Else Ury
Dornröschen
Else Ury

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Winterfreuden

Winter – schneefunkelnder, eisknirschender Winter war es geworden. Plötzlich über Nacht hielt er seinen Einzug in die Millionenstadt. Aber zuvor hatte er draußen auf Klugenhof gerastet und sorgsam eine weiche Flockendecke über die Wintersaat gebreitet. Den lustigen Erkern, Giebeln und Türmchen am Haus hatte er eine weiße Nachtmütze übergestülpt und die ausgedehnten Gewächshäuser tief in Schneekissen gebettet. Klugenhof schien seinen Winterschlaf zu halten.

Aber das schien nur so. Denn den lustigen Mädchenblüten, die da unbekümmert um Winters Regiment das Haus mit Frühlingsonnenschein erfüllten, konnte der gestrenge Herr nichts anhaben. Die tummelten sich, da der Winter ihnen die Außenwirtschaft mit klirrenden Eisschlüsseln verschlossen hatte, um so emsiger im Innenreich. Hier wurde gekocht und gebacken, geschneidert und geflickt, gewaschen und gebügelt. Das waren die jungen Damen, die einst als hauswirtschaftliche Leiterinnen in Pensionaten, Sanatorien oder anderen größeren Betrieben eine Stellung einnehmen wollten. Dort waren die zukünftigen landwirtschaftlichen Beamtinnen in den ausgedehnten Stallungen, Geflügelhäusern und Molkereien beschäftigt. Drüben aber in den eingeschneiten Gewächshäusern blühten und dufteten, dem Winter zum Hohn, Maiglöckchen und Hyazinthen. In die Warmhäuser hatten die jungen Gärtnerinnen jetzt ihr Tätigkeitsfeld verlegt.

Leni wurde zu allem mit herangezogen; allenthalben mußte sie helfend einspringen, und das war ihr so recht. Dadurch wurde ihre Ausbildung nicht einseitig. Denn ohne daß sie es sich zugestehen wollte, empfand sie jetzt doch im innersten Herzen, daß ihr die weibliche Betätigung in Haus und Hof mehr zusagte als die landwirtschaftliche. Aber daran war wohl bloß der Winter schuld; wenn es zum Sommer ging, wurde das sicher wieder anders.

Vorläufig lernte sie, was es zu lernen gab. Sie beteiligte sich, um späterhin nicht mehr auf die Künste der Dorfschneiderei angewiesen zu sein, an dem Schneiderkursus und war stolz, als sie das erste selbstverfertigte Blusenhemd in Händen hielt. Die Zusammenarbeit mit Mieting war dabei eine angenehme Zugabe.

In der Molkerei war sie inzwischen zur Aufseherin emporgerückt. Sie, die sich vor noch nicht zu langer Zeit mit Händen und Füßen gegen die Einführung einer Zentrifugenmaschine auf Nedderdorf gesträubt und dem Verwalter die notwendigen Maßregeln eigensinnig erschwert hatte, lernte jetzt hier auf Klugenhof aus eigener Anschauung, welch ein Nutzen in dem neuzeitlichen Maschinenwesen lag. Da gab es kaum eine Arbeit, die nicht durch Räderwerk vereinfacht und ausgiebiger gestaltet wurde. Mit einer großen grauen Schürze angetan, so stand sie unter ihren sechs Schülerinnen, zeigte, wie die Milch durch die Zentrifuge entrahmt, wie die Butter mittels der Knetmaschine bereitet wurde, und wie man den Fett- und den Magerkäse herstellte.

Oft erwähnte sie auch in ihren regelmäßigen Berichten an ihr Mutting daheim eine besonders zweckmäßige Neuerung. Sie ahnte nicht, daß in der traulichen Gutsstube auf Nedderdorf an den langen Winterabenden die Briefe der Kinder die wichtigste Unterhaltung bildeten, und daß der Onkel Hans mit frohen Augen den Nachrichten aus Klugenhof lauschte. Von Brief zu Brief trat die Schreiberin liebenswürdiger und weiblicher aus den Zeilen hervor. Das stachelige Dornröschen schien in der Tat seine Dornen allmählich dort abzustreifen und zur Edelrose zu werden.

