Else Ury
Dornröschen
Else Ury

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Ausgelacht

Am nächsten Tage stand Dornröschen, wieder im Anzuge des Bruders, im Eßzimmer, das zwei Fenster nach dem Garten und eines nach dem Hofe hatte. Drüben an dem großen Stiefmütterchenbeet jagten die Zwillinge und Suschen Schmetterlinge. Unbarmherzig traten sie dabei mit ihren breiten Jungenstiefeln auf die gestern erst gesetzten Primelpflänzchen. Es tat Leni geradezu weh, wie ihre Pfleglinge achtlos niedergestampft wurden.

»Jungs« – sie lehnte sich aus dem Fenster »wollt ihr woll!« Aber sie fuhr sogleich erschrocken zurück. Sie hatte in der Glasscheibe ihr Jünglingsbild entdeckt. Eigentlich hätte sie die Brüder selbst heraufholen müssen, denn auf bloßes Rufen erschienen die noch lange nicht. Die Aufgaben für den Herrn Kantor waren sicher auch nicht gemacht. Aber auf dem Hof waren Knechte mit Ackergeräten beschäftigt, und wenn die Jungen sie das erstemal in ihrer Hosenrolle erblickten, gab es sicher ein Hallo. Nein, bloß nicht vor dem Gesinde! Die Brüder sollten sich hier oben erst an ihren Anblick gewöhnen. So dachte Leni, und doch war es im Grunde nichts anderes als mädchenhafte Scham, was sie zurückhielt. Auch nach den neuen Arbeitern zu sehen, schob sie von Minute zu Minute auf, trotzdem es notwendig war.

Seufzend machte sie sich an ihren Strumpfkorb.

Wie am Tag zuvor flog die Nadel hin und her, bis Leni von ungefähr den Kopf ein wenig hob und geradeaus starrte. Aber was sie dort in dem schrägen Spiegel über dem Sofa gewahrte, war so merkwürdig, daß sie hellauf lachen mußte.

Da saß ein schneidiger junger Mann, die Beine übereinandergeschlagen, und stopfte eifrig Strümpfe. Ein lächerlicher Anblick war es, etwas Halbes, nicht Fisch, nicht Fleisch. Leni schleuderte Fränzchens Strumpf verächtlich zu seinen Gefährten in den umfangreichen Korb.

Halbheit war ihrer kernigen Natur immer ein Greuel. Nein, was sie war, wollte sie auch ganz sein – was sie sich einmal vorgenommen hatte, mußte sie durchführen! Schnell entfernte sie die blauen Wollrestchen von den Beinkleidern, damit sie ja nicht zum Verräter wurden.

Dann eilte sie herzklopfend die Treppen hinab in den Hof. Warum mußte der auch so hell, so grell und sonnenbeschienen daliegen! Die Sonne blinzelte; sie kniff ein Auge ein, als das Fräulein Inspektor mit dem grauschwarzen Pfeffer- und Salzanzug da plötzlich in ihren hellen Lichtkreis trat.

Dasselbe taten auch Jürgens und Cäsar. Sie blinzelten, kniffen ein Auge zu und gingen beide kopfschüttelnd um ihr seltsam verwandeltes Frölen herum. Die Knechte aber verbargen die breiten, grinsenden Gesichter hinter den Leiterwagen, stießen sich mit den Ellbogen an und raunten sich vergnügliche Dinge zu.

Das Fräulein Inspektor achtete nicht auf die verwunderten Blicke Cäsars und Jürgens, noch auf die ihre Köpfe zusammensteckenden Knechte.

»Sattle mir ein Pferd,« befahl sie dem Alten.

»Jawoll, gnädiger Herr – gnädig Frölen wullt ick seggen,« Jürgens umkreiste sie wie die Hummel den Honig.

Jochen, Johann und Krischan, die Knechte, brachen in schallendes Gelächter aus; selbst der Ackergaul, den Krischan gerade unter der Bürste hatte, wieherte hell auf, Lenis Gesicht färbte sich puterrot.

