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Apotheker Wagner war soeben dabei, in die Stadt zu gehen, als er aus dem Garten das heftige Weinen Bärbels hörte. Sofort lenkte er seine Schritte hin zu dem neuen Wasserbassin, an dem Bärbel und Joachim standen. In einiger Entfernung hockte Emil Peiske und wußte sich vor Freude kaum zu lassen.
»Was gibt's denn schon wieder?«
Bärbel bemühte sich, die Tränen herunterzuschlucken, Emil lief mit langen Sprüngen davon, und Joachim senkte schuldbewußt den Kopf.
»Nun, was gibt's, – ich möchte Antwort haben!«
»Der Emil – – hat mir – – mein schönes Butterbrot – ins Wasser geworfen.«
Strafend schaute der Vater seinen Sohn an, der den häßlichen Scherz geduldet hatte.
»Mit Absicht?« fragte er streng.
»Nein,« schluchzte Bärbel, »mit schöner Wurst!«
»Hat es der Emil mit Absicht getan? Ich verlange Antwort von dir, Joachim.«
»Die Fische hatten Hunger – – und Bärbel ist ohnehin so fett. Man darf doch die Tiere nicht hungern lassen. Der Emil hat es gut gemeint.«
»Du gehst sofort hinaus, mit Emil werde ich reden. Komm, Bärbel, trockne dir die Tränen, du darfst jetzt mit Vati in die Stadt gehen. Der Vati will für die Mutti etwas Schönes kaufen.«
Da waren die Tränen rasch versiegt. Das kleine Mädchen griff nach der Hand des Vaters und sagte freudig: »Na, dann komm, wir wollen einkaufen.«
»So kann ich dich aber nicht mitnehmen, du hast ja ganz schmutzige Hände.«
»Ach, Vati, die hält Bärbel auf den Rücken.«
»Nein, mein Kleines, ein braves Kind muß saubere Hände haben. Denke doch mal, wenn wir in der Stadt eine Tante oder einen Onkel treffen, denen du ein Händchen reichen mußt. Dann würdest du dich furchtbar schämen, wenn die Hände so schmutzig sind.«
»Weißt du, Vati, kleine Männer haben es viel besser als kleine Frauen. Kleine Männer können die Hände in die Hosentaschen stecken. Bärbel möchte auch Hosentaschen haben.«
»Nun beeile dich, Bärbel, laß dir von Lina die Hände waschen und auch den Hals.«
»Ach – – der Hals ist erst gewaschen worden.«
»Keine Widerrede, mein Kind, sonst gehe ich allein.«
Da lief Goldköpfchen rasch davon, rief stürmisch nach der Lina und verlangte das Waschen von Händen und Hals.
Aber kaum eine Minute später hörte Frau Lindberg lautes Geschrei; und als sie ins Kinderzimmer eilte, erblickte sie Bärbel mit zornrotem Gesicht.
»Was ist denn geschehen?«
»Großmama,« rief das Kind erregt, »der Vati hat gesagt, die Lina soll mir den Hals waschen! Nun ist's genug!«
»Das wird Lina am besten wissen.«
»Großmama, – gehören die Ohren einer Frau zum Gesicht?«
»Jawohl, Goldköpfchen.«
Das Kind wandte sich an das Mädchen. »Na, siehst du! Großmama, der Vati hat gesagt, sie soll Bärbel den Hals waschen, und nun will sie mir auch die Ohren waschen.«
»Deine Ohren sind ganz schmutzig, mein Kind, und wenn sich der Schmutz in den Ohren festsetzt, kannst du nichts mehr hören und wirst taub.«
»Ach, Großmama, – dann hat sich der Onkel Karl wohl nie die Ohren gewaschen! – – Ach, so ein Dreckfink!«
»Onkel Karl hat eine Ohrenkrankheit gehabt, er hat sich stets die Ohren gewaschen.«
»Großmama, – da hat ihm seine Mutti sicher die Ohren zuviel gerumpelt, und dabei sind die kaputt gegangen.«
»Jetzt laß dich waschen, sonst geht der Vati allein fort.«
Lina hatte Mühe, mit dem kleinen Irrwisch fertig zu werden; aber schließlich gelang es ihr doch. Dann zog sie dem Kinde noch ein anderes Kleidchen an; und nun eilte Goldköpfchen hinunter zum Vater.
An der Hand des Apothekenbesitzers wanderte sie durch den Ort. Jeden Augenblick zog Herr Wagner den Hut und grüßte. Mitunter blieb er auch stehen und wechselte mit Bekannten einige Worte.
»Du mußt doch auch immer ein Knickschen machen, Goldköpfchen, das vergißt du stets. Jedesmal, wenn du einen bekannten Herrn oder eine Dame siehst, mußt du knicksen, das merke dir.«
Bärbel befolgte den Rat. Aber plötzlich knickste sie wieder, ohne daß jemand zu sehen war.
