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7

Ich schluckte ein paarmal, ehe ich die Antwort in die Muschel sprach. »Und die anderen? Das Zenobiakostüm zum Beispiel?«

»Seine Herkunft ist noch nicht festgestellt. Aber es gibt verschiedene Firmen der Branche, bei denen wir noch nicht nachgeforscht haben.«

Als ich, weniger hastig, wieder nach unten ging, beschäftigte sich mein Hirn mit der erhaltenen Nachricht. Ich sah die Salome vor mir, wie ich sie während der Nacht gesehen hatte, den kapuzenverhüllten Inquisitor verfolgend, ihn umschmeichelnd, zum Tanz verlockend und mit eifersüchtigem Auge seine Bewegungen beobachtend, wenn er eine andere Tänzerin im Arm hielt. Und diese Salome war des Toten Stieftochter gewesen! Mir begannen sich Tiefen in der Natur des eigenartigen Mädchens aufzutun, deren sie sich selber schwerlich bewußt war. Nicht nur Empörung über die Behandlung, die ihrer Mutter zuteil wurde, hatte sie veranlaßt, dem Tun und Treiben des Stiefvaters nachzuforschen, nicht eitel Neugier hatte sie zu dem Domino-Klub geführt. Ihre leidenschaftliche Anklage der weiblichen Patienten entsprang einem geheimen Gefühl, von dem sie nichts ahnte. Der Mann hatte sie fasziniert. Ohne es zu wissen, wurde sie von Eifersucht heimgesucht. Und in seltsamer Unkenntnis ihrer wahren Gefühle wähnte sie, immer noch seine Feindin zu sein; wähnte, daß Haß sie verleitete, sich ihm im Schutz des Maskenkostüms zu nähern und ihn zu überwachen, mit ihm ein Mal um das andere zu tanzen und ihn mit ruhelosen Späheraugen zu verfolgen, so oft er seine Aufmerksamkeit sonst jemandem schenkte.

Allmählich schien es mir, daß diese erstaunliche Entdeckung die Möglichkeit bot, die Nachforschung von mir und einer anderen Person, die mich weit mehr interessierte als Betty Neobard, abzuwenden. Ich mußte Sir Franks Argwohn auf Salome festzunageln suchen, sie so in den Vordergrund schieben, daß die anderen von Gérard erwähnten Personen darüber in Vergessenheit gerieten.

Ich fand meinen Chef bei einer neuen Liste. Während ich wieder neben ihm Platz nahm, blieb mein Auge an dem zuletzt geschriebenen Namen haften: Lady Violet Bradwardine ...

»Wir sind der Lösung des Rätsels nahe, Sir Frank«, verkündigte ich in zuversichtlichem Tone. »Das Kostüm der Salome gehört Miß Neobard.«

Zu meinem Unbehagen nickte Tarleton wie ein Mensch, dem das, was er vermutete, bestätigt wird.

»Armes Ding! Dergleichen befürchtete ich.« Darin schrieb er weiter. »Hören Sie zu, Cassilis«, sagte er endlich, die Feder niederlegend. »Ich habe eine vollständige Aufstellung der Klubmitglieder gemacht, die als Patienten Weathereds eine Nummer hinter ihrem Namen tragen. Was die Nummer bezweckt, müssen wir noch herausfinden. Haben Sie schon irgendeine Vermutung?«

Ich verneinte es, und es war eine ehrliche Verneinung. »Vorläufig – das heißt in dem gegenwärtigen Stande der Untersuchung – möchte ich annehmen, daß die Nummern sich auf Seiten des aus dem Safe entwendeten Buches beziehen«, fuhr der Arzt sinnend fort. »Aber offengestanden befriedigt mich diese Erklärung nicht. Jedenfalls – wenn Madame Bonnell nicht log, als sie uns von Mitgliedern erzählte, vor denen Weathered sich gefürchtet habe – befinden sich die Namen jener, die ihn in diese Angst versetzten, auf dieser Liste.«

Er reichte mir den Bogen. Von dem Dutzend Namen, die ich las, waren mehr als die Hälfte weibliche. Aber mein Auge haftete wie gebannt nur an einem einzigen: Lady Violet Bradwardine.

