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Im Hause des Apothekenbesitzers Wagner war man voller Sorgen. Das Befinden der jungen Mutter hatte sich verschlechtert, und Wagner hatte auf Anraten des Hausarztes einen Professor herangezogen, der anfangs zwar recht besorgt war, aber schon am dritten Tage erklärte, daß sich Frau Wagner auf dem Wege der Besserung befände.
Da auch Bärbel von leichtem Fieber heimgesucht worden war, wußte sich Wagner keinen anderen Rat, als an die Mutter seiner Frau zu schreiben und Frau Lindberg zu bitten, nach Dillstadt zu kommen, um dort ein wenig nach dem Rechten zu sehen.
So hatte Frau Lindberg ihr Kommen telegraphisch für heute angezeigt, und nun war man in Erwartung des lieben Gastes.
Bärbel mußte freilich noch immer das Bett hüten, aber der Arzt meinte, daß sie schon in allernächster Zeit wieder aufstehen könne.
So saß Herr Wagner abwechselnd am Lager seiner Frau und seines Töchterchens. Er war eben dabei, Bärbel die frohe Kunde zu bringen, daß heute abend die Großmama einträfe, als ihm die Nachricht wurde, daß Joachim sich wieder einmal von einer Schlägerei mit seinem Freunde Emil ein blutiges Gesicht geholt hätte.
Er eilte zunächst zu dem Knaben, der sich bemühte, das Nasenbluten zu stillen. Sein Gesicht sah wenig erfreulich aus, es wies mehrere große Kratzwunden auf, der Ärmel seiner Jacke war fast vollkommen herausgerissen.
Nachdem das Nasenbluten gestillt war, mußte Joachim eine derbe Strafpredigt über sich ergehen lassen.
»Ich werde dir das Spielen mit Emil Peiske verbieten, wenn du nochmals in solchem Zustande heimkommst, mein Junge.«
»O–o–o–ch, das ist mein treuester Freund!«
»Ein schöner Freund, der dir das Gesicht zerkratzt und die Nase blutig schlägt.«
Das Gesicht des Knaben strahlte. »Dafür habe ich ihm das Auge dick und blau gehauen, Vater.«
»Pfui, schäme dich, Joachim! Deine Mutter liegt krank, und du machst ihr neue Sorgen. Was hast du denn mit Emil vorgehabt?«
»Wir haben nur sehr nett gespielt,« entgegnete der Knabe.
»Derartige Spiele haben in Zukunft zu unterbleiben!«
Die Unterredung wurde unterbrochen, Lina, das Hausmädchen, erschien und meldete, daß unten der Schuhmacher Halbe sei, der den Herrn Apotheker dringend zu sprechen wünsche.
In Joachims Antlitz stieg dunkles Rot. »Vater, du mußt nicht alles glauben, was dir die Leute erzählen. – Es war wirklich nur ein unglücklicher Zufall, daß das Glas an dem Stein hängenblieb.«
Wagner horchte auf und sah seinen Sohn ernst an. »Was hast du denn gemacht?«
»Ich habe mit Emil wunderschön gespielt. – Schlacht, große Schlacht, mit Granaten! Dann wurde der Emil frech, – – wir können uns doch nicht alles gefallen lassen, Vater. Du hast doch stets gesagt, ein Mann muß Ehre im Leibe haben. – Wenn man dich einen Lümmel nennen würde, würdest du doch auch mit Steinen schmeißen?«
»Ich werde erst einmal mit Meister Halbe reden, dann erwarte ich dich in meinem Zimmer, mein Junge.«
»Ich habe meine Schulaufgaben noch nicht gemacht, Vater.«
»Dann mach' sie jetzt, wir beide sprechen uns nachher wieder.«
Mit einem Seufzer entfernte sich Herr Wagner. Er kannte seinen wilden Joachim. Schon manche Beschwerden aus der Nachbarschaft waren über den Knaben eingelaufen, aber seine Strenge nützte wenig. Die Gattin des Apothekenbesitzers behandelte ihren ältesten Sohn mit liebevoller Nachsicht, sie wagte nicht, ihre ganze Energie ihm gegenüber zu entfalten, denn Joachim war ihr Stiefsohn. Der Apothekenbesitzer hatte seine erste Gattin schon nach kurzer Ehe verloren und hatte sich gezwungen gesehen, dem vierjährigen Joachim eine neue Mutter zu geben. Frau Wagner besaß ein liebevolles Herz und nahm sich des verwaisten Knaben mit rührender Liebe und Zärtlichkeit an. Sie war eifrig bemüht, ihm die gleiche Mutterliebe zu schenken, die Bärbel genoß, hütete sich aber vor größerer Strenge.