»Wen hast du denn eben gegrüßt?«
Das kleine Mädchen wandte sich um und wies auf einen Pudel. »Den Wauwau kennt Bärbel, der kommt oft zu unserem Hektor.«
Endlich hatte Herr Wagner das Geschäft erreicht, in dem er seine Einkäufe machen wollte. Zunächst wurde ein sehr schöner Seidenstoff ausgewählt, den die Apothekersgattin als Geschenk erhalten sollte. Dann wurden noch mehrere Kleinigkeiten erstanden, und schließlich wagte Bärbel die schüchterne Frage:
»Hat denn die Mutti Geburtstag?«
»Nein, Goldköpfchen, aber die Mutti hat uns die Zwillinge geschenkt, hat den Vati dadurch sehr erfreut, und will zum Dank ihr der Vati auch eine Freude bereiten.«
»O–o–ch!«
»Die Mutti hat so lange im Bett liegen müssen und war krank, jetzt wollen wir sie doppelt erfreuen.«
»Schenkst du der Mutti immer etwas, wenn sie einen Zwilling bringt?«
»Freilich!«
»Wenn nun aber morgen schon wieder ein Zwilling kommt, – schenkst du ihr dann auch wieder was?«
»Vorläufig haben wir genug und bitten den lieben Gott, daß er uns keine Zwillinge mehr schickt.«
»Du – Vati – wenn die Mutti immer solche schöne Sachen bekommt, wird sie dir morgen wieder einen Zwilling bringen. – – Bekomme ich auch etwas geschenkt, wenn ich einen Zwilling bringe?«
»Nur große Leute bekommen Zwillinge.«
»Ach, große Leute haben es doch immer viel besser als kleine Leute, und kleine Leute müssen sich doch so toll quälen.«
»Du brauchst dich doch nicht zu quälen, Goldköpfchen?«
»Immerzu schreit das Zwilling, und das muß Bärbel hören. Weißt du, Vati, das Zwilling ist gar nicht schön! Das hat ganz wenig Haare und hat nicht mal Zähne.«
»Die kommen noch.«
»Und dann sieht es ganz verschrumpelt aus, wie die ganz alte Frau Kreutzer.«
»Das ist nun eben nicht anders, du kleiner Quälgeist.«
»Du – Vati, – ich glaube, der liebe Gott hat uns mit dem Zwilling angeschmiert, – er hat uns alte Leute gegeben!«
»Aber, Bärbel, du mußt doch einsehen, daß ein Mensch, der noch wachsen will, eine ganz lockere Haut haben muß, damit er hineinwachsen kann.«
»Hat Bärbel auch 'ne lockere Haut?«
»Natürlich.«
»Nein, Vati, ich hab' keine solche Schrumpeln wie das Zwilling.«
»Als der Vati geboren wurde, hatte er auch solche Schrumpeln.«
»Bist du auch dort oben in dem Bettchen geboren?«
»Nein, in Hamburg. Das ist eine große Stadt in Deutschland.«
»Ist die Mutti auch in Hamburg geboren?«
»Nein, in Dresden.«
»Und wo bin ich geboren?«
»In Dillstadt.«
»O–o–ch, Vati, das ist aber fein, daß ihr beide zu Bärbel gekommen seid, und daß wir uns gefunden haben!«
Inzwischen hatte Herr Wagner seine Einkäufe erledigt, man verließ den Laden, nachdem der Verkäufer versprochen hatte, die gekauften Sachen noch heute nach der Apotheke zu schicken.
Vor dem Geschäft stand ein Wagen. Ungeduldig scharrte das Pferd mit den Hufen. Da Herr Wagner sich in ein Gespräch mit einem Bekannten verwickelt hatte, hatte das Kind ausreichend Zeit, das ungeduldige Pferd zu betrachten.
Als man sich endlich auf den Heimweg machte, begann das Fragen von neuem.
»Vati, ich möchte furchtbar gern was wissen.«
»Was denn, mein Kind?«
»Vati – zieht sich das Pferd früh die Hufeisen immer selber an, oder kommt der Pferdemann und schnürt sie fest?«
»Die Hufeisen werden nur einmal angemacht und halten dann ein ganzes Jahr lang. Das Pferd braucht sie nicht auszuziehen.«
»Dann kauf' mir auch so etwas, damit ich nicht immer die ollen Schuhe an- und ausziehen muß!«
Herr Wagner wollte etwas antworten, aber da machte die Kleine ganz plötzlich einen Freudensprung.
»Vati, – da geht ein Mann in Gelee.«
Herr Wagner schaute sich um und erblickte einen Herrn, der einen Mantel aus Aalhaut trug.
»Vati, hat den seine Mutti eingeweckt?«
Ehe es Herrn Wagner möglich war, Bärbel zurückzuhalten, war das Kind hinter dem Herrn hergestürmt, um die Geleehaut näher zu betrachten. Der Herr wandte sich um; da blieb auch Bärbel stehen und schaute ihn bewundernd von oben bis unten an.
»Was rennst du denn hinter mir her?« fragte der Reisende unfreundlich.
Bärbel erschrak über den heftigen Ton; dann fiel ihr ein, daß es bei Joachim stets das Richtige war, ihm, wenn er Bärbel anfuhr, eine dreiste Antwort zu geben. Vielleicht fürchtet sich der Mann in Gelee auch.
Das Kind legte beide Hände aus den Rücken, schaute den Fremden bitterböse an und rief die Worte, die es von Emil Peiske schon oft gehört hatte.
»Wat kieck'ste denn, – willste 'ne Backpfeife?«
Wagner, der diese Worte hörte, war sprachlos. Das hatte er seinem sanften Goldköpfchen doch nicht zugetraut. Aber auch der Fremde hatte Mühe, das Lachen zu unterdrücken. So etwas war ihm noch nicht passiert, daß ein solcher Dreikäsehoch ihm eine Ohrfeige anbot.
