Else Ury
Dornröschen
Else Ury

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Nur ein Mädel

Auch gegen ihr Mutting, das doch so sehr der Schonung und eines liebevollen Wesens bedurfte, war Leni jetzt öfters ungleich und gereizt. Die Überlastung und Unzufriedenheit mit dem, was sie erreichte, machte das sonst liebenswürdige Mädchen oft kribbelig.

Das merkten auch die kleinen Geschwister zu ihrem Leidwesen. Die Jungen beschrieben, sobald sie aus der Schule kamen, einen möglichst großen Bogen um das Dornröschen, denn irgend etwas hatten sie ja immer auf dem Kerbholz. Trotzdem sah Leni bald, daß auch ihr Regiment bei den beiden Schlingeln nicht mehr so recht wirkte. Es ging eben alles jetzt drüber und drunter in Nedderdorf. So viele zerrissene Hosen und zerschundene Knie gab es sonst in einem Jahr nicht.

Wenn Dornröschen dann abgehetzt und todmüde endlich abends in ihrem Turmstübchen saß, dann lag vor ihr noch ein Berg Flickarbeit, der nicht kleiner werden wollte, so viel sie auch stichelte. Daß dieses ihre Laune nicht gerade verbesserte, war natürlich. Es bedurfte nur eines geringen Anlasses von seiten der rauflustigen Burschen, um das Pulverfaß zum Explodieren zu bringen. Solche Anlässe gab es täglich mehr als genug, besonders jetzt zur Maikäferzeit.

Hänschen und Fränzchen waren zwei leidenschaftliche Käferjäger. Der alte Herr Kantor im Dorf, der sie noch immer unterrichtete, beklagte sich wiederholt bei Leni, die Jungen kämen jeden Tag fast eine Stunde zu spät zur Schule. Anstatt sich mit dem lateinischen Ablativ zu befassen, saßen die Schlingel am liebsten in den Bäumen und pirschten auf Maikäfer.

Zuerst drückte der gute Herr Kantor ein Auge zu. Na ja, er war auch mal jung gewesen, und nur einmal blüht im Jahr der Mai! Als aber eines Tages aus Fränzchens Mappe ein Dutzend braungeflügelter Gesellen, die ein Schlupfloch entdeckt hatten, dem erschrockenen Lehrer plötzlich um die Nase surrten und burrten, da hielt er es doch für geraten, mit seiner ehemaligen Schülerin Leni, die noch jetzt sein Liebling war, ernstlich Rücksprache zu nehmen.

Das hatte Dornröschen nur noch in ihrer Bedrängnis gefehlt! Der Herr Kantor ging neben ihr her, während sie Rhabarber im Garten schnitt, und sprach davon, wie schade es um die guten Anlagen der Buben sei, die hier ohne die väterliche Hand verwilderten. Wie befähigt die beiden Jungen wären! Was sie könnten, wenn sie nur wollten! Aber meistens wollten sie eben nicht.

»Du bist den beiden Rangen nicht gewachsen, Kind,« schloß der alte Lehrer seine Abhandlung. »Die müßten in andere Hände. Ein Hauslehrer, der sie streng in der Zucht hat, oder noch besser eine Pension, wo man sie kurz hält! Sprich doch mal mit eurem Vormund!«

Leni wurde krebsrot. Der Vormund – dem gegenüber sie schon ohnedies solch schlechtes Gewissen jetzt hatte? Nein, dem konnte sie doch nicht damit kommen.

Sie richtete sich aus ihrer gebückten Stellung auf. Wieder mal etwas, dem sie nicht gewachsen war! Ach, sie verlor alles Selbstvertrauen; sie war eben nur ein Mädel! Ein Hauslehrer . . . eine Pension . . . jetzt, da man mit jedem Groschen rechnete, um gerade noch glatt durch die teure Erntezeit zu kommen? Nein, das konnte man sich nicht leisten!