Schuhmacher Halbe, der unten in der Apotheke unruhig auf und ab ging, machte ein bitterböses Gesicht. Das ging nun doch zu weit, daß der Apothekerrange ihm einfach die Fensterscheiben einwarf und sich obendrein noch frech betrug. Schuld an allem hatte freilich der Emil Peiske, der seinen Spielgefährten stets zu tollen Streichen veranlaßte. Eine Fensterscheibe hatte man ihm eingeworfen, und als er darüber gescholten hatte, waren die beiden Bengel obendrein noch frech geworden; Peiske hatte sogar dem Meister die Zunge herausgestreckt und ihn schließlich mit Wasser zu begießen versucht. Das konnte er sich nicht gefallen lassen. Er wußte, daß Herr Wagner seinen Jungen streng hielt, nun mochte von dieser Seite das Strafgericht über den wilden Joachim hereinbrechen.
Für Herrn Wagner war dieser Bericht nichts Neues. Er hatte schon manche Fensterscheibe bezahlen müssen, und Joachim hatte so manche Tracht Prügel dafür erhalten. Die Angelegenheit würde sich heute in der gleichen Weise abwickeln. Hoffentlich sorgte die Großmutter dafür, daß der jetzt so wenig beaufsichtigte Joachim wieder in strengere Zucht kam.
Nachdem Joachim seine Strafe erhalten hatte, begab sich Herr Wagner zu seinem Töchterchen, das im Bett saß und mit einer Puppe spielte.
Erfreut streckte Bärbel dem Vater beide Arme entgegen: »Ist gut, daß du endlich kommst, Vati, Bärbel ist grenzenlos verlassen!«
»Na, na,« beschwichtigte er, »Lina ist doch sicher bei dir gewesen.«
»Nun ja, aber sie ist gleich wieder fortgegangen.«
Herr Wagner wies auf das Butterbrötchen, das noch unberührt auf dem Nachttischchen stand.
»Warum hast du denn nicht gegessen, Bärbel? Wenn du gesund werden willst, mußt du essen. Wenn du das Brötchen aufißt, wirst du so groß wie Vati.«
Wieder trat der nachdenkliche Zug auf das Gesicht des Kindes.
»Von dem kleinen Brötchen werde ich so groß wie du?«
»Von vielen Brötchen.«
»Weißt du, Vati, dann gib mir lieber viele Schinkenstullen, mit viel Schinken und Butter darauf, aber ohne Brot.«
»Jetzt iß dein Brötchen, dann mache ich dir eine große Freude.«
»Nein, nein,« rief sie heftig, »ich will nicht noch einmal ein Zwilling, wir haben genug, Vati!«
Herr Wagner lächelte. »Ich habe eine viel schönere Überraschung für dich. – Heute abend kommt Besuch, und zwar die liebe Großmama aus Dresden.«
»Ooch!«
»Nicht wahr, das ist eine große Freude? Nun aber mußt du auch dein Brötchen essen.«
»Die Großmama,« wiederholte Bärbel, und alle Freude ihres Kinderherzens zitterte durch diese Worte.
»Nun iß brav.«
Bärbel biß gehorsam in das Brötchen, dann schüttelte sie den Kopf.
»Ich kann nicht, Vati, mein Bauch ist ganz voll Freude, da ist kein Platz mehr für das Brötchen.«
»Die Freude läßt sich ein wenig zusammendrücken, Bärbel.«
Sie faltete die kleinen Händchen über dem Leib. »Nein, Vati, die Freude ist überall, in jeder Ecke. – O, der Bauch ist ganz dick und voll! Kommt die Mutti heute auch wieder zu Bärbel?«
»Nein, Bärbel, die Mutti ist noch sehr krank, und der Onkel Professor meint, sie muß noch viele Tage im Bett bleiben.«
»Ja, – wenn es der Onkel Provisor meint, muß sie wohl im Bett bleiben. – Wann kommt die Großmama?«
»Heute abend, mein Kind.«
»Weiß du, Väterchen, warum die Mutti so krank ist? Die kleinen Lausebengel haben zu sehr geschrien.«
»Aber Bärbel!«
»Freilich, Bärbel hat sie gehört, und darum ist Bärbel auch krank geworden.«
»Nicht doch, Bärbel, die Brüderchen machen der Mutti viel Freude. Weißt du denn auch schon, was die Brüderchen für Namen haben?«
»Hektor und Mieze!«
»Das geht nicht, das sind doch keine Namen für kleine Jungen. Der eine heißt Martin und der andere Kuno.«
Bärbel verzog das Gesicht. »Wenn er Mieze geheißen hätte, hätte ich ihn viel lieber gehabt. Ist er immer noch barfuß auf dem Kopfe?«
»Warte es nur ab, Bärbel, – bald werden dir die Brüderchen so viele Freude machen, daß du gern mit ihnen spielen wirst. Ich schicke jetzt den Joachim her, der soll dir ein Märchen vorlesen.«
»Ach ja, von Rotkäppchen, wie der Wolf den Schlafanzug seiner Großmama anzog.«
»Ich werde Joachim sagen, daß er dir ein ganzes Märchen vorlesen soll, und daß er nicht eher fortlaufen darf.«
Mit wenig freundlichem Gesicht trat zehn Minuten später Joachim ins Zimmer, ein Buch unter dem Arm.