»Miß Neobard haben Sie ja ausgelassen, Sir Frank«, bemerkte ich. »Und desungeachtet wissen wir jetzt, daß sie vergangene Nacht an dem Fest teilnahm und mehr Zeit als jede andere Maske in Weathereds Gesellschaft verbrachte. Und sie hatte allen Anlaß, ihn zu hassen.«

Tarleton wehrte mit beiden Händen ab.

»Oh, Cassilis, Sie müssen hinsichtlich der Analyse der menschlichen Natur – zum mindesten der weiblichen – noch viel lernen, wenn Sie sich einbilden, daß Haßgefühle jene junge Frau zum Domino-Klub geführt hätten. Haß gegen die anderen Frauen, das meinetwegen, doch nimmermehr Haß gegen ihn, Dr. Weathered.«

Was tun? Eine Theorie verfechten, die mein eigenes Urteil bereits verworfen hatte? ... Lieber griff ich die Sache von einer anderen Seite an.

»Was mir auffällt, Sir Frank, ist, daß alle Personen Ihrer Liste alte Klubmitglieder sind, die schon früher viele Gelegenheiten gehabt hätten, Weathered zu betäuben. Vergangene Nacht wohnte zum ersten Mal seine Stieftochter einem Maskentreiben im Klub bei, und vergangene Nacht wurde zum ersten Mal auf Weathered ein Anschlag verübt.«

»Bravo, junger Freund, diesen Einwand lasse ich gelten. Vergessen Sie jedoch nicht, daß Betty Neobard im Hause des Stiefvaters lebte und ihm auch dort das Gift heimlich einflößen konnte. Warum hierfür den Domino-Klub erwählen? Mußte sie überhaupt zum Opium greifen, um an den Safe zu gelangen? Denn das dürfen wir nicht eine Sekunde außer acht lassen, Cassilis: Ziel und Zweck des ganzen war der Safe. Rachgier kam erst in zweiter Linie.«

Ich fühlte mich geschlagen, und die Klugheit gebot, den Ausführungen meines Chefs zuzustimmen.

»Seien Sie jetzt so gut und machen Sie von dieser endgültigen Liste eine Abschrift für Captain Charles«, hörte ich ihn sagen. »Den Nachforschungen der Polizei gelingt es vielleicht, über diese Personen irgend etwas zu erfahren, das die Zahl der Verdächtigen auf einen oder zwei zusammenschrumpfen läßt.«

Das Papier in meiner Hand begann zu zittern. Ich faltete es hastig zusammen und steckte es in die Tasche. Blitzähnlich schoß der Gedanke durch mein Hirn, daß ich auf dieser anzufertigenden Abschrift ohne allzu großes Wagnis den einen Namen weglassen könnte. Wenn man hinterher die Auslassung entdeckte, würde man sie auf eine Fahrlässigkeit, ein Versehen schieben, und inzwischen war viel kostbare Zeit gewonnen.

Langsam stand Sir Frank vom Schreibtisch auf. »Und nun begleiten Sie mich zu der Leiche«, sagte er ernst. Drüben im Laboratorium lag sie, bereit für das chirurgische Messer, auf einem Marmortisch, und ihr Anblick lenkte mich vorübergehend von den Sorgen betreffs der Namensliste ab. Die bereits vorher beschriebenen Symptome verwirrten mich, zumal sie immer stärker in Erscheinung traten. Die ganze tiefgraue Haut war jetzt von winzigen Runzeln durchfurcht. Seit wann hinterließ eine Opiumvergiftung solche Folgen? Bleischwer lag mir das Herz in der Brust. Wenn dem maskierten Inquisitor durch unbekannte Hand ein anderes, tödlicheres Gift als Opium eingegeben worden war, würde man den Mord – den kühl überlegten Mord – jener Person zuschreiben, die sich die Schlüssel angeeignet hatte!

Die Arbeit, bei der ich nun Assistentendienst leistete, war zu grauenhaft, als daß ich sie hier beschreiben könnte. Es möge genügen, wenn ich sage, daß wir keinerlei organische Fehler feststellten. Die inneren Symptome stimmten mit den äußeren überein. Alles deutete auf ein Gift, das in einigen seiner Wirkungen dem Opium glich, indes noch einen besonderen Einfluß sowohl auf die inneren Membrane als auch auf die äußere Epidermis hatte. Doch wie das Gift hieß, entzog sich meiner Kenntnis.