Herr Wagner stellte sich dem Herrn vor und entschuldigte die Ungezogenheit seiner Tochter. Dann aber bekam Bärbel Schelte. Das Kind war ganz kleinlaut geworden, es wußte genau, daß es derartiges nicht sagen durfte. Nur die Angst vor dem finsteren Blick des Mannes hatte es all seinen Mut zusammennehmen lassen.
Ganz still und brav ging Goldköpfchen von nun an neben dem Vater her, um keinen Anlaß zu weiteren Vorwürfen zu geben. Nur als man kurz vor der Apotheke angelangt war, fragte Bärbel schüchtern:
»Bärbel möchte der Mutti auch etwas schenken, weil sie das Zwilling geholt hat.«
»Sei du nur recht brav und sprich nicht so häßliche Worte zu fremden Leuten, dann freut sich die Mutti.«
»Bärbel möcht' ihr aber was kaufen, Vati.«
»Kleine Mädchen haben kein Geld zum Kaufen. Das besorgt der Vati.«
»Bärbel möcht' ihr aber so gern was kaufen.«
»Man kann erst etwas kaufen, wenn man etwas verdient.«
»Kauft ihr der Felix auch was, – der verdient doch Geld.«
»Geh jetzt hinauf zur Großmama, der Vati hat zu arbeiten.«
Als der Hausdiener nach wenigen Augenblicken dem kleinen Mädchen in den Weg lief, forschte es ihn sogleich aus, ob er der Mutti auch etwas schenke, weil er doch das Zwilling mitbekommen hätte.
Felix lachte laut auf. »Das Zwilling kannst du behalten, Bärbel, das will ich nicht haben, ich nehme mir lieber ein Mädel.«
»Ein Mädel hält' ich mir auch lieber genommen, aber der liebe Gott hat uns doch das Zwilling gemacht. – Verdienst du dir viel Geld?«
»Nee, nur wenig.«
»Kann ich auch viel Geld verdienen?«
»Du? Bist ja noch viel zu klein.«
»Verdienen sich kleine Leute nicht auch mal Geld?«
»Freilich!«
»Was machen sie denn da?«
»Sie tragen Zeitungen aus, verkaufen Streichhölzer, fahren Koffer zur Bahn. Da gibt es allerlei.«
»Die Zeitungen, die der Vati bekommt, verkaufen sie?«
»Ja, jede Zeitung.«
Bärbel überlegte. In der einen Kammer lag ein großer Stoß Zeitungen.
»Wie machen sie denn das?«
»Nun, sie tragen in jedes Haus eine Zeitung, das wird bezahlt. Oder sie gehen auf die Straße und rufen Zeitungen aus. Hast du das noch nicht gehört?«
Bärbel schrie freudig auf. »Manchmal kommt abends ein kleiner Junge mit der Zeitung. Felix, verdient man da viel Geld?«
Der Hausdiener lachte belustigt. »Wenn du mit den Zeitungen losgehst, verdienst du massenhaft!«
An diesem Abend wartete das Kind auf den Zeitungsjungen.
Richtig! Der Knabe hatte einen ganzen Stoß unter dem Arm und brachte ein Blatt in die Apotheke.
»Gehst du noch weiter?«
»Ja.«
»Bekommt jeder eine Zeitung?«
»Sehr viele.«
»Und dann kriegst du Geld?«
»Ja.«
»Doch, da hast du wohl viel Geld?«
»Nötig,« lachte der Junge und lief davon.
Von nun an ließen die Zeitungen Bärbel nicht mehr los. Immer wieder ging sie in jene Kammer, in der große Stöße von Zeitungen lagen. Sogar Blätter mit schönen Bildern waren darunter. Dafür würde man gewiß noch viel mehr Geld bekommen.
Ob sie auch einen Packen dieser Zeitungen nahm und damit losging? Sie brauchte ja gar nicht viel Geld, sie wollte nur der Mutti etwas Schönes kaufen. Etwas, was ihr so recht große Freude machte.
Schließlich war der Entschluß gefaßt, Bärbel lud den Arm voller Zeitungen, lief hinaus auf die Straße und rief laut:
»Zeitungen gefällig!«
Einige Vorübergehende blieben stehen; das kleine Mädchen ließ sich nicht stören, es stürmte mit seiner Last weiter und immer weiter. In einem Vorgarten sah sie drei Männer sitzen.
»Zeitungen gefällig!«
»Das ist doch das Bärbel,« sagte der eine.
Man winkte das Kind heran. »Was hast du denn zu verkaufen, kleines Mädchen?«
Bärbel hielt dem Fragenden ein Blatt hin. »Das kostet Geld.«
Er schaute das Blatt an und sagte lachend: »Wie kommst du denn zu den Zeitungen?«
»Wir müssen Geld verdienen. Die Mutti hat ein Zwilling gebracht, und da will Bärbel der Mutti etwas schenken, damit sie Freude hat.«
Die drei Herren flüsterten zusammen, dann fragten sie Bärbel aufs neue.