»Aber ich werde sie schon an die Kandare nehmen! Nicht mucksen sollen sie, die Stricke – das verspreche ich Ihnen, Herr Kantor!«

Leni hielt Wort. Die Katzenköpfe flogen den beiden Jungen bald nur so wie die Maikäfer um die Ohren, und die Jagdgerechtigkeit wurde ihnen ein für allemal entzogen. Aber eher verbietet man einem Eichhörnchen das Klettern, als einem elfjährigen Schlingel den Maikäferfang.

Nicht einmal Lenis Obstbäume, die ihr im Andenken an Vating ganz besonders ans Herz gewachsen, waren vor den beiden jugendlichen Nimroden sicher. Die rosenroten und schneeweißen Blütchen flogen und stoben unter den derben, schüttelnden Jungenfäusten; ein wahrer Blütenteppich deckte jeden Tag die Gartenwege. Dornröschen jammerte, zankte und prügelte – alles umsonst. Hänschen jagte seine »Schornsteinfeger« – das waren die Maikäfer mit einem schwarzen Schild auf dem Rücken – ebenso begeistert weiter wie Fränzchen seine »Müller«, nämlich die mit dem weißen Brustschild. Manchmal aber jagte Hänschen die Müller, und Fränzchen die Schornsteinfeger, und dann prügelten sie sich gegenseitig.

Niemand auf dem Hofe war mehr vor den krabbelnden Maikäferbeinen sicher. Machte der alte Jürgens mal sein Nickerchen, so setzten ihm die Schlingel in rührender Übereinstimmung sofort einen zappelnden Maikäfer auf die rote Kartoffelnase. Jürgens wurde dann »falsch« und schimpfte auf die »grugligen Biester«. Cäsar wagte sich überhaupt nicht mehr aus seiner Hütte heraus, wenn er die zerlöcherten Strümpfe der jungen Herren von Nedderdorf über den Hof stampfen sah, denn die trugen Zigarrenkisten mit gräßlichen Insassen, die sie ihm stets in das lange, zottige Fell setzten, und mit denen sich Cäsar immer »rümmer ärgern« mußte. Dörthe fand in ihrem winzigen grauen Zöpfchen drei der braungeflügelten Maienboten, und selbst Dornröschen wagten die unverschämten Schlingel ihre Jagdbeute heimtückisch auf den Rücken zu setzen.

Am schlimmsten aber war Lütt-Susing daran. Die hatte eine unüberwindliche Abneigung gegen Maikäfer; sie schrie, wenn sie die Jungen nur von weitem auf sich zukommen sah. Schwapp – hatte sie solch krabbelndes Ungetüm auf dem Hals, dem Arm oder den bloßen Beinen. Der Jammerruf »Dornröschen« scholl in allen Tonarten über den Gutshof. Aber Dornröschen war jetzt meist nicht zu haben, und wenn sie doch mal auf Suschens gellendes Angstgeschrei herbeieilte, dann bekamen sie alle zusammen was ab – selbst ihr Liebling.

Ja, es war ein böser Mai. Es regnete und tröpfelte vom wolkenverhangenen Himmel, und es regnete und tröpfelte aus blauen und braunen Augen.

Endlich aber wagte die Sonne sich mal wieder hervor. Sie flimmerte und gleißte in den Nedderdorfer Fensterscheiben, als ob sie wüßte, daß Gusting jetzt wenig Zeit zum Putzen fand – als ob sie wüßte, wie man ihre Hilfe zur Heuernte gebrauchte, die seit zwei Tagen begonnen hatte, und wie sehnsüchtig das Dornröschen von Nedderdorf ein wenig Sonnenschein erhoffte.

Dornröschen und Suschen saßen auf dem Gartenplatz, von dem man einen Teil des Hofes übersehen konnte, unter dem großen weißen Fliederbusch. Der ließ seine duftenden Blütendolden tief auf die beiden hübschen Schwestern herniederhängen und sandte seinen holdesten Frühlingshauch zu ihnen herab. Das war ein Blühen und Duften ringsum, ein sorglos Zwitschern und Jubilieren, wie wenn es gar keine Arbeit, gar keine Sorgen auf der Welt gäbe.