»Was gibt es zu lachen?« herrschte sie die Knechte an, daß die schleunigst in den Pferdeställen verschwanden, »Man bischen tau, Jürgens! Ich hab' nich viel Tid (Zeit) – fixing, fixing!«

Sie trippelte ungeduldig hin und her. Das sah in der Herrenkleidung allerdings etwas seltsam aus; es war Jürgens nicht zu verdenken, daß er sich nicht von seinem Staunen erholen konnte und das Frölen in ungeheurer Verwunderung immer noch von allen Seiten betrachtete,

»Wat läufst du denn um mich rümmer wie so 'n oller Dreschgaul?« Dornröschen war es schließlich auch nicht zu verdenken, wenn sie ärgerlich wurde.

»Je, Frölen Lening – gnädiger Herr – nee, gnädig Frölen –« Jürgens fand sich nicht ein, nicht aus.

»Na wat denn?«

»Je, gnädiger Herr, dat is man, ob dat Frölen Herren- oder Damensattel befehlen dauht.«

Leni wurde noch ein wenig röter als puterrot. Mit diesen Folgen ihrer Verwandlung hatte sie nicht gerechnet. Aber hatte sie A gesagt, mußte nun auch das B folgen.

»Herrensattel natürlich,« sagte sie in einem Tone, als ob dies das selbstverständlichste Ding von der Welt sei, während ihr im Innern doch recht erbärmlich zumute war. »Sattle mir Vatings Fuchs, fixing!«

Der Gaul wurde herausgeführt und von Jürgens umständlich umgürtet.

Da erschien Susings goldener Lockenkopf an der Scheunenecke. Die Kleine trug behutsam ein Körbchen mit Puppenwäsche, das sie auf dem Rasen neben Gustings großer Wäsche zum Bleichen spreiten wollte.

Lenis erste Empfindung war, schleunigst Fersengeld zu geben und in den Tiefen der Milchkammern unterzutauchen; aber dann blieb sie. Sie durfte nicht Reißaus nehmen.

Suschen stand starr und riß die großen Blauaugen noch weiter auf als gewöhnlich. Ein fremder Herr – war das Karl Heinz? Nein – aber er kam ihr doch so merkwürdig bekannt vor! Für alle Fälle knickste die Kleine wohlerzogen.

»Aber, Susing, kennst du denn dein Dornröschen nicht mehr?« versuchte Leni zu scherzen.

Da kam Leben in Lütt-Susing. Jauchzend sprang sie auf die verwandelte Schwester zu, kletterte an ihr empor und versuchte unter den Hut zu schauen.

»Was willst du denn, Mädel?« Leni machte sich etwas ungeduldig los, denn solchem Ansturm hielt Karl Heinzens Anzug denn doch nicht mehr stand.

»Biste nu 'n Junge? Haste nu auch keine Zöpfe mehr? Haste nu 'n Kahlkopf?« Suschen umkreiste händeklatschend, ähnlich wie vorhin Jürgens und Cäsar, nur ein gut Teil lebhafter, ihr Dornröschen.

»Schscht, mach nicht solchen Krach!« Zum ersten Male empfand Leni ihrem kleinen Liebling gegenüber einen unfreundlichen Gedanken, denn hinter den Stallfenstern lugten schon wieder neugierige Gesichter hervor. »Wo sind die Jungs?« forschte sie, das Pferd am Zügel führend, denn sie schämte sich, es vor den grinsenden Knechten zu besteigen.

»Die – och – die – die sind bloß so 'n büschen spazieren gegangen.« Die Kleine wurde dunkelrot und drehte das Gesicht nach der anderen Seite.

»Wo sind sie hin?« Der großen Schwester machte man so leicht nichts vor.

»Sie sind zum Dorfteich krebsen gegangen,« kam es ziemlich kleinlaut von den Kinderlippen. »Aber wenn du was merkst, soll ich man bloß sagen, sie wären ganz fixing wieder da. Hast du was gemerkt, Dornröschen?« Treuherzig blickte das kleine Dummchen zu ihr auf.