»Wieviel willst du denn haben?«
Da wußte die Kleine nun freilich nicht, was sie sagen sollte. »Ich will der Mutti was kaufen.«
»Was willst du ihr denn kaufen?«
Bärbel verdrehte entzückt die Augen, hob sich auf die Zehenspitzen und flüsterte dem sich zu ihr Herniederneigenden überglücklich ins Ohr:
»Für die Mutti?«
»Ja.«
»Na, da brauchst du ja nicht allzuviel Geld. Da will ich dir zehn Pfennige geben, dafür bekommst du Sirup.«
Bärbel drückte dem überraschten alle Zeitungen in den Arm, nahm den Groschen und eilte in die Apotheke zurück.
»Wanda, gib mir einen Topf!«
»Wozu denn?«
»Ach, Wanda, gib mir nur schnell einen Topf!«
Die Köchin gab einen Milchtopf vom Brett herunter, und Bärbel eilte beglückt davon, hin zum Kaufmann. Emil hatte sich hier sehr oft Sirup gekauft und dadurch den Neid Goldköpfchens erregt. Sie hatte zwar jedesmal mit dem Finger hineinstippen dürfen, mehr aber hatte ihr der Knabe nicht abgegeben.
Nun hielt sie dem Kaufmann den Topf und das Geld hin und verlangte strahlend, er möge ihr für das ganze Geld Sirup geben.
»Na, viel gibt es da nicht.«
Als Bärbel die geringe Menge sah, war sie recht niedergeschlagen.
»Bärbel bringt dir noch eine Zeitung,« flüsterte sie, »dann gibst du noch mehr.«
»Zeitungen kannst du mir immer bringen, Bärbel, Papier kann ich immer brauchen, Papier zum Einpacken habe ich immer nötig.«
»Krieg' ich dafür Geld?«
»Freilich, – für jedes Pfund einen Pfennig.«
Bärbel wußte nun freilich nicht, wieviel ein Pfund sei. Es ließ seinen Topf beim Kaufmann stehen, eilte zurück zur Apotheke und trug aufs neue ein Paket Zeitungspapier davon.
Der Kaufmann träufelte daraufhin noch einen Löffel Sirup in den Topf; und stolz nahm Goldköpfchen das Gefäß mit dem kostbaren Inhalt in beide Arme.
Nun zur Mutti!
Noch niemals hatte Bärbel ein so stolzes Gefühl im Herzen gehabt wie heute. Sein Gesichtchen strahlte, als es mit dem Topf das Schlafzimmer betrat und ans Bett der Mutter eilte.
»Weil du dem Vati das Zwilling geschenkt hast, schenkt dir Bärbel auch was!«
Bärbel hielt den Topf hin, und interessiert schaute Frau Wagner hinein.
»Ist das Sirup?«
»Gelt, Mutti, nun haben wir eine rechte Freude!«
»Soll ich den Sirup haben, Goldköpfchen?«
»Ja, Mutti, nur einmal lecken möchte ich dran.«
»Das ist sehr lieb von dir, mein Kind, da freut sich die Mutti sehr darüber.«
Bärbel stippte mit dem Fingerchen in den Sirup und hielt ihn der Mutter hin.
»Koste mal.«
»Aber, Kind, du betropfst ja die Decke!«
»Koste mal, Mutti,« drängte die Kleine.
»Dazu braucht man doch einen Löffel.«
»Ich hol' dir einen!«
Schon war das Kind aus dem Zimmer, stürmte in die Küche und verlangte einen Löffel.
Die stark beschäftigte Köchin reichte dem Kinde einen großen Holzlöffel, mit dem Bärbel zur Mutter zurückkehrte.
Schon war der Löffel in den Topf gesteckt, und rasch mußte Frau Wagner zugreifen, um eine größere Schmutzerei zu verhüten.
»Die Mutti wird nachher essen. – Woher hast du denn den Sirup?«
»Ich hab' Zeitungen verkauft. Ein Mann hat mir Geld gegeben.«
Noch dachte sich Frau Wagner nichts Schlimmes dabei; aber als Bärbel berichtete, daß es von jetzt ab jeden Tag der Mutti einen Topf mit Sirup bringen werde, und daß auch das Zwilling etwas abbekommen könne, fragte sie genauer und erfuhr, auf welche Weise sich das Kind Geld verdient hatte.
Sie vermochte nicht zu zürnen. Sie hörte aus jedem Wort des Kindes das heiße Verlangen, der Mutter eine Freude zu machen; aber Frau Wagner nahm sich vor, den Gatten darauf aufmerksam zu machen, damit die kleine Zeitungsverkäuferin ihren neuen Beruf wieder einstelle.
»Leck' doch nur ganz wenig daran,« bettelte Bärbel immer wieder. Es blieb Frau Wagner schließlich nichts anderes übrig, als tatsächlich ein wenig von dem Sirup zu genießen.
»Du hast's gut,« sagte Goldköpfchen, »du kannst nun jeden Tag einen Sirup essen, und dann kriegst du immer was geschenkt, wenn du einen Zwilling bringst.«
»Die Zwillinge sollen erst groß werden, Bärbel, vorläufig wollen wir keine mehr.«
»Ach nee, Mutti, wir haben genug! Wenn sie nur nicht immerzu schreien wollten. – Was wollen sie denn eigentlich?«
»Das Schreien klingt deiner Mutti wie Gesang in den Ohren.«
»Soll ich auch schreien, Mutti?«
Frau Wagner wurde von den vielen Fragen dadurch erlöst, daß sich auf dem Hofe ein Leierkasten hören ließ.