Und doch hatten sowohl Dornröschen als auch Lütt-Susing ihr gerütteltes Maß davon voll. Suschen stöhnte sogar herzbrechend, denn die Sechsen, die sie in die blauen Vierecke ihres Rechenheftes malen sollte, bekamen von Mal zu Mal mehr Ähnlichkeit mit der großen Regentonne auf dem Hof. Dagegen wurde die Vier geradezu schwindsüchtig, die Eins sah wie ein Zuckerhütchen aus und die Zwei wie Schlangengewürm. Ja, man hatte schon seine Sorgen! Besonders wenn die liebe Sonne endlich mal wieder vom Himmel herunterlugte und man viel lieber mit Cäsar auf den Wiesen zwischen den abgemähten Blumen herumgehopst wäre!

Klacks – ein großer, schwarzer Tintenklecks machte sich auf dem sonnenbeschienenen Heft breit. Suschen verzog jämmerlich den Mund und legte die Hände schützend gegen die ihrem Dornröschen zugewandte Wange, denn die junge Lehrerin pflegte meist kurzen Prozeß zu machen. Aber Leni hatte augenblicklich andere Sorgen; die bemerkte Susings Gekleckse überhaupt nicht.

»Krischan, du führst mir ja die dampfenden Gäule ohne Decken in den Stall! Jung, muß man denn überall die Augen haben?« erscholl ihre Stimme hinter dem zusammenfahrenden Pferdejungen her.

Dann versank sie wieder in Schweigen und lauschte dem von den Wiesen herüberschallenden Dengeln der Sensen. Das klang ihrem Ohre süßer als die herrlichste Musik.

Endlich war man so weit! Wenn das schöne Wetter jetzt anhielt und das Heu gut austrocknete, dann konnte sie ohne allzu großes Kopfzerbrechen an die teuren Erntelöhne denken. Dörthe würde heute auch wieder einen ordentlichen Batzen Buttergeld heimbringen; zwölf und ein halbes Pfund zu je einer Mark dreißig Pfennig, das waren . . .

»Susing, Dirn, was fällt denn dir ein?« Da machte Suschens Bäckchen ganz unvermittelt doch die nähere Bekanntschaft mit Dornröschens sonnengebräunten Fingern.

Durch das Zusammenrechnen des Buttergeldes war Leni wieder daran erinnert worden, daß jetzt eigentlich Rechenstunde sei. Auch Suschen hatte den eigentlichen Zweck ihres Beisammensitzens inzwischen vergessen. Sie malte längst kein Zahlenungeheuer mehr, sondern hielt es für ersprießlicher, mit dem verkehrten Federhalter breite Tintenströme, stattliche Flüsse und niedliche schwarze Bächlein auf dem weißgescheuerten Gartentisch erstehen zu lassen. Aber Leni zeigte kein rechtes Verständnis für Suschens Kunst. Sie schleppte das schreiende Ding, wie sie es mit dem wasserscheuen Cäsar zu machen pflegte, beim Genick unter die große Wasserpumpe, denn Suschens pechrabenschwarze Tintenhände wollten durchaus die hervorstürzenden Tränen aus dem Gesicht wischen.

Mitten in dieses Planschen und Heulen, Prusten und Rubbeln tönte plötzlich das Rattern eines näherkommenden Wagens. Dornröschen hielt mit Waschen inne und Susing mit Schreien. Beide hörten, daß dieser schnelle leichte Hufschlag nicht von ihren plumpen Ackergäulen herrührte.

Mit Herzklopfen lauschte Leni. War es der Vormund, der Wind von der Sache bekommen hatte und ihr jetzt den Kopf waschen wollte?

Da rollte auch schon ein zierliches, kleines Kabriolett die Kirschenallee heran, die zur Auffahrt führte, und: oben auf dem Kutschbock thronte nur des Vormunds Tochter, Lenis Freundin Mieting Dürenfurt aus Staveneck!