Dies war vor allem dem Verkehr mit fröhlichen jungen Menschen, dem ständigen Zusammensein mit der sanften Mieting und dem segensreichen Beispiel zuzuschreiben, das Fräulein Doktor in ihrer sich stets gleich bleibenden Freundlichkeit den Zöglingen gab. Leni verehrte Fräulein Doktor mit der ganzen Lebhaftigkeit ihres Wesens. Die Anstaltsleiterin pflegte niemals aus ihrer vornehmen Ruhe herauszugehen; selbst bei Unannehmlichkeiten und Verdruß, die in einem so großen Betriebe nicht ausbleiben konnten, verlor sie nicht ihre gute Laune. Nie hatte Leni sie je heftig gesehen.

»Wenn ich doch auch so werden könnte,« dachte sie oft, die immer gleich bei jeder Kleinigkeit lichterloh brannte.

Ohne sich darüber recht klar zu werden, setzte sich der junge Brausekopf die ausgeglichene, abgeklärte Frau zum Vorbild. Auch Fräulein Doktor empfand bald Zuneigung zu dem warmherzigen jungen Mädchen; Lenis ehrliche, gerade Art tat ihr wohl. Ihre Leistungen waren durchaus zufriedenstellend, denn Dornröschen hatte nicht ihr Ziel vergessen, möglichst bald auf Nedderdorf selbständig zu wirtschaften. Alle Schwierigkeiten und Klippen – es waren deren durchaus nicht wenig in den Lehrstunden – überwand sie um dieses Zweckes willen.

Wieviel Kopfzerbrechen machte ihr allein die Buchführung! Die war hier freilich ein wenig anders als ihre Nedderdorfer Wirtschaftsbücher nach eigenen Grundsätzen. Leni mußte unwillkürlich lächeln, wenn sie jetzt daran dachte. Wie Kraut und Rüben hatte sie damals ihre Zahlen durcheinandergesät.

Eine böse Stunde waren auch die Vorträge über landwirtschaftliches Maschinenwesen. Schweren Herzens hatte sie sich dazu entschlossen, diesen Vortragskurs noch in ihren Stundenplan aufzunehmen. Aber Fräulein Doktor hatte ihr dringend dazu geraten.

Onkel Hans wurde glänzend gerächt. So viel land- und hauswirtschaftliche Maschinen hatte er noch lange nicht auf Nedderdorf eingeführt, wie die arme Leni jetzt in ihren Gehirnkasten einführen mußte. Ihr schwirrte der Kopf von all den Rädern und Hebeln, Riemen und Schrauben. Denn ein gut vorgebildeter Landwirt muß wissen, wie seine Maschinen zusammengesetzt sind, im Fall einmal eine versagt und nicht arbeiten will. Aber daß dadurch Dornröschens Liebe für die schwarzen Eisenungetüme nicht gerade wuchs, war ihr nicht zu verdenken.

Auch als Lehrerin hatte Leni gute Erfolge zu verzeichnen. Die jungen Mädchen lernten gern bei ihr. Sie war bei der Arbeit stets lustig und steckte niemals die Vorgesetzte heraus. Im Gegenteil, sie hatte die Genossinnen, die sie als halbe Lehrerin mit »Fräulein Sürsen« anredeten, gleich anfangs gebeten, sie ebenfalls einfach mit dem Vornamen zu rufen, wie das unter ihnen üblich war. Das trug ihr die Zuneigung aller ein.