Sir Frank Tarleton schien nicht weniger verdutzt zu sein als ich. Fast stumm führte er die Untersuchung aus. Wenn er sprach, geschah es nur, um von mir die verschiedenen Reagensmittel zu verlangen, mit deren Hilfe man Gift feststellt. Um keins der üblichen handelte es sich hier. Strychnin oder Arsenik kam überhaupt nicht in Frage; auch die Proben auf Belladonna und Akonitin verliefen negativ. Inmitten meiner folternden Angst fühlte ich heiße Bewunderung für das außerordentliche Wissen meines Chefs. Er nahm Versuche vor, von denen ich nie gehört hatte, spürte Rauschgiften nach, die ich nicht einmal dem Namen nach kannte. Kaum merkliche Entfärbungen wurden durch ein starkes Mikroskop geprüft; bei dem einen Organ wandte er eine galvanische Batterie an, bei dem anderen den Röntgenstrahl. Und trotzdem gelangte er zu keinem positiven Ergebnis.

Ohne daß wir es merkten, verstrichen Stunden bei dieser gewissenhaften Arbeit. Erst als die Dinnerzeit nahe war, richtete sich Tarleton auf, ging quer durch den Raum und begann unter dem Warmwasserhahn seine Hände zu waschen.

»Ich habe jetzt nach jedem der »Britischen Arzneikunde« bekannten Agens geforscht, das den Tod unter den vorliegenden Symptomen herbeiführen könnte, und keins ist in der Leiche vorhanden«, erklärte er.

Mich durchrann ein Frösteln. Hätte ein anderer dies gesagt, würde ich gedacht haben, er führte den Tod auf eine übernatürliche Ursache zurück.

»Mithin gibt es nur zwei Möglichkeiten«, fuhr er fort. »Entweder habe ich es mit einem Mörder zu tun, der mir an Wissen überlegen ist,« – hier schüttelte ich energisch den Kopf – »in diesem Fall ist er ein Ausländer. Und dann kann hinter dem ganzen doch ein Attentat auf den Prinzen stecken. Die Bolschewiken unterhalten enge Beziehungen zu einem Teil der Chinesen. Wer weiß, ob die verschmitzten Asiaten nicht das Geheimnis besitzen, Opium einer solchen Behandlung zu unterziehen, daß es Wirkungen hervorbringt, die uns westlichen Gelehrten unbekannt sind? ... Ja, Charles muß unbedingt auskundschaften, was für ein Kostüm der Prinz diese Nacht trug, und überdies dem Lebenswandel des lavonischen Legationsrates ein wenig nachspüren.«

Er brach ab, und ich atmete freier als seit vielen, vielen Stunden.

»Die andere Möglichkeit will ich Ihnen auch nicht verheimlichen, Cassilis«, ergriff er von neuem das Wort, als er das Handtuch wieder an den Nagel hängte. » Ein Gift ist mir bekannt, das tatsächlich solche Wirkungen, wie wir sie hier sehen, hinterläßt. Doch dieses Gift wird in der Pharmacopöe nicht erwähnt, und ich wiegte mich bisher in dem Glauben, daß ich als einziger in diesem Teil der Welt es besäße. Ich bewahre es in einer versiegelten Flasche in meinem Safe auf. Jetzt werde ich nachsehen, ob unbefugte Hände die Flasche berührt haben, und ob von dem Gifte etwas fehlt.«

Die scharfen grauen Augen hafteten unentwegt an meinem Gesicht, und zum ersten Mal überfiel mich das entsetzliche Bewußtsein, daß mein Chef, stutzig geworden durch mein verstörtes, unsicheres Gebaren, argwöhnte, ich wisse mehr von der Tragödie, als ich einzugestehen für gut befunden hatte. So tief wurzelte schon sein Argwohn, daß er sich jetzt überzeugen wollte, ob er von seinem Hausgenossen betrogen und beraubt worden war. Und obwohl frei von aller Schuld, zitterte ich innerlich. Wenn die Flasche oder etwas von ihrem Inhalt fehlte, wie durfte ich hoffen, mich reinzuwaschen? ...