Da rollte auch schon ein zierliches kleines Kabriolett heran.

Sie warf dem herbeikommenden Burschen die Leine zu, knallte, sich anmeldend, mit der Peitsche und sprang dann mit einem kühnen Satz von ihrem hohen Sitz herunter, gerade in Lenis Arme, die sich in aller Eile die nassen Hände an der großen Wirtschaftsschürze abgetrocknet hatte, während Suschen die günstige Gelegenheit benutzte, um schleunigst zu entwischen.

»Mieting, min olle leiwe Dirn! Ich hab' dich ja sechs Ewigkeiten nicht gesehen!« Leni hielt die Freundin umklammert, als ob sie in all ihrer Bedrängnis dort endlich Halt finden sollte.

»Ja, deinetwegen kann einer ja sterben und verderben, Dornröschen; du kümmerst dich nicht darum. Nein, was hab' ich mich nach dir gebangt, mein Dirn! Wie hast du mir gefehlt,« und Mieting, die ewig lachende und trällernde, brach plötzlich inmitten der Wiedersehensfreude, inmitten der Nedderdorfer Fliederpracht in lautes Schluchzen aus.

Nanu – die auch? War da gleichfalls nicht alles im Lot? Leni fuhr zärtlich über Mietings dunkelblonden Scheitel.

»Mieting, olle Dirn, das wird ja allens wieder gut! Was ist denn bloß? Komm, wir gehen in meinen Turm; dort erzählst du mir,« und Dornröschen, der das Herz selbst schon gerade schwer genug war, führte, zu Tode erschrocken, die schluchzende Freundin durch den Garten.

Aber sie kamen nur bis zu der Geißblattlaube. Dort fiel Mieting noch einmal ihrem Dornröschen um den Hals und flüsterte ihr zu, es sei etwas geschehen.

»Das seh' ich ja, Dirn, aber was? Ist jemand krank auf Staveneck – dein Mutting oder dein Vating?

Die weinende Mieting schüttelte den Kopf.

»Nein – na, was denn sonst?« Leni wagte gar nicht weiter zu fragen. »Red' doch, und wenn es auch noch so entsetzlich ist!« Dornröschen stand wahre Folterqualen aus.

»Ich – ich –« schluchzte Mieting, »ich habe mich verlobt,« stieß sie plötzlich hervor und barg das erglühende Gesicht an der Freundin Brust.

»Was?« Dornröschen traute ihren Ohren nicht. Dann aber schob sie die Freundin ein Ende von sich ab, schaute sie an, als ob sie sie heute zum ersten Male in ihrem Leben sähe, machte plötzlich einen Luftsprung und fiel ihrem Mieting lachend und weinend zugleich um den Hals. Wenn die Tagelöhner ihr Fräulein Inspektor so gesehen hätten, da würden sie aber erst Respekt bekommen haben!

So standen denn die beiden Freundinnen innig umfangen in der Geißblattlaube, heulten beide um die Wette und wußten doch alle beide nicht warum.

»Mieting – Dirn – und denn röhrst (weinst) du?« Leni wischte sich mit dem Schürzenzipfel die Tränen aus den Augen.

»Je, du weinst ja auch, Dornröschen!« Aus Mietings braunen Augen tropfte schon wieder Sonnenregen.

»Dirn – ich freu' mich ja bannig!« Leni schien nicht übel Lust zu haben, noch einen Luftsprung zu vollführen.

»Und du weißt doch noch nicht mal, wer es ist, min Döchting!« Mieting lächelte bereits wieder.

»Richtig – eine Mannsperson gehört ja auch dazu!« Das schien Lenis Begeisterung denn doch etwas zu dämpfen.

Jetzt lachte Mieting aber hell heraus.