Bärbel blickte ihn verklärt an.
»Du, – lies vom Rotkäppchen und dem Wolf.«
»Das ist ja Quatsch!«
»Vom Schneewittchen.«
»Stuß!«
»Was willst du denn dann vorlesen?« fragte Bärbel argwöhnisch.
»Wart' es doch ab!«
Damit setzte sich der Knabe ans Fenster, schlug das mitgebrachte Buch auf und fing mitten aus einer Indianergeschichte an, der kleinen Schwester vorzulesen. Es war doch ganz einerlei, was die dumme Göhre hörte.
Bärbel unterbrach ihn sehr bald. »Das ist nicht schön, – Bärbel will von Rotkäppchen und dem Wolf.«
Joachim ließ sich nicht beirren. Er las weiter, und als er abermals unterbrochen wurde, meinte er patzig: »Wenn du jetzt nicht stille bist, lese ich dir gar nichts vor.«
»Du bist auch ein Lausebengel,« sagte Bärbel seufzend, legte sich in die Kissen zurück und unterhielt sich mit ihrer Puppe.
Kurze Zeit darauf ertönte vor dem Fenster ein langgezogener, schriller Pfiff. Joachim schaute hinaus, klappte das Buch zu und stürmte zur Tür hinaus, denn unten stand sein bester Freund Emil. Er hatte zwar das eine Auge verbunden, doch sehnte er sich bereits wieder nach seinem Spielgefährten.
Kurz vor dem Abendessen kam Lina, die im Kinderzimmer rasch noch etwas Ordnung machte.
»Die Großmutti wird gleich hier sein, Bärbel.«
»Das ist keine Großmutti, das ist eine Großmama,« verbesserte das Kind. »Ob sie Bärbel etwas mitbringt?«
»Das macht sie doch immer, Goldköpfchen! Wenn du artig bist, bekommst du gewiß etwas sehr Schönes.«
»Dann sage nur der Großmama, wo ich jetzt wohne, damit sie mich findet. – Kommt sie bald?«
Lina wies auf den Zeiger der Uhr. »Wenn er bis hier oben gelaufen ist, ist die Großmutti da.«
Von nun an verfolgte Bärbel den langsam wandernden Zeiger der Uhr mit peinlicher Gewissenhaftigkeit. Lina war gegangen, Bärbel war allein.
Gar zu gern hätte sie den Zeiger ein wenig weitergeschoben, aber die Uhr hing hoch, es würde ihr nicht gelingen, den Zeiger zu erreichen. Wohl versuchte sie es. Sie kletterte aus dem Bett, auf den Stuhl; aber alle Versuche blieben erfolglos.
Nur ganz langsam schritt die Zeit vorwärts, bis endlich Bärbel ein mehrfaches Treppauf, Treppab hörte. – Jetzt mußte die Großmama gekommen sein!
Sie kam auch endlich ins Kinderzimmer. Bärbel umhalste die geliebte Großmama stürmisch.
»Bleibst du jetzt so lange da, bis die Mutti wieder gesund ist?«
»Natürlich, mein liebes Goldköpfchen, vielleicht noch länger.«
Bärbel schielte auf die große Schachtel, die die Großmama auf den Tisch gestellt hatte.
»Ist das da für Bärbel?«
»Bist du auch immer artig gewesen?«
»Es reicht!«
»Was meinst du wohl, was ich dir mitgebracht habe?«
Bärbel glühte vor Aufregung. Sie wandte die Augen nicht mehr von dem Paket. Da mochte Frau Lindberg die Kleine nicht länger auf die Folter spannen. Aus dem Karton kam eine prächtige Puppe zum Vorschein.