Liebkosend strich Leni den lichten Flachskopf. Dann aber gedachte sie ihrer erzieherlichen Würde und zog die Stirn in ernste Falten. Da verleiteten diese Schlingel jetzt schon ihr Herzblatt zur Unaufrichtigkeit! »Na, kommt ihr mir man tau Hus (nur nach Hause)!«

Der Fuchs war gesattelt; es gab kein Zurück mehr. Dornröschen trat auf die Steintreppe und schwang sich von dort möglichst großartig in den Sattel.

Ja, prosit Mahlzeit! So einfach war die Sache denn doch nicht! In der Kinderzeit, da war sie zwar oft als Junge geritten, auf ungesattelten Ackergäulen. Trotzdem sie eine geübte Reiterin war, machte es ihr jetzt Mühe, im Sattel zu bleiben.

Wenn nur diese grinsenden Gesichter der Knechte nicht gewesen wären! Der Gaul fühlte ihre Unsicherheit. Sie gab ihm die Sporen, aber Vatings Fuchs hatte gerade so seine Nücken wie seine Reiterin. Wenn der nicht wollte, dann wollte er eben auch nicht. Kerzengerade stieg er mit ihr in die Luft.

Suschen brüllte wie am Spieß. Jürgens griff erschrocken zu. Aber schon hatte Leni Vatings Lieblingsgaul durch Streicheln und Klopfen wieder gefügig gemacht. Die Zügel fest in der sonnengebräunten Hand, so sprengte sie in tadelloser Haltung davon.

Hinter ihr schüttelte Jürgens philosophisch seinen Graukopf.

Was wohl Miß Brown, die sich einst in London solche Mühe gegeben hatte, ihren Zögling zur Weltdame zu erziehen, zu diesem unweiblichen Ritt sagen würde? Unwillkürlich kam Leni dieser Gedanke, während es zwischen den sonnenhellen Feldern dahinging.

Draußen auf dem Vorwerk waren die neuen Tagelöhner fleißig bei der Arbeit. Sie pflügten das Erdreich um.

Lenis Herz schlug jetzt bis in den Hals hinein. Lieber Himmel, wenn man sie bloß nicht erkannte!

In strammem Galopp ritt sie auf die Feldarbeiter zu. Nun kam die Ansprache.

»'n Tag, Leute,« sagte sie mit möglichst tiefer Stimme, die schon an und für sich durch die Aufregung ein wenig belegt und heiser klang. »Na, fleißig bei der Arbeit?«

Die Tagelöhner sahen erstaunt auf und rückten nachlässig an ihren Mützen.

»Wat 'n lütten smucken Slingel,« raunte ein alter Graubart schmunzelnd seinem Nachbar zu.

Warum mußte Dornröschen auch so gute Ohren haben! Jetzt galt es, ihre ganze Kraft zusammenzunehmen, um auf die Untergebenen Eindruck zu machen.

»Ich bin euer neuer Herr!« – das Herr kam recht wenig herrisch heraus – »und hoff, daß ihr mit gutem Willen zu mir gekommen seid. Ich bring' euch ebenfalls freundliche Gesinnung entgegen, und da denk' ich, daß wir gut miteinander auskommen werden!«

Lenis Stimme war zuletzt wieder hell und hoch geworden; über ihrer schönen Rede hatte sie völlig vergessen, daß sie ja tief und männlich sprechen mußte.

Die Arbeiter lächelten wohlgefällig zu den großen Worten des »lütten niedlichen Herrn«, denn Dornröschen sah in den Jungenkleidern viel jünger aus als in den eigenen,

»Na, lütt junger Herr, dat soll woll so sind!« Damit reichte der Älteste von ihnen ihr treuherzig die Hand herauf.

Das »lütt« war Leni zwar wie ein Peitschenhieb durch den Körper gezuckt, aber der feste Druck der schwieligen Arbeiterhand wirkte besänftigend. Die Leute meinten es sicher nicht bös; sie schienen in der Tat guten Willen und Zutrauen zu haben.

Mit einem tiefen Atemzug wandte Leni ihren Gaul. Sie war mit ihrem ersten Auftreten zufrieden.