»Dornröschen, du büst ja nich ganz recht! Wenn ich das meinem Fritzing erzähl' –«

»Fritzing? Fritz heißt er? Ha, jetzt weiß ich, wer das ist! Fritz von Staberow!«

»Geraten!« Mietings frisches Gesicht erglühte von neuem. Herrje, so leicht war das denn doch nicht, der besten Freundin eine derartige Mitteilung zu machen!

»Also Fritzing Staberow? Mieting, da hast du meinen Segen zu! Der ist keiner von den Laffen; das ist so'n rechter, verständiger Jung!«

»Du, erlaube mal gefälligst, Dornröschen! Fritzing ist achtundzwanzig, also aus den Jungsjahren denn doch woll raus,« erwiderte Mieting sehr eifrig.

Leni machte ein merkwürdiges Gesicht.

»Daß doch dies Mannsvolk auch zwischen die innigste Mädchenfreundschaft trennend treten muß,« seufzte sie dann wehmütig.

»Dirn, du büst ja woll nich klug? Mein Fritzing unsere Freundschaft stören? Im Gegenteil, grüßen läßt er dich, und du sollst bald nach Staveneck kommen, solang' er noch da ist!«

»Was – ist denn sein Lehrjahr bei deinem Vating schon um?« verwunderte sich Leni.

»Nein, das ja nich« – Mieting wurde etwas kleinlaut – »aber Vating meint, sein Herr Schwiegersohn habe jetzt bloß noch Flausen im Kopf, und was mein Mutting is, die sagt nu auch, ich wär', seitdem ich Braut bin« – Mieting zögerte augenscheinlich sehr, das Wort von sich zu gebrauchen – »na, aber ich bin's doch nu mal, Dornröschen – also Mutting sagt, ich wär' jetzt rein aus dem Häuschen. Also denn helpt dat nich, Fritzing muß fort!«

Trotzdem schaute Mietings niedliches Gesicht geradezu glückstrahlend aus.

»Na, und die Hochzeit? Wann wollt ihr heiraten?«

»Ja, mein' Dirn« – Mietings Stumpfnase sah mit einem Male gar nicht mehr so lustig drein – »das hat noch lange Tid (Zeit)! Fritzings Vater, der olle Staberow – du kennst ihn ja – der ist noch gaud tau (gut zu) Weg; der denkt ja gar nicht dran, sich zur Ruh zu setzen und mein Fritzing, der doch der älteste von den vier Jungs ist, an die Reih zu lassen. Da können wir alt und grau drüber werden.« Die junge Braut zog ihr rosiges Gesicht in ernste Falten.

Jetzt lachte Leni.

»Ihr könnt ja hier auf Nedderdorf die Inspektorstelle übernehmen,« sagte sie dann halb scherzhaft, halb mit ihren Gedanken schon wieder bei den kaum vergessenen Sorgen.

»Dirn – Leni – Dornröschen, was machst du hier für Sachen!« Mieting hatte über dem eigenen Glück bisher die Angelegenheit der Freundin ganz vergessen. »Setzt hier deinen Inspektor mir nichts, dir nichts an die Luft – die Botenfrau hat es auf Staveneck vertellt (erzählt) – und läufst woll gar in Stulpstiefeln selbst als Inspektor auf den Äckern rümmer? Vating ist mächtig böse auf dich. Er wäre selbst gekommen, um dir gehörig den Marsch zu blasen, läßt er dir sagen; aber er konnte nicht weg. Da soll ich denn die Sache für ihn besorgen.«

Damit packte die um einen halben Kopf kleinere Mieting die Freundin bei beiden Ohren und – küßte sie herzhaft.

»Mieting, ich weiß ja, daß ich vorschnell gehandelt habe; aber nun ist's doch mal geschehen. Ach, wenn du wüßtest, was 'ne grugliche (greuliche) Unordnung hier jetzt auf Nedderdorf und auch in mir selbst herrscht!«

Leni, die sonst Tränen stets tapfer zurückhielt, lehnte den braunen Kopf aufschluchzend an Mietings blonden. Es war ihr eine Wohltat, endlich einmal ihr Herz gegen eine treue Seele zu entlasten.