Bärbel stürzte ans Fenster, schlug in der Hast an den Topf mit dem Sirup, der fiel zu Boden, und die dicke, klebrige Flüssigkeit ergoß sich auf den Bettvorleger.
»Ach, mein schöner Sirup!«
Lina beseitigte zwar den Schaden ziemlich rasch; aber in Bärbels Herzen blieb doch ein Stachel zurück; die Mutti hatte den schönen Sirup nun nicht essen können. So nahm sich die Kleine vor, noch viel mehr zu kaufen, damit die Mutti immerzu Sirup essen könne.
Im Augenblick hatte Bärbel neue Interessen. Gemeinsam mit Emil und Bruder Joachim sammelte sie für den Leierkastenmann die Geldstücke auf, die ihm zugeworfen wurden. Als schließlich nichts mehr kam, eilte das Kind zum Onkel Provisor und quälte ihn so lange, bis er noch zweimal Geldstücke aus dem Fenster warf. Bärbel wollte zwar noch mehr erzwingen, aber Senftleben weigerte sich. Ebenso erging es ihr bei Lina und Wanda.
»Da könnten wir viel geben. Bald singt einer, bald spielt einer, die Leute verdienen ohnehin viel zu leicht ihr Geld.«
Und als nun gar Emil den Gedanken zum Ausdruck brachte, daß es eigentlich das Beste sei, wenn man sich später auch einen Leierkasten kaufe und von einem Ort zum anderen ging, schoß in Bärbels Köpfchen der Gedanke auf, daß sie vielleicht auch mit einem Leierkasten Geld verdienen könnte. Der Emil würde gewiß Rat wissen.
»Wenn ich nur einen Leierkasten hätte,« meinte der Knabe, »ich ginge schon auf die Höfe. Dann spielte ich und singe dazu und bekomme massenhaft Geld.«
»Ich kann singen,« sagte Bärbel.
Emil lachte: »Nu ja, – kannst ja auf die Höfe gehen und singen; dir wird man schon was geben.«
»Kommst du mit?«
Emil kraute sich verlegen den Kopf. »Wenn ich groß bin, mache ich's, – aber wenn man klein ist, kriegt man viel mehr. Da schmeißen die Leute nur so mit Markstücken nach einem.«
»Vor vielen Tagen sind auch Kinder hier gewesen, die gesungen haben,« meinte Bärbel.
»Freilich, und die haben viel Geld bekommen.«
Am Nachmittage wurde die Großmama darüber befragt.
»Großmama, kriegen Leute, die singen, viel Geld?«
»Freilich, Bärbel. Es gibt in der Stadt Leute, die singen vor den Menschen sehr schöne Lieder.«
»Kleine Kinder?«
»Nein, Damen und Herren.«
»Singen nicht auch kleine Kinder?«
»Natürlich.«
»Und dafür kriegt man viel Geld?«
»Deine Großmama hat einmal viele Kinder singen hören, das war sehr schön.«
»Hast du dich darüber gefreut?«
»Jawohl, Goldköpfchen.«
»Freust du dich auch, wenn Bärbel singt?«
»Freilich, mein Kind.«
Bärbel sprang der Großmutter an den Hals.
»Großmama, hast du nicht 'nen Leierkasten?«
»Nein, Bärbel, wozu brauchst du denn den?«
»Dann ginge der Emil leiern, und Bärbel singte, und dann schmeißen uns die Leute nur so mit Geld.«
»Bist ein kleines Schäfchen, Bärbel. Man muß sehr schön singen können, wenn man etwas verdienen will. Für kleine Kinder ist das überhaupt nichts.«
Als am nächsten Tage die Papierkammer verschlossen war und Bärbel sich vergeblich bemühte, ihre Erwerbsquelle nicht versiegen zu lassen, vertraute sie sich schließlich Lina an und bat um deren Hilfe.
»Was willst du haben?«
»Papier,« flüsterte Bärbel.
»Du weißt doch, in der Toilette hängt eine ganze Rolle.«
»Kann ich das auch nehmen?«
»Ja.«
Das leuchtete Goldköpfchen ein. Es hatte oft gesehen, daß der Fleischer den Aufschnitt in schönes, weißes Papier einpackte. Es machte nicht viel Schwierigkeiten, die Papierrolle abzuhaken; und strahlend eilte das Kind damit zum Kaufmann.
»Gibst du mir wieder einen Taler hierfür?« Bärbel hielt ihm die Rolle hin.
»Was soll ich denn damit?«
»Du hast doch gesagt, ich soll dir Papier bringen?«
Der Kaufmann, der ein vergnügter Herr war, lachte. »Hast du das den Eltern weggenommen?«
»Die Lina hat gesagt, ich soll es nehmen.«
»Nimm es nur wieder mit heim, Bärbel, aber weil du so brav an mich gedacht hast, will ich dir ein paar Bonbons schenken.«
Mit der Rolle in der Hand lief Bärbel dem Vater in die Arme.
Herr Wagner konnte sich nicht erklären, was Goldköpfchen mit dem Toilettenpapier vorhatte. Er ahnte nichts Gutes und stellte sofort ein Verhör an. Da kam die Verkaufsgeschichte ans Tageslicht, und obwohl der Apothekenbesitzer innerlich lachte, machte er seinem Töchterchen doch klar, daß es nicht erlaubt sei, Zeitungspapier oder anderes Papier zu verkaufen.