Ja, warum mußte Dornröschen auch so gute Ohren haben! Denn hinter sich, da hörte sie es deutlich zischeln: »Pst – Kinnings, ick will euch mal wat seggen (sagen)! Dat is jo gor keen Er, dat is jo eine Sie! Kiekt (seht) doch dat lange Haar, wat da unter den Hut vorkieken dauht!«

Entsetzt griff Leni nach Karl Heinzens Hut. Da hatte sich eine ihrer prachtvollen braunen Flechten naseweis vorgeschoben!

Unterdrücktes Lachen scholl hinter ihr her, Leni aber traten Tränen in die Augen. Diese jämmerliche Niederlage, die war ja noch viel schlimmer als jede frühere! Ach, wie recht hatten Mutting und Dörthe! Sie stopfte den schuldigen Zopf unter den Hut zurück, daß es schmerzte.

In gereizter Stimmung ritt sie zum Hof zurück. Er war leer. Keiner der Knechte ließ sich blicken.

»Natürlich, die bummeln schon wieder im Dorf herum, weil keine Ordnung hier herrscht,« dachte Leni erbittert.

Eigenhändig mußte sie den Fuchs in den Stall führen, denn auch von Jürgens war nichts zu entdecken. Als sie aus den dämmerigen Stallungen wieder heraustrat, hörte sie sich anrufen.

»Pst – Sie da – Sie Jüngling! Ist denn keine Menschenseele hier zu finden?«

Zuerst dachte Leni gar nicht daran, daß dieser Zuruf ihr gelten könnte. Aber da außer ihr und dem Fremden, der inzwischen in den Hof getreten sein mochte, niemand weiter da war, mußte sie sich trotz ihrer verdrießlichen Laune dazu bequemen, Antwort zu geben.

»Was wünschen Sie denn?« fragte sie durchaus nicht freundlich und musterte den vor ihr Stehenden abweisend. Wo hatte sie diese hellen Haare und diese lichtblauen Augen bloß schon gesehen?

»Ich wünsche die gnädige Frau zu sprechen. Sagen Sie mal, mein Sohn, gibt es denn hier keine dienstbaren Geister, die einen hineinführen?«

Der stattliche junge Herr, dem Leni knapp bis zur Schulter reichte, trotzdem sie durchaus nicht klein war, sah recht von oben herab auf sie nieder.

Leni durchfuhr es jäh. Das war ja der Fremde, der jüngst ihrer stürmischen Auseinandersetzung mit dem Inspektor beigewohnt hatte! Was wollte denn der hier?

»Die gnädige Frau empfängt nicht jeden.« Damit machte sie kehrt und ließ ihn einfach stehen.

Aber unsanft fühlte sie sich bei der Schulter gepackt.

»Hallo, Bürschchen, etwas weniger grob, wenn ich bitten darf, sonst . . .!« Die Röte des Ärgers flog dem Herrn über die Stirn.

»Wagen Sie es!«

Leni zischte ihn förmlich an. Dann schritt sie vor Entrüstung bebend dem Hause zu.

Der Fremde folgte. Aber als der kriegerische Jüngling jetzt eine Pfütze überschritt und vergebens hinter sich mit der Hand in der Luft herumangelte, um den nicht vorhandenen Kleiderrock zusammenzuraffen, wie er es als ordentliches Mädchen gewöhnt war, stieß der Fremde plötzlich einen belustigten Schnalzlaut durch die Zähne. Er hatte das Dornröschen von neulich erkannt.

Mit drei Schritten war er neben ihr und gerade in dem Augenblick, da sie durch die Hintertür ins Haus flitzen wollte, vertrat er ihr den Weg.

»Hut ab, mein Sohn! Höflichkeit kann solch junger Mann nicht früh genug lernen!«

Mit spitzbübischem Lächeln zog er ihr dabei Karl Heinzens Hut vom Kopf. Da kam ein verlegenes, hilfloses Mädchengesicht, vom glänzendbraunen Flechtenkranz gekrönt, über dem schwarzgrauen Jungenanzug zum Vorschein.

»Hut ab, mein Sohn!«

Hellauf lachte der Fremde.

»Wer selbst nicht genügend Lebensart besitzt, ist wohl nicht dazu geeignet, sie anderen Leuten zu predigen,« rief nun Leni empört, und die Kornblumenaugen sprühten wahre Blitze gegen den Fremden.

Da schlug der soldatisch seine Hacken zusammen.