Viel Mühe und manchen Seufzer bereitete ihr der Schmuck der Mittags- und Abendtafel, für die sie nach wie vor Sorge zu tragen hatte. Die Zierlichkeit in der Anordnung der Geräte hatte sie sich nach einigen Wochen bereits zu eigen gemacht; aber damit war es nicht getan. Fräulein Doktor wünschte, daß der Tisch stets einer Festtafel glich. Da waren sogar zwei junge Mädchen, die sich hierin besonders auszubilden wünschten. Im Frühling und Sommer, ja bis in den Herbst hinein war die Aufgabe nicht allzu schwierig. Die Blumen wuchsen einem ja draußen im Garten zu; es bedurfte nur des persönlichen Geschmacks und Schönheitsinns beim Anordnen. Aber jetzt im Winter war es weniger leicht, den Auftrag auszuführen. Die Treibhäuser durften nicht geplündert werden; das erlaubte der Obergärtner nicht.

Da kam Dornröschen eines Tages – zu ihrer Schande sei es verraten, gerade während eines Vortrags über Drillmaschinen – auf einen feinen Gedanken. Jede Woche wurde ein Preiswettbewerb für den nettesten Tafelschmuck ausgeschrieben; die Zöglinge von Klugenhof setzten nun ihren Stolz darein, den malerischesten und reizendsten auszutüfteln. Dabei kamen manchmal auch recht drollige Vorschläge zur Ausführung. In Ermangelung von Blumen hatte man zu Grünkohl, Blumenkohl, Mohrrüben und Petersilie gegriffen und damit geschmackvolle Beete auf dem Tisch aufgebaut. Nur kam die Nase dabei zu kurz, denn der Kohl duftete nicht gerade lieblich. Mit Tannengrün, das zu jeder Jahreszeit zur Verfügung stand, mit goldgelben Mandarinen und Zitronen ließen sich ungeahnte Wirkungen erzielen. Die lustige Gustel schoß den Vogel ab. Sie schlug vor, die Wein-, Bier- und Selterflaschen durch farbiges Seidenpapier sinnig zu verkleiden. Mit Feuereifer waren alle am Werk. Da erstanden blaue und rosa Wickelkinder, den Kork statt des Lutschpfropfens im Munde, Backfische mit Apfelsinenschalengesicht, die über ein zierliches, aus Zahnstochern gefertigtes Netz den Tennisapfel schleuderten; reizende kleine Japanerinnen mit Rosinenschlitzaugen, den bunten Fächer im Rücken, während ihre Kavaliere Schirme erhielten; Bäuerinnen aus aller Herren Ländern, Kutscher in braunen Mänteln – die Tafel sah ebenso malerisch wie lustig aus.

Das Abdecken der Tische ging jetzt rasch von der Hand, denn die jungen Mädchen brannten darauf, möglichst schnell in den klaren Wintertag hinauszukommen. Die Zeit nach dem Mittagessen gehörte dem Sport.

Hurra! Endlich hatte der Winter sein Meisterstück gemacht und den Karpfenteich mit spiegelblanker Decke versehen. Das Eis trug. Selbst Fräulein Doktor, die mit der ihr anvertrauten Schar sehr vorsichtig war, hatte kein »Aber« mehr.

In langen Ketten, mit blitzenden Augen flogen die jungen Damen über das glitzernde Eis. Die alten Parkbäume standen wie riesige Schneewächter um den versteckten Teich; die blutrote Wintersonne malte die frischen Mädchengesichter mit glühenden Farben.

Dornröschen war begeistert. Seit Jahren hatte sie ihre Schlittschuhkünste nicht mehr ausgeübt; auf Nedderdorf gab es anderes für sie zu tun. Aber nun fühlte sie sich wieder jung und unternehmungslustig. Sie war eine geschickte Läuferin; nur Baroneß Silvia übertraf sie noch als Eiskünstlerin.