Darüber war Bärbel nun sehr betrübt und klagte ihr Leid dem Bruder und Emil Peiske.
»Wenn ich nur 'nen Leierkasten hätte!«
»Ich wüßte schon was,« meinte Emil. »Du gehst auf die Höfe singen, und ich sammle das Geld ein.«
Anfangs wollte Bärbel davon nichts wissen, weil sie meinte, der Verdienst sei nicht groß genug. Aber Joachim und Emil, die sich einen herrlichen Spaß davon versprachen, wußten das Kind derart zu beeinflussen, daß es sich schließlich bereit erklärte, gemeinsam mit Emil zu singen, während Joachim den Kassierer machen wollte.
»Ihr müßt euch aber ganz dreckiges Zeug anziehen,« meinte Emil. »Je zerlumpter, um so mehr kriegt man.«
»Ich geh' barfuß,« jubelte Joachim.
»Ich geb' dir meine Hose, die hat hinten ein großes Loch.«
»Au fein,« jubelte Bärbel, »hast du nicht auch für mich 'ne Hose mit 'nem Loch hinten?«
»Nee, hab' nur eine!«
Mit der größten Heimlichkeit wurde beraten, wie man den herrlichen Spaß noch weiter ausbauen könne. Die Geldsummen wurden bereits verteilt, und Joachim wußte zu berichten, daß der Leierkastenmann, mit dem er mitgelaufen sei, in der Kneipe unten am Markte zehn Geldstücke bekommen habe.
»In jedem sind fünf Pfennige,« rechnete Emil, »macht fuffzig. Wenn wir in zehn Häuser gehen, haben wir fünf Mark. – Au, – drei krieg' ich, zwei kriegst du – – und Bärbel geben jeder einen Groschen ab.«
»Kann man davon Sirup kaufen?« fragte die Kleine.
»Massenhaft, een janzen Topp voll!«
Nun drängte Goldköpfchen, ob man nicht endlich losgehen wolle, um zu singen.
»Erst müssen wir doch wissen, wat wir jröhlen wollen,« sagte Emil.
»Häschen in der Grube,« flüsterte Bärbel.
»Quatsch, damit kriegen wir keenen Sechser!«
»'nen Schlager müssen wir singen,« und laut begann er zu singen: »Deine Lippen sind die Klippen meines Lebens, süßes Weib!«
»Ich weiß was anderes!« und Emil kreischte in den höchsten Tönen: »Wenn wer wären Zwillinge, da sind wir unser zwei, wenn wir wären Drillinge, dann sind wir unser drei!«
»Fein,« brüllte Joachim.
»Wir müßten auch noch blind sein,« sagte Emil, »ich mach' 'nen Blinden, und du mußt hinken.«
Sofort begann die Probe. Joachim war über sein Lahmsein geradezu begeistert.
»Bärbel will auch lahm sein,« schrie Bärbel vergnügt, und schon humpelte sie durch den Garten.
»Au fein, – du bist ein Krüppel!«
»Ich bin ein Krüppel,« jubelte Bärbel, »o, ein Krüppel!«
Dann kam das Lied an die Reihe. Eine Melodie hatte es zwar nicht, Bärbel sang eben mit, aber Joachim meinte schließlich, ein Lied müßte wenigstens einstudiert sein. So verfiel man wieder auf den guten Kameraden, der von der Kleinen überraschend schnell gelernt wurde.
Nun überlegten die drei, wann und wohin man gehen sollte. Joachim schied alle Bekannten aus, weil er Furcht hatte, daß man dort verpetzt würde. Emil dagegen hatte eine Menge Freunde, die sicher dafür sorgen würden, daß sie etwas erhielten. Im Gasthaus »Zum grünen Baum« wollte man mit dem Singen beginnen, denn dort war immer was los.
»Wir kommen erst zu dir,« entschied Joachim, »dort ziehen wir uns an, denn Vati darf uns nicht sehen.«
»Das Gesicht beschmieren wir uns auch, damit wir arm und verhungert aussehen.«
Für nachmittags um fünf Uhr war das eigenartige Unternehmen angesetzt. Um diese Zeit war der Vater im Schlafzimmer der Mutter, und dann kam die Frau, die die Zwillinge besorgte. Dann waren sich die Kinder selbst überlassen. Es gab noch die nötigen Verhaltungsmaßregeln von Emil. Vor allem war strengstes Schweigen befohlen worden, denn wenn die Sache herauskam, würde ihnen der schöne Spaß verboten werden.
Bärbel horchte auf. »Wird dann der Vati böse?«
»Kein Gedanke!« beteuerte Emil, »dem ist das ganz gleichgültig; die Hauptsache ist Geldverdienen.«
Sehnsüchtig wurde die fünfte Nachmittagsstunde erwartet. Frau Lindberg betrachtete ihre Enkelkinder forschend.
»Du bist ja heute so unruhig, Bärbel, warum fragst du denn immerfort, wie spät es ist?«
Bärbel machte ein entzücktes Gesicht. »Großmama – hast du nicht eine ganz dreckige Schürze?«
»Wozu brauchst du sie?