»Johannes von Staberow!« Mit einer tadellosen Verbeugung schnurrte er es herunter.

Dornröschen glaubte vor Beschämung in den Erdboden versinken zu müssen.

Mietings Schwager – der vom Vormund vorgeschlagene Verwalter! Den sie so grob behandelt hatte, und der sie gerade in diesem so wenig mädchenhaften Aufzug erblicken mußte!

Wenn noch irgend etwas dafür gesprochen hätte, sich Herrn Dürenfurts Absicht betreffs der Verwalterstelle gefügig zu zeigen, jetzt war es damit gründlich vorbei.

»Vielleicht hat Ihre Frau Mutter die Güte, mich zu empfangen, wenn sie auch nicht für jeden zu sprechen ist,« fuhr der junge Herr von Staberow fort.

»Bitte!« Das junge Mädchen trat von der Tür zurück.

»O nein, nach Ihnen! So wenig Lebensart habe ich denn doch nicht!«

Es half nichts, Dornröschen mußte voran. Ach, viel lieber wäre sie in ihrer Herrenkleidung hinterdrein getrabt!

Der große Pfeilerspiegel im Empfangszimmer gab jetzt nicht mehr das Bild eines schneidigen, unternehmungslustigen jungen Mannes zurück, wie vor kurzem, sondern das eines recht geknickten Jungchens, das sich in den ersten langen Hosen ziemlich unbehaglich zu fühlen schien. Unglücklicherweise mußte sie sich auch noch gerade dem Spiegel gegenüber setzen; sowie sie die Augen hob, erblickte sie ihr wunderliches Spiegelbild. Da zog sie es vor, die Lider möglichst gesenkt zu lassen. Das gab dem Jüngling ein drollig-mädchenhaft-schüchternes Aussehen.

Mutting unterhielt sich inzwischen mit ihrem Besuch. Mit dem alten Staberow verbanden sie Jugenderinnerungen, und sein Sohn war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Längstvergessene Kindheits- und Mädchentage erstanden wieder vor Frau Lisabeth, röteten leis ihre bleichen Wangen und machten ihre müde Stimme ein wenig klangvoller. In bescheidener Zurückhaltung lauschte der junge Mann ihren Erzählungen, trotzdem ihn diese eigentlich nicht besonders interessieren konnten. Der Anblick dieser weißhaarigen Frau, die das Schicksal so ins innerste Mark getroffen hatte, schmerzte ihn.

Leni starrte auf das künstlich verschlungene Muster des buntgewirkten Teppichs und überlegte kleinlaut, mit welcher Entschuldigung sie wohl entwischen könnte, um sich flink umzuziehen.

Aber nein! Damit man etwa dachte, sie schäme sich? Nein, gerade nicht! Ihr Trotz erwachte. Sie blieb und sprach keinen Ton.

Schließlich rückte Johannes von Staberow mit dem eigentlichen Zweck seines Gesuches heraus. Herr Dürenfurt, der künftige Schwiegervater seines Bruders, habe ihm gesagt, daß man auf Nedderdorf einen Verwalter suche. Er wäre bereit, den Posten eines solchen zu übernehmen, und wollte sich deshalb der gnädigen Frau vorstellen.

Ehe Frau Lisabeth noch sagen konnte, wie angenehm es ihr sei, einen Sohn ihres Jugendfreundes mit diesem Posten zu betrauen, kam Leni Mutting recht ungehörig zuvor.

»Das ist ein Irrtum von Herrn Dürenfurt,« rief sie so abweisend wie möglich.

»Sie haben doch Ihren Inspektor entlassen, wie ich selbst zu hören die Ehre hatte,« versetzte Herr von Staberow erstaunt.

Leni biß sich auf die Lippen und ärgerte sich.

»Meine Tochter hat bisher die Bewirtschaftung des Gutes übernommen; aber das ist zu viel für sie,« sagte nun Frau Sürsen. »Nedderdorf verlangt eine männliche Leitung. Ich bin durchaus nicht abgeneigt, Ihrem freundlichen Vorschlag näher zu treten.«

Lenis Lippen begannen zu bluten, so zornig biß sie darauf herum.