Wenn die Baroneß bloß nicht von ihrem Können so eingenommen gewesen wäre! Sie ließ sich nie dazu herab, mit einer anderen zu laufen; auch von den gemeinsamen Ketten und Schlangen hielt sie sich zurück. Bei ihren Tänzen und Kunststücken aber machte sie stets ein Gesicht, als ob sie eine Vorstellung gebe und jedermann die Verpflichtung habe, ihr Beifall zu klatschen. Den Gefallen taten ihr aber die anderen nicht. Das nahm Silvia sehr übel und ließ es durch schlechte Laune und unliebenswürdiges Wesen merken.

Das Verhältnis zwischen ihr und Leni, das sich schon freundschaftlicher zu gestalten begann, hatte seit der Federhutgeschichte wieder einen Knacks bekommen. Das hochmütige Baroneßchen konnte es nicht verwinden, daß man eine Gnade abwies, die es geruht hatte, einer bürgerlichen Sterblichen angedeihen zu lassen.

Dornröschen tat das, was jedermann an ihrer Stelle getan hätte: sie ließ das dumme Ding einfach laufen. Aber bei den verschiedenen Arbeiten war sie verpflichtet, sich mit ihr zu beschäftigen, und da ging es nie ohne »Tanz« ab; das heißt, im übertragenen Sinne, denn der Tanz in den Eimer wiederholte sich nicht.

Es gab im Hause Zentralheizung. Aber in einigen Zimmern standen noch altmodische Kachelöfen in breiter, anheimelnder Behaglichkeit, damit die Zöglinge auch das Anheizen der Öfen erlernen konnten.

Silvia von Heinzenfeld-Wehlow hockte eines Morgens vor dem Ofenloch, mit weißen Wollhandschuhen über den Händen, und rührte sich nicht. Dornröschen, die noch immer kein Lamm war, wenn sie auch durch das widerspenstige Fräulein schon ein gut Teil Geduld gelernt hatte, stand nun schon zehn Minuten erwartungsvoll hinter ihr.

»Silvia, ich muß hinunter in die Ställe; beeilen Sie sich!« Leni begann von einem Fuß auf den anderen zu trippeln.

»Ich mache mit den Kohlen meine Handschuhe schmutzig,« murrte die junge Dame erbost.

»So ziehen Sie die ollen Dinger einfach aus! Fix – fixing!« Leni wurde kribbelig vor Ungeduld.

»Dann mache ich mir die Hände schmutzig.« Bewegungslos wie ein Ölgötze saß Silvia da.

»Dafür gibt es Wasser und Seife!« Nur der Gedanke an Fräulein Doktor, der sie nachzustreben bemüht war, ließ Dornröschen nicht loswettern.

Aber die Baroneß tat, als ob sie nichts gehört hätte.

»Wollen Sie jetzt den Ofen heizen?«

»Nein.«

»Ich will es aber,« rief Leni, und ihre Kornblumenaugen blitzten nun doch in hellem Ärger auf.

»Bitte, so heizen Sie selbst, wenn Sie es durchaus wollen!« Silvia erhob sich mit spöttischem Lächeln.

Leni stand starr. Was – hatte die Krabbe jetzt etwa gar die Keckheit, sich noch obendrein über sie lustig zu machen?

Es zuckte ihr in den Händen; Dornröschen war gewohnt, es bei den Gören daheim mit einem Klaps nicht so genau zu nehmen, und Baroneß Silvia benahm sich wie ein ungezogenes Gör.

»Kommen Sie mit zu Fräulein Doktor,« sagte sie mit zitternder Stimme, die Hände in den Falten ihres braunen Maikäferkleides vergrabend, um der Versuchung zu widerstehen.

»Also klatschen Sie doch!« rief die Baroneß höhnisch.

»Das hat Fräulein Sürsen nicht nötig, denn ich war Zeuge Ihres unerhörten Benehmens.«

Fräulein Doktor trat plötzlich zu den beiden. Silvia wurde blaß und Leni rot. Sie schämte sich für die Baroneß und für sich selbst, daß sie nicht mehr Gewalt über das Mädel gewonnen hatte. Das Ofenheizen aber geschah jetzt in Gegenwart der Vorsteherin ohne Widerrede.

