zulächelte: »gehe nur, gehe nur!« und er es hörte wie: »läufst du davon?«

Er saß darum auch zornig auf dem Schlitten, als er in den Tannenfreygger Platz einbog, sein Schimmel galoppierte, ha, der Schimmel wäre bald unversehens in die Tannenfreygger hineingefahren, denn er sah nichts als den goldgelben Westhimmel und davor zappelnde Silhouetten.

»Obacht!« schrie aber da eine Stimme, die Silhouetten rissen den Himmel auseinander, eine Allee machten sie, die mitten in das Abendrot führte.

»Obacht!« rannte die Stimme die Allee herunter.

Da war aber der Schimmel schon in der Gasse, die Gasse zog zwanzig Hüte ab.

»He,« prallte Heinz Heide im Schlitten auf, er stand gegen die Sonne, wild riß er die Zügel, »was ist?«

Da hüpfte endlich, von Lorelock gepufft, der Pfarrer aus der schwarzen Gasse, er war aus dem Boden gewachsen. Er verbeugte sich, seinen Glanzhut drehte er in der Hand. »Herr Heide,« begann er im Lampenfieber, »die Tannenfreygger erlauben sich, ihren Dank zum Ausdrucke zu bringen –«

Verzweifelt sah er sich nach Lorelock um; »für den Matthä«, fluchte ihm der zu, sein Schnauzbart wurde bocksteif vor Wut.

»Für den Matthä,« glotzte nun der Pfarrer den Schimmel an.

Heinz Heide wartete einen Augenblick. Dann fuhr er mit der rechten Hand an die Mütze. Er wandte den Kopf ein klein wenig nach rechts, ein klein wenig nach links, ein klein wenig, wie ein Erzherzog.

»Danke,« sagte er dann halblaut, und hieb auf den Schimmel, daß er davonsauste.


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