»Du bist überreizt, Dirn! Du hast dir 'nen zu großen Hümpel (Haufen) auf den Buckel geladen. Täuw man (warte nur), das wird ja wieder besser – wirst schon wieder rausfinden aus der Bedrängnis! Ich werd' Vater sagen, daß er sobald wie möglich mal hier nach dem Rechten sieht.«

So tröstete und streichelte die Freundin. Da war es Leni, als ob der düstere Weg, den sie vor sich gesehen hatte, nicht mehr ganz so schwer und dunkel sei, als ob schon wieder Sonnenlichter darüberhuschten; denn ein gutes Freundeswort ist für eine zagende Seele wie ein Sonnenstrahl bei Regenwetter.

»Büst ja 'ne olle tapfere Dirn!« Mieting hob Lenis immer noch gesenkten Kopf empor.

»Ja, warum bin ich nur 'ne Dirn – nur'n Mädel?« Das war ja Lenis größter Schmerz, und darin sah sie den Kernpunkt ihrer ganzen Niederlage.

»Dirn, was redst du tausammen! Sei doch froh, daß du 'n Mädel bist! Ich wünsch' mir nix Besseres!« Aus Mietings Braunaugen schaute die innere Glückseligkeit.

»Ja – du!« Es war kein Ton des Neides – solche Regungen gab es für Lenis lautere Seele nicht –, aber es klang doch ein fast unbewußter Vergleich aus den beiden Worten.

»Dornröschen, täuw du man noch 'n beten (bißchen); dein Prinz wird auch schon kommen,« neckte die Freundin.

»Quatsch!« Das kam Leni aus innerstem Herzen. »Kiek, Mieting, da kommt mein Prinz; gefällt er dir?« und sie wies auf Jürgens alten Flausrock, der sich langsam durch die Büsche näherschob.

Mieting umfaßte Leni und wirbelte sie ausgelassen im Kreise herum. Sie war so froh, daß die Freundin wieder scherzte.

Da stand Jürgens vor den tollenden Mädchen.

»Je, Frölen Lening, da is wat passiert!« Der Alte kratzte sich bedenklich den kahlen Hinterkopf.

»Ih, Jürgens, hast dich am End' auch verlobt?« Leni war von Mietings übermütiger Laune angesteckt.

Jürgens trat entsetzt einen Schritt näher; sein Gehör war mit dem Sonnenschein wieder so ziemlich zurückgekehrt.

»Wat – verlobt? Nee, dat jo grad nich – bewohr mi uns' Herrgott vor de Frugensminschen (Frauenzimmer) –«

»Sehr schmeichelhaft!« Leni und Mieting lachten wie aus einem Munde.

»Awerst dat is man,« begann Jürgens wieder und kratzte noch immer, »dat uns de sackermentschen Arbeitslüd auf und davon sünd, mitten in de Heuernt'! Wat sall nu werden, Frölen Lening?«

Die stand wie vom Donner gerührt. Ihr war das Lachen vergangen. Auch Mieting lachte nicht mehr; sie war Landkind genug, um zu wissen, was dies für Nedderdorf während der Heuernte, bei der man mit jedem schönen Tag rechnen muß, zu bedeuten hatte.

»Wat – se sind all fort? Was hast mir das nich früher gesagt? Ich hätt' ihnen doch zugered't und auch zugelegt, wenn's nicht anders gegangen wär'. Aber bis du dich in Bewegung setzt, sind die natürlich längst über alle Berge!« So entlud sich ihr Ärger jetzt über den unbehaglich im Sande scharrenden Alten.

»Je, Frölen Lening, ick kann doch da ok nich vor! Wenn ick in den Ställen bün, dann bün ick doch nich bi't Heuen; da is sunst ümmer uns' Herr Inspektor achter ehn (hinter ihnen) her gewest.«

Leni schwieg. Ihr war zumute wie einem Schiffbrüchigen, der endlich glaubte, ein paar Fuß festes Land unter sich zu verspüren, plötzlich aber wieder in das brandende Meer zurückgeschleudert wird. Während sie mit Mieting geplaudert hatte, waren ihr die Wanderarbeiter, die erst heute ihren Lohn ausgezahlt bekommen hatten, einfach davongegangen. Sie allein traf die Schuld und nicht den braven Alten!