Dornröschen war der Tag durch dieses unerfreuliche Ereignis gründlich verdorben. Nicht einmal der für den Nachmittag in Aussicht stehende Besuch Lizzies und ihres Karling vermochte sie froher zu stimmen.

Man hatte an der Einteilung festgehalten, daß an dem einen freien Sonnabend Leni und Mieting nach Berlin fuhren, am nächsten Base und Bruder nach Klugenhof kamen. Fräulein Doktor empfing gern junge Gäste. Sie hatte auch aus eigenen Stücken den jungen Mädchen angeboten, wenn sie einmal ins Theater gehen wollten, den Wagen später an die Bahn zu schicken. Leider konnte man sich dieses Vergnügen jedoch nur selten gestatten, denn das Theater kostet Geld, und man wollte sparen. Der Zeiger der Jahresuhr rückte auf Weihnachten.

Aber ins Opernhaus mußte Dornröschen doch einmal. Und sie kam grenzenlos enttäuscht heraus.

»Man versteht ja kaum ein Wort vor der dämlichen Musik,« rief sie ärgerlich, während die anderen noch in den Klängen des Gehörten schwelgten. –

Karl Heinz studierte eifrig; nebenbei hatte er sich zum Ritter seiner hübschen Base aufgeschwungen. Er nahm an der im Töchterheim stattfindenden Tanzstunde teil und lief bei der Rousseauinsel mit ihr und ihren Pensionsschwestern Schlittschuh. Nur nannten die losen Mädel ihn und seine Studiengenossen von der landwirtschaftlichen Hochschule die »Viehmusen«.

Leni ging allein zur Bahn, um ihre Gäste zu holen, da Mieting unbedingt noch schreiben mußte. Deren Brautbriefe waren das einzig Störende in dem innigen Beisammensein der Freundinnen. Selbst auf den Eislauf verzichtete Mieting gern, wenn es galt, an ihr Fritzing zu schreiben. Das war Dornröschen geradezu unbegreiflich.

»Schwesting, so miesepetrig? Wo ist dir denn die Petersilie verhagelt?« Karl Heinz sah sofort bei der Begrüßung, daß sein Dornröschen nicht so lustig war wie gewöhnlich.

Leni berichtete von ihrem Ärger; das Aussprechen gegen ihr nahestehende Menschen brachte sie am schnellsten über ihren Unmut hinweg.

Karl Heinz zog ein ziemlich unsauberes Schreiben hervor.

»Ich habe heute diesen Brief von den Brüdern erhalten. Nichts als Dummheiten hat die Bande im Kopf. Da haben sie nun bei einem Primaner Nachhilfestunden in Rechnen und Latein, und was machen die Stricke? Erst läßt sich Hans vor Beginn der Stunde in den Kleiderschrank sperren, und Franz tut, als ob er ahnungslos sei, wo sein sauberer Bruder steckt. Nach Verlauf einer Viertelstunde, für die Mutting doch bezahlen muß, fangen plötzlich die Klopfgeister an, sich im Schrank bemerkbar zu machen. Hans wird von seinem ›Rechenjüngling‹, wie er den Primaner frechdachsigerweise benennt, hervorgezogen und bestraft, und nun beginnt eine wilde Prügelei zwischen Lehrer und Schülern. ›Wir haben ihn vertobakt, aber dölling,‹ schreibt der Schlingel. Da lies selbst, Dornröschen! Ich habe den beiden den Standpunkt schon klargemacht. Brüsten sich noch mit ihren Streichen, weil sie wissen, daß mein Arm nicht bis Rostock hinlangt!«

Lächelnd vertiefte sich Leni in die Berichte der Rangen von Nedderdorf und vergaß darüber ihren eigenen Kummer. Karl Heinz hatte seinen Zweck erreicht, Leni auf andere Gedanken zu bringen, denn wenn sie auch über die Nichtsnutze zankte, in der Ferne erschien es ihr in milderem Licht, so daß sie an manchen Stellen des Schreibens hellauf lachen mußte.