»Es sollte mich freuen, wenn ich Ihnen als Volontär von Nutzen sein könnte, gnädige Frau – –«

»Geschenkt nehmen wir nichts, und ich bin Manns genug, die Wirtschaft allein zu leiten,« fuhr Dornröschen wie ein junger kläffender Dachs dazwischen.

»Namentlich augenblicklich,« gab der unerwünschte Besuch mit einem nicht mißzuverstehenden Blick auf des Bruders Anzug zurück.

Das war natürlich nicht dazu angetan, Lenis Neigung für den Vorschlag des Vormundes zu fördern. Sie atmete auf, als sich der Besuch endlich verabschiedete.

»Das gnädige – Fräulein« – das Wort schien ihm angesichts des empörten Jungen nicht recht über die Lippen zu wollen – »wird sich hoffentlich Herrn Dürenfurts Vorschlag noch überlegen; ich halte mich jedenfalls zum ersten Juli frei.«

Damit küßte Johannes von Staberow ehrfurchtsvoll Frau Sürsen die Hand und machte Dornröschen einen Diener. Leni erwiderte ihn durch eine gemessene Verbeugung, die sich in des Bruders Hosen merkwürdig genug ausnahm.

»Ich verstehe dich gar nicht, Dirn,« begann Mutting ziemlich ungehalten, nachdem das Rad des Herrn von Staberow in der Kirschenallee verschwunden war. »Erstens – wie konntest du in diesen unmädchenhaften Kleidern Besuch empfangen? – Zweitens wie unerzogen und unfreundlich hast du dich einem Gast gegenüber gezeigt! Und dann, was hast du eigentlich gegen Herrn Dürenfurts Vorschlag? Es ist doch ein netter Mensch, dieser junge Staberow, und wenn er sonst tüchtig ist, müßten wir mit beiden Händen zugreifen!«

»Und ich will nicht – ich will nicht! Mutting, leiw (lieb) Mutting, nu hab' ich mich die ganze Zeit abgequält und abgerackert, und nu bin ich endlich so ziemlich im Sattel – da soll denn so 'n ixbeliebiger Herr ›von‹, dem man die hochnäsigen Nücken schon auf zehn Schritt Entfernung ansieht, plötzlich hier schalten und walten? Nein, Mutting, das tust du mir nicht an!« Die unreife Leni streichelte und schmeichelte, wie sie es als lüttes Gör mit ihrem Mutting getan.

»Du büst 'n Kindskopp, Dirn.« Frau Lisabeth verstand ihre Tochter nicht; von Hochnäsigkeit und Nücken war doch bei dem bescheidenen jungen Mann wahrhaftig nichts zu merken.

Dornröschen war unzufrieden – mit Mutting, mit dem hereingeschneiten Besuch, mit den neuen Arbeitern, den sich noch immer umhertreibenden Brüdern und mit sich selbst! Mit sich am allermeisten!! Sie hätte sich für den ihr noch kürzlich so großartig erscheinenden Gedanken einer Verwandlung in Karl Heinz prügeln können.

Aber da man das an sich selbst im allgemeinen nicht zu tun pflegt, macht man das lieber auf dem Rücken eines anderen ab. Hänschen und Fränzchen, die, bis über die Knie voll Morast und Schlamm, vom Krebsen heimkehrten, kamen ihr zu diesem Zwecke höchst gelegen.

Dornröschen hatte gerade noch Zeit, flink eine große Ärmelschürze über ihren Anzug zu binden, um den spöttischen Knabenaugen keinen Lachstoff zu geben. Aber als sie die Brüder jetzt gehörig heruntermachte, als sie für die nicht angefertigten Aufgaben und für die verdorbenen Kleider immer umschichtig Katzenköpfe austeilte, schrie der eine plötzlich zwischen allem Weh und Jammer »Dornröschen, du verlierst ja deine Büxen (Beinkleider)!«

Da wanderte der Jungenanzug wieder in die Tiefen des Bodenschrankes zurück, denn an all ihrem heutigen Mißgeschick, an allen Niederlagen und beschämenden Empfindungen waren nur – Karl Heinzens Beinkleider schuld!


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