»Ach – Großmama, das sage ich dir später.«
»Du willst doch hoffentlich nichts Unartiges tun, Goldköpfchen? Du weißt, der liebe Gott sieht alles.«
»Der freut sich.«
»Nun, wenn er sich freut, dann ist's gut. Aber denke stets daran, daß unartige und böse Kinder nicht in den Himmel kommen.«
»Kommst du auch in den Himmel, Großmama?«
»Ich hoffe es.«
»Und der alte Peters, kommt der auch in den Himmel?«
»Freilich.«
»O–o–ch Großmama, muß das ein alter, häßlicher Engel sein, so verschrumpelt. Und du bist dann wohl die Großmama von allen Engeln?«
»Dort oben sind alle Engel gleich hübsch, alle jung.«
»Wirst du dann wieder ein ganz kleiner Engel?«
»Ja, mein Kind.«
»Ach – Großmama, kann man das nicht sehen?«
»Nein, das macht der liebe Gott.«
»Der liebe Gott kann aber viel, Großmama, ich kann dich nicht klein und jung machen.«
»Du bist ja auch nur ein ganz kleines und dummes Mädchen, Goldköpfchen.«
»Aber eine dreckige Schürze möchte ich doch haben, Großmama.«
»Laß dir eine saubere geben, Kind.«
»Nein, Großmama, – laß nur, das verstehst du nicht.«
»Du willst dich wohl verkleiden?«
Bärbel verstand nicht, bis ihr die Großmutter die nötigen Erklärungen gab.
»Ja, ich will,« nickte das Kind, »aber ich darf davon nichts sagen.«
Frau Lindberg lächelte. »Nun, da will ich dir helfen. Wir suchen ein Kopftuch heraus, das binde ich dir über die Haare, dann zieh' ich dir einen langen Rock an; pass' auf, wir machen ein niedliches Mädchen aus dir.«
So half denn die ahnungslose Großmutter selbst, das Kind auf das drolligste herauszuputzen, und hatte auch nichts dagegen, als Goldköpfchen gegen fünf Uhr in einer recht wunderlichen Tracht aus dem Hause eilte.
Im Nachbarhause wurde sie mit Begeisterung empfangen.
»Ich beschmeiß' dich noch mit Dreck,« sagte Emil, »dann siehst du noch besser aus.«
Aber das litt Bärbel nicht. Sie kam sich unendlich schön vor in dem langen, mit Nadeln gerafften Rock und dem roten Kopftuch.
Joachim dagegen hatte sich geradezu fürchterlich zurechtgemacht. Die zerrissene Hose Emils paßte wunderbar zu dem bunten Hemd, das er dem Hausdiener Felix mit List abgebettelt hatte. Auch das Hemd war mit Hilfe von Sicherheitsnadeln zusammengesteckt worden. Um den Hals hatte er einen Wollschal mehrfach geschlungen, auf dem Kopf saß eine viel zu große Mütze.
Emil war der schmutzigste. Er hatte eine alte ausrangierte Arbeitshose an, die ihm sein Freund Kurt, der Sohn eines Maurers, geliehen hatte. Die nackte Brust war mit bunter Farbe angemalt.
Vorsichtig hielt Joachim Ausschau, ob man ungesehen hinaus auf die Straße könne. Aber da immer wieder Bekannte kamen, wählte man den mühsameren Weg durch den Garten, über die Hecke zum Nachbar, über einen Drahtzaun, wieder ins nächste Grundstück; schließlich war die Nebenstraße erreicht, und nun ging es im Laufschritt nach dem »Grünen Baum«. Bärbel stolperte mehrfach über den langen Rock, fiel auch unter hellem Gelächter der beiden Knaben einmal in eine Pfütze; und endlich kamen die drei Musikanten zu dem am Anfang des Ortes gelegenen Gasthaus.
In dem großen Hofe nahmen sie Aufstellung, und bald erklang der jammervolle Gesang, in den auch Joachim voller Begeisterung einstimmte.
»Wenn wir wären Zwillinge, so sind wir unser zwei,
Wenn wir wären Drillinge, dann sind wir unser drei!«
Es dauerte gar nicht lange, da öffneten sich die Fenster, auf den Hof hinaus traten einige Frauen, die mit neugierigem Staunen die drei verwahrlosten Gestalten musterten.
Joachim war der dreisteste. Mit ausgestreckter Hand ging er auf die Zuschauer zu.
»Ich bin lahm, und der dort, mein Bruder, ist blind. Die Schwester ist ein Krüppel. – Geben Sie uns zehn Pfennige.«
»Du bist doch der Wagner?«
»Nee, der bin ich nicht. Der Wagner ist in der Apotheke.«
»Macht, daß ihr heimkommt, sonst hol' ich den Stock!«
»Laß sie doch,« ertönte eine Stimme.
Unentwegt sang Bärbel weiter. Sie machte dazu ein so treuherziges Gesicht, daß sich schließlich auch die Gastwirtin wieder beruhigte.
»Wollt ihr 'ne Stulle haben?«
»Nee, Geld,« schrie Emil.
Einer der Umstehenden gab fünf Pfennige.
»Das lohnt nich,« sagte Emil verächtlich, »wir brauchen mehr!«
»Ich denke, du bist blind?«
»Bin ich,« versetzte Emil schnoddrig, »aber mein Hühnerauge hat gesehen, daß es nur fünf Pfennige sind.«
»Geben Sie uns nur Geld, wir brauchen Sirup,« flötete Bärbel.