Aber auch Baroneß Silvia gegenüber rächte der gute Jung seine Schwester. Lizzie und Karl hatten ihre Schlittschuhe mitgebracht; so war der Eislauf für Leni ein doppeltes Vergnügen. Dabei besaß die Base eine besonders nette Art jungen Mädchen gegenüber. Trotzdem die Zöglinge von Klugenhof älter waren, mochten sie doch alle Lizzie gern.

Karl Heinz war als einziger Herr natürlich gern gesehen. Er forderte auch alle jungen Damen zum Laufen auf, nur eine nicht, trotzdem diese eine tausendmal besser lief als alle die anderen und ihre schönsten Tänze und Bogen zum besten gab. Aber so sehnsüchtig auch Baroneß Silvia zu der ausgelassenen Schar hinäugte, der Herr Student tat, als ob sie Luft wäre. Das war eine starke Demütigung für die selbstbewußte junge Dame und eine gerechte Strafe.

Baroneß Silvia gab ihre schönsten Tänze und Bogen zum besten.

Die Unterhaltung drehte sich hauptsächlich um die bevorstehenden Weihnachtsferien.

»Also wir reisen alle vier zusammen am zwanzigsten; das soll eine lustige Fahrt geben und herrliche Ferien,« sagte Karl Heinz.

»Kinnings, ich freu' mich ja bannig!« Mieting, die würdige Braut, vollführte einen Luftsprung.

»Heute habe ich unserer Vorsteherin die Erlaubnis zur Reise abgebettelt; sie wollte es erst nicht recht zugeben, weil ich kaum ein Vierteljahr in der Pension bin. Wie freue ich mich, mein liebes Nedderdorf wiederzusehen!« rief Lizzie jubelnd.

Dornröschen sagte gar nichts, aber ihr Gesicht strahlte. Es war ihr doch manchmal recht bange nach ihrem Mutting und Lütt Susing.

»Den zweiten Feiertag müßt ihr alle nach Staveneck kommen,« sagte Mieting und begann Pläne zu schmieden.

»Hoffentlich ist Schneebahn, daß wir mit dem Schlitten fahren können; ich kutschiere.« Karl Heinz schnalzte bereits mit der Zunge.

»Nee, du wirfst um! Laß man lieber meinen Schwager Hans fahren; der versteht das Ding,« ereiferte sich Mieting.

Richtig, der war ja auch auf Nedderdorf! Über Dornröschens eben noch strahlendes Gesicht flog ein leichter Schatten. Es überkam sie ein unbehagliches Gefühl, wenn sie daran dachte, wie häßlich sie sich oft gegen den Verwalter benommen hatte.

»Ich muß vor allen Dingen noch mit Fräulein Doktor sprechen, ob sie mich Weihnachten entbehren kann.« Damit lenkte Leni ihre Gedanken auf ein anderes Gebiet.

Nach dem Abendbrot brachte man die Sache zur Sprache.

»Sie möchten natürlich viel lieber Weihnachten auf Klugenhof bleiben,« sagte Fräulein Doktor scherzend, »aber leider kann ich Sie hier nicht gebrauchen. Die jungen Damen verlassen mich alle treulos; ich selbst fahre zur Silberhochzeit einer Freundin. Nur unsere alte Müllern bleibt hier zurück.«

Dornröschen zog dankbar die Hand der gütigen Vorsteherin an die Lippen. Jetzt erst, da sie überzeugt sein durfte, keine Pflicht zu versäumen, freute sie sich so wie die anderen und wünschte, es wäre nur erst so weit.


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