»Na, Jürgens, das is ja recht nüdlich! Aber denn helpt dat nich; da müssen wir eben neue Lüd werben. Du machst dich gleich auf die Socken! Verstehst, schlechter können wir auch nicht ankommen.« Lenis Entschlossenheit kehrte zurück.

»Je, dat wird jetzt ein sweres Stück sin, Frölen Lening!« Mit diesen Worten machte Jürgens kehrt.

»Recht so, Lening, ümmer dorch!« Mieting klopfte der trübe vor sich hinschauenden Freundin aufmunternd auf die Schulter. »Vielleicht kann mein Vating dir Arbeiter verschaffen; der weiß doch besser Rat als dein oller Griskopp – – –«

»Ach, Mieting, dein Vater, der ist doch so böse auf mich – – –«

»Das is er, und da hat er recht; aber er wird schon wieder gut werden!« Mieting kannte ihren Vater.

»Siehst es nu, Dirn, daß ich recht hab', wenn ich jammer, daß ich nur 'n Mädel bin? Bei 'nem Herrn würden sie sowas nicht wagen!«

»Bei 'ner Gutsherrin auch nicht, wenn sie nur merken, daß sie das Ding aus dem Eff-eff versteht! Aber hierher auf Nedderdorf gehört ein Verwalter, Dornröschen; Vater hat es erst gestern gesagt, du arbeitest dich und das Gut zuschanden.«

»Je, da is doch nix nich zu wollen; die Inspektoren liegen jetzt im Sommer nicht auf der Straße.«

»Dafür laß Vating man sorgen; er hat schon an den Bruder von mein Fritzing, an den zweiten Staberow, gedacht. Mein Schwager Johannes hat vor kurzem sein Schlußexamen auf der landwirtschaftlichen Hochschule in Berlin gemacht; der ist jetzt wieder zu Haus und sucht anderswo eine Volontärstelle. Das wäre der richtige Verwalter für Nedderdorf, meint Vater. Der hat Schneid im Leib; sollst sehen, da wagt sich niemand zu mucksen.«

»Nein, Mieting, nein! Ein gebildeter Inspektor, der mit Handschuhen angefaßt sein will? So ein Herr ›von‹, der am End' den Adligen herausbeißt? Nein, der paßt nicht hierher auf unser einfaches Nedderdorf!«

»Aber Dirn« – Mieting wurde ordentlich ärgerlich – »so ist doch der Hans nicht! Der ist wie mein Fritzing, vielleicht noch 'n beten (bißchen) forscher. Aber wenn du dir erst was in den Kopp gesetzt hast, dann ist ja mit dir nicht zu reden; lieber soll hier weiter alles drüber und drunter gehen, was?«

»Ich werd's schon schaffen! Ich will euch beweisen, daß ich allein das Gut bewirtschaften kann!« Leni warf entschlossen den Kopf zurück. »Nein, für so 'n adligen Herrn Verwalter danke ich! Lieber rackere ich mich allein ab.«

»Starrkopp« – Mieting war jetzt richtig böse – »da soll eins nicht falsch bei werden! Aber zum Glück hat doch dein Mutting da noch mitzureden, und mein Vating hat als Vormund das letzte Wort zu sprechen. Der schickt euch einfach meinen Schwager auf den Hals. Komm, Dornröschen – deshalb keine Feindschaft nich! Ich muß jetzt erst noch bei deinem Mutting meinen Glückwunsch holen. Nee, wat büst du noch unbedarwt, min olle gaude Dirn!«

Damit schlang Mieting den Arm um die Freundin und zog sie mit sich in das fliederumbuschte Herrenhaus.


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