Das Kind jauchzte hell auf. Eine Puppe, die ein so schönes Gesicht hatte wie diese, besaß sie noch nicht. Dazu das blaue Kleid mit gelben Spitzen, – es war eine Pracht! Die Puppe hatte Schuhe und Strümpfe an, weiße Höschen und darüber ein Spitzenunterröckchen.
Bärbel vergaß beinahe das Danken. Sie küßte ihr neues Puppenkind; und erst als der Vater, der schon ein ganzes Weilchen in der Tür stand, sein Töchterchen daran erinnerte, daß man für Geschenke zu danken habe, sagte Bärbel:
»Wir haben uns eine große Freude gemacht, Großmama. – Weißt du, wir freuen uns über die Puppe viel mehr wie über das Zwilling.«
Im Kinderzimmer wurde auch Lina beschenkt. Frau Lindberg brachte zwei große Schürzen mit, breitete sie vor dem Hausmädchen aus und sagte, Lina möge sich eine wählen. Die Schürzen seien zur Auswahl hier, eine davon würde wieder zurückgehen.
Aufmerksam hatte Bärbel zugehört; nun winkte sie die Großmama heran. »Schickst du eins davon wieder zurück,« sagte sie, indem sie auf die Schürzen wies.
»Die eine nehme ich wieder mit, Goldköpfchen.«
»Ach, Großmama, dann ist wohl das Zwilling auch nur zur Auswahl hier? Dann schicken wir den ohne Haare wieder weg! Ein Glück, daß wir dann wieder unter uns sind!«
Es war an diesem Abend sehr schwierig, das erregte Kind zum Schlafen zu veranlassen. Lina brachte es nicht fertig, und so mußte die Großmama gerufen werden, damit sie Bärbel zur Ruhe bringe.
Frau Lindberg war eine ruhige und kluge Dame, die es prachtvoll verstand, mit Kindern umzugehen. Zunächst wurde die neue Puppe schlafen gelegt, dann kam Bärbel an die Reihe.
»So, nun kommt der Schutzengel, bleibt die Nacht über bei dir und behütet dich. Und wenn Joachim nachher kommt, schläfst du schon fest.«
»Ach,« sagte die Kleine fast kläglich, »wenn man nicht ganz artig war, kommt das Schutzengelchen und schließt die Augen so fest zu, daß man sie morgen gar nicht mehr aufkriegt, wie es der Joachim mit der Kellertür gemacht hat.«
Wieder mußte Frau Lindberg eine Erklärung geben, ehe sich Goldköpfchen beruhigt hatte. Schließlich, als sich nun die Großmama nochmals über das Kind neigte, um Goldköpfchen einen Gute-Nacht-Kuß zu geben, bemerkte die Kleine ein Medaillon, das um den Hals der Frau Lindberg hing.
»Was ist denn das, Großmama?«
»Das kann man aufmachen.«
Geduldig öffnete Frau Lindberg die Kapsel, in der sich ein kleines Bild ihres verstorbenen Gatten und eine Haarlocke befand.
Aufmerksam betrachtete Bärbel nun Bild und Haare.
»Ist das der Großpapa?«
»Ja, Goldköpfchen.«
»Hm. – Und das?«
»Das ist das Haar von Großpapa.«
»Na, weißt du, Großmama, viel Haare hat er aber nicht gehabt.«
»Jetzt schlafe, mein Goldköpfchen, du sollst doch bald gesund werden und darfst nicht am Abend so viel erzählen.«
Frau Lindberg mußte aber doch noch längere Zeit am Bette der Kleinen sitzen, ehe sich die Kinderaugen zum Schlummer schlossen.
Als am anderen Morgen der Provisor Senftleben auch einmal bei Goldköpfchen erschien, um sich nach dem Befinden der Kleinen zu erkundigen, hielt ihm das Kind strahlend die neue Puppe entgegen.
Senftleben gab sich natürlich den Anschein, als interessiere ihn das Puppenkind ganz besonders.
»Das ist eine sehr schöne Puppe, Goldköpfchen, eine sehr schöne Wachspuppe.«
Bärbel machte nachdenkliche Augen. »Eine Wachspuppe,« wiederholte sie. »Wächst die?«
»Nun, wenn du nett mit ihr umgehst, ihr nicht gleich die Augen eindrückst, wie du das bei deiner Olga getan hast, ist es schon möglich, daß sie wächst.«
Bärbel zeigte dem Provisor die schönen weißen Höschen und kleidete schließlich das Puppenkind vor seinen Augen aus. Die Puppe war noch mit dem Preise versehen, der jetzt, als man die Höschen abgezogen hatte, auf dem verlängerten Rücken sichtbar wurde. Natürlich wollte Bärbel wissen, was dieses Zeichen bedeute.