»Was sagen denn die Eltern dazu, wenn du umherläufst und singst?«
»Das geht Sie nischt an,« warf Emil Peiske dazwischen. »Jetzt singen wir weiter.«
»Dir werde ich was auf deinen großen Mund geben, du Bengel!« Die resolute Gastwirtsfrau ging auf Emil zu, worauf dieser Reißaus nahm.
»Macht, daß ihr wieder heimkommt,« zürnte sie, »die Eltern müssen sich ja schämen, wenn ihr so umherlauft.«
Da nahm Joachim die Schwester an die Hand, zerrte sie vom Hofe herunter, sie vereinten sich draußen wieder mit dem wartenden Emil und gingen dann in das gegenüberliegende Grundstück hinein, um dort ihr Glück zu versuchen.
Aber auch hier erregten die Kinder nur Staunen. Ein Herr kam an sie heran. Da stieß Emil einen kurzen, schrillen Laut aus und lief wie gehetzt davon.
Das hatte er freilich nicht erwartet, daß sein Lehrer zufällig in diesem Hause war. Nun würde es morgen eine schöne Tracht Prügel in der Schule setzen.
Joachim, der sich ohne den Anstifter unbehaglich fühlte und die rasche Flucht des Freundes noch nicht erklären konnte, unterbrach den Gesang gleichfalls, lief Emil nach; und so blieb Bärbel allein auf dem Hofe zurück.
Verängstigt schaute sie von einem zum anderen.
»Wer schickt dich denn hierher, Bärbel?«
»Wir wollten singen und viel Geld bekommen.«
»Weiß das deine Mutti?«
»Nein.«
»Dann geh nur rasch heim und laß dich umkleiden, denn es ist gar nicht nett, wenn ein kleines Mädchen so umherläuft.«
»Die Großmama hat Bärbel so angezogen.«
»Deine Großmama? Ist das wahr?«
»Ja.«
»Und sie weiß, daß du in fremde Häuser gehst und singst?«
Bärbel schüttelte den Kopf.
Schließlich nahm sie der Herr an die Hand, um sie heimzuführen.
Selbstverständlich erregte der merkwürdige Anzug der Kleinen überall die größte Aufmerksamkeit, und unter Begleitung einer größeren Kindermenge erreichten die beiden die Apotheke.
Herr Wagner, der soeben einem Kunden etwas verabreichte, wurde durch den Lärm aufmerksam und erkannte in dem maskierten Kinde seine Tochter. Wie kam der Lehrer Weber dazu, sein Kind hierher zu bringen, – was war geschehen?
Er ließ Senftleben allein in der Apotheke zurück und ging den Ankommenden entgegen.
Bärbel fühlte sich ein wenig unbehaglich, denn durch die Reden des Begleiters war der Kleinen klar geworden, daß es nicht richtig gehandelt hatte.
Mit Dankesworten wurde der Lehrer entlassen; dann nahm der Apothekenbesitzer seine Tochter an der Hand und führte sie hinauf zur Großmama.
Frau Lindberg, die nichts Böses ahnte, lachte und konnte sich die strenge Miene ihres Schwiegersohnes nicht erklären.
»Weißt du, wo man Bärbel gefunden hat? Sie ist in der Karlstraße gewesen und hat auf dem Hofe gesungen.«
»Bärbel!«
Stotternd gab das Kind auf Befragen die nötigen Erklärungen. Dann langte der Vater nach dem Rohrstock, und nun setzte es eine gehörige Tracht Prügel.
»Ich wollte nur Geld verdienen,« stieß Bärbel schluchzend hervor.
»Darum hast du dich nicht zu kümmern, dein Vater verdient das Geld, merke dir das!«
Sie schluchzte bitterlich. »Nun tut die ganze Hinterbrust weh – und es war doch so schön!«
»Wo ist Joachim?«
»Er ist fortgelaufen.«
»Du bleibst heute den ganzen Abend in der Stube; und wenn ich eine einzige Klage höre, gibt es nochmals Prügel.«
»Ach, Vati, – das wird die Hinterbrust nicht vertragen.«
»Du bist still und hast nichts zu antworten.«
Da setzte sich Goldköpfchen folgsam auf ihr kleines Stühlchen und überlegte, wie merkwürdig es doch in der Welt zuging. Wenn der Vati Geld verdiente, bekam er keine Prügel; und wenn sie sich abmühte, setzte es Schläge. Ob der Joachim auch Prügel bekam? Aber so sehr Bärbel auch von dieser Frage bewegt wurde, sie wagte nicht mehr, den Mund zu öffnen.
Zehn Minuten später hörte sie allerdings, daß sich auch über Joachim ein Strafgericht ergossen hatte, denn des Bruders Stimme tönte in schrillsten Klagetönen durch das ganze Haus.
»Hau' doch den Emil, der war der Anstifter!«
Schließlich saß auch er im Zimmer der Großmutter und rieb sich von Zeit zu Zeit den schmerzenden Rücken.
Bärbel tröstete ihn herzlich. »Unsere armen Hinterbrüste! Aber weine nicht so sehr, Joachim, es wird bald wieder besser.«
»Wenn der Emil keine Prügel gekriegt hat, hau' ich ihm morgen die Jacke voll!«