Mit einem leichten Seufzer schritt Tarleton zu dem Stahlschrank, der seine Giftsammlung enthielt, schloß ihn auf und öffnete drinnen ein noch extra gesichertes kleines Fach. Ich sah, wie er ein viereckiges Glasfläschchen, mit einem grauen Pulver gefüllt, herausnahm. Gebeugten Hauptes prüfte er das Siegel, das den Korken bedeckte.

»Dem Himmel sei Dank!«

Sein Ausruf fand in meinem Herzen frohen Widerhall. Tarleton aber blickte mich mit einem Lächeln unverkennbarer Erleichterung an.

»Das Siegel ist unversehrt, Cassilis. Wenn das erwähnte Gift zu der Ermordung Weathereds gebraucht wurde, hat man es sich nicht von mir verschafft!«

Ich kannte die großmütige Veranlagung meines Chefs gut genug, um sicher zu sein, daß er sich wegen seines momentanen Argwohns Gewissenbisse machen und geneigt sein würde, als Buße die Augen vor allen etwaigen sonstigen Beziehungen meinerseits zum Domino-Klub oder seinen Mitgliedern zu schließen. Tatsächlich gab er mir sofort einen kurzen Urlaub.

»Wenn Sie vielleicht ausgehen möchten, Cassilis – ich brauche Sie für den Rest des Tages nicht mehr. Wir haben unsere Pflicht redlich erfüllt und müssen nun weitere Nachrichten von der Polizei abwarten. Inzwischen werde ich mir in aller Ruhe das Problem überlegen.«

Wie dankbar war ich ihm! Denn ich hatte wirklich Dringendes zu erledigen. Zuerst fertigte ich rasch in meinem Zimmer von der Namensliste eine Kopie an, die ich auf Tarletons Geheiß dem Inspektor senden sollte. Doch wenngleich das mir anvertraute Papier zwölf Namen aufwies, standen auf dem neuen, für Scotland Yard bestimmten Bogen nur elf.

Dann führten mich meine persönlichen Angelegenheiten nach einer kleinen Straße – nur einen Steinwurf weit vom Piccadilly Circus entfernt –, wo ich seit meiner Übersiedelung zu Sir Frank ein Zimmer gemietet hatte. Es war mein privater Zufluchtsort, an dem ich einige wenige Freundschaften, die ich vor meinem Chef geheimzuhalten wünschte, weiterpflegte; ein Asyl, in dem ich, wenn das streng geregelte Dasein unter Sir Franks Aufsicht mir überdrüssig wurde, meine Unabhängigkeit für einige Stunden wieder aufnehmen konnte. Der größeren Sicherheit halber hatte ich das Zimmer unter meinem Vornamen Bertrand gemietet. Von ihm aus war ich verkleidet zum Domino-Klub aufgebrochen und hier auch wieder aus dem Maskentand herausgeschlüpft, nicht ahnend, wie wertvoll dieser Raum zwölf Stunden später für mich werden würde.

Wohlverwahrt lag das Kostüm in einem verschlossenen, alten Handkoffer, der nach echter Junggesellenart unter dem Bett stand. Was jetzt mit dem bunten Flitter beginnen? ... Ich sann und sann, begleitete im Geiste die polizeiliche Streife auf ihrer Suche in den verschiedenen Ateliers. Jeden Augenblick konnte sie bei einem gewissen kleinen Juden in der Wardour Street vorsprechen und ihn zwingen, Namen und Adresse zu nennen, nach der dieses selbe Kostüm vor mehr als Jahresfrist geschickt worden war. Und dann? Dann würde man fraglos weiter nach seinem Verbleib forschen.

Damals dachte ich – und ich denke es auch heute noch –, daß ich angesichts der Umstände das Allerklügste tat. Ich schrieb einen Brief, und hierauf schloß ich den Koffer wieder ab, versah ihn mit einer Adresse und trug ihn zu dem Postamt in der Shaftesbury Avenue.


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