»Da hat die Fabrik, aus der die Puppe kommt, den Preis aufgeschrieben,« erklärte der Provisor.
»Hat man immer so einen Preis?«
»Nun, die Großmama wollte doch wissen, was die Puppe kostet.«
Wieder überlegte Bärbel. Plötzlich fragte sie: »Hat das Zwilling nun auch den Preis da hinten?«
»Der wird abgebadet,« lächelte Senftleben.
»Ach –, jetzt weiß ich, warum das Zwilling immerzu gewaschen wird. – Hat Bärbel auch einen Preis da hinten, Onkel Provisor?«
»Das glaube ich nicht,« sagte Senftleben lachend.
Da hatte sich Bärbel aber schon auf den Bauch gelegt, die Decke heruntergestrampelt und hielt nun dem Provisor den verlängerten Rücken hin.
»Guck' mal nach!«
Er versetzte Bärbel einen leichten Schlag und sagte belustigt: »Nein, nein, das ist längst abgewaschen. Siehst du, wie gut es ist, wenn man sich waschen läßt, sonst würdest du dein Leben lang mit dem Preise herumlaufen.«
»Und die Negerkinder, die sich nicht waschen, haben den Preis immer hinten drauf?«
»Die Negerkinder waschen sich auch.«
»Da ist wohl der Preis mit Kreide draufgeschrieben?«
»Kann schon sein.«
Nun wurde die Puppe noch eingehender untersucht; aber es fand sich nichts mehr, was Bärbels besonderes Interesse erregte. Sie wollte jetzt durchaus vom Onkel Provisor Tropfen für die neue Puppe haben, damit sie sich an der kranken Puppenmutter nicht anstecke.
»Die Puppe braucht doch nicht zu essen.«
»Aber sie macht doch den Mund auf, wenn ich sie in den Bauch kneife.«
»Deswegen will sie doch nichts essen. Die Puppe ist satt.«
»Dann hat sie sicher auch den Bauch voller Freude, weil sie zu mir gekommen ist. – Weißt du, Onkel Provisor, wenn ich mal Muttel bin, dann haben es meine Kinder sehr gut. Dann brauchen sie nicht im Bett zu liegen, und ich lasse ihnen von allen Onkels immer was mitbringen. Und immer dürfen sie in die Apotheke kommen und ein Stück Schokolade nehmen, und dann bekommen sie immer Schinkenbrote mit ohne Brot.«
»Dann würden deine Kinder sehr bald krank werden, Goldköpfchen. Deine Muttel weiß viel besser, was dir guttut, und du mußt sehr froh sein, daß du solch eine gute Mutti hast.«
»Aber das Zwilling hätte sie sich nicht schicken lassen sollen.«
»Das Zwilling wird dir noch viel Freude machen. Es ist ein hübsches Spielzeug für dich, viel besser als der Hektor und die Mieze.«
»O nein, die Mieze ist mir lieber!« – –
Schließlich durfte Bärbel wieder das Bett verlassen und die Mutter besuchen. Sie hatte zunächst nur einen verächtlichen Blick für die Zwillinge, die wieder schliefen, aber um so zärtlicher wurde die Mutter begrüßt.
»Hättest du nur das Zwilling umgetauscht, Mutti, dann brauchte der Onkel Provisor nicht immer zu dir zu kommen.«
Das größte Interesse erregte es bei Bärbel, als die Zwillinge ins Bad mußten. Sie wollte durchaus feststellen, ob der Preis noch hinten zu lesen war. Und als nun Martin in der Wanne lag und von der Großmama gebadet wurde, verlangte Bärbel, daß man den Bengel mal umdrehe.
»Warum denn, Goldköpfchen?«
»Bärbel möchte wissen, was er gekostet hat.«
Sie mußte eine Erklärung abgeben, und schließlich tat ihr die Großmama den Willen und zeigte ihr das kleine Hinterteilchen.
Bärbel nickte. »Das habe ich mir ja gedacht, – der andere kostet was, und das Zwilling hier kriegten wir zu.«
Höchst interessant war ihr auch das Einbündeln der beiden Säuglinge. Für alles wollte Bärbel eine Erklärung haben. Sie fand es viel netter, wenn die Babies mit den Beinen strampelten, und bestaunte die kleinen Hände und Füße; aber sie begriff sehr wohl, daß man die kleinen Schreihälse gut einpacken mußte, damit sie nicht auch Schnupfen oder Husten bekämen. Freilich konnte das kleine Mädchen recht böse werden, wenn beide zur gleichen Zeit losschrien. Dann schaute es besorgt nach der Mutti hinüber und schalt die Babies nach Leibeskräften aus. Aber das nützte gar nichts.
»Gib ihnen doch einen Bonbon, Großmama, dann sind sie still,« riet sie, »oder hole den Hektor, damit er mit ihnen spielt.«
Ganz allmählich fühlte sie sich aber doch von den beiden Brüderchen angezogen. Sie weilte oft im Schlafzimmer der Mutter, und als Frau Lindberg eines Nachmittags Bärbel aufforderte, mit ihr einen Spaziergang zu machen, erklärte das Kind energisch:
»Geh nur allein, Großmama, ich bleibe lieber bei mir.«
Aber sie mußte doch mitgehen. Es bereitete ihr schließlich Freude, denn die Großmama wußte soviel hübsche Dinge zu erzählen. Aufmerksam lauschte Goldköpfchen. Sie hatte dann tausend Fragen zu stellen, denn die erwachte Natur interessierte sie sehr. Immer wieder erhielt sie die Antwort, daß der liebe Gott die Bäume in jedem Jahr wieder grün werden ließe, und daß er der Schöpfer all dieser Pracht sei.
»Macht das wirklich alles der liebe Gott?«
»Ja, Bärbel.«
Da kamen die beiden an einem Neubau vorüber, an dem eifrig gearbeitet wurde. Das Kind blieb stehen.
»Macht der liebe Gott alles, Großmama?«
»Ja, Goldköpfchen, das habe ich dir bereits gesagt.«
Die blauen Augen glühten fast entrüstet auf. »Großmama, die Männer machen doch das Haus und nicht der liebe Gott!«
Wieder erfolgte eine lange, schwierige Erklärung, die Bärbel aber nicht einleuchten wollte. Und als nun gar in einem Garten Blumen gepflanzt wurden, sagte das Kind mit einem tiefen Seufzer:
»Das sind wohl alles Hausdiener vom lieben Gott, Großmama, denn allein kann er das alles doch nicht machen.«
An einer Straßenecke stand eine alte Frau, die einen Kasten mit Schuhbändern und Streichhölzern umgehängt hatte, sehr kümmerlich aussah und die Vorübergehenden zaghaft um eine kleine Spende bat. Frau Lindberg blieb stehen, schenkte der armen Frau ein Geldstück und ging mit Bärbel weiter.
Auch diese kleine Episode sollte an Goldköpfchen nicht eindruckslos vorübergehen. Sie sprach zu dem Kinde von der Not der Jetztzeit und daß man an armen Leuten, die sich kümmerlich ihr Brot verdienten, nicht interesselos vorübergehen dürfe.
»Die Menschen sind da, um zu helfen, und wenn einer darbt und hungert, muß man ihm etwas geben.«
»Dann können sie alles haben, was mir nicht schmeckt,« meinte Bärbel begeistert.
»Das ist nicht das Richtige, Goldköpfchen, man muß auch mitunter etwas fortgeben, was man gern hat, von dem man sich nicht so leicht trennt. Da ist manch eine Frau, manch ein Mann, die allein im Leben stehen, keine Freunde und keine Geschwister und keine Eltern haben. So etwas ist sehr, sehr traurig.«
»Weißt du so einen, Großmama?«
»Freilich, bei mir daheim, in Dresden, ist ein altes Fräulein, das wohnt allein.«
»Ich hab's,« sagte das Kind strahlend. »Wir gehen jetzt rasch heim und schenken ihr das Zwilling.«
»Aber mein Kind, das sind doch deine Brüderchen.«
Erstaunt schaute die Kleine die Großmutter an. »Du hast doch gesagt, man soll etwas schenken, was einem ganz lieb ist?«
Da sah Frau Lindberg ein, daß es nicht so einfach war, einem vierjährigen Mädchen klarzumachen, was man unter Hilfsbereitschaft zu verstehen hatte. Sie wußte wohl, daß Bärbel ein goldenes Herz hatte, und daher hieß es doppelt vorsichtig sein, um die Kleine nicht zu einer unüberlegten Handlung anzuregen.