Else Ury
Dornröschen
Else Ury

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Karl Heinz

Friedlichere Zeiten folgten. Schritt für Schritt lernte Leni wieder ihren Fuß auf das ihr seit Jahren fremd gewordene Geistesgelände setzen. Es war ein mühsamer Weg. Oft erlahmte ihre Spannkraft; oft mußte sie sich ermüdet ein wenig am Wegrain niedersetzen und ausruhen; gar oft auch war sie versucht, mutlos umzukehren oder den »ganzen Krempel« über den Haufen zu rennen.

Viel Schönes sah Leni auf ihrem Wege. Sie wandelte mit dem jungen Tasso unter Italiens blauem Himmel, sie hörte die heiligen Fichtenhaine Iphigeniens über sich rauschen. Der Waffenlärm der Niederlande klirrte ihr ans Ohr, und Hamlets bleiches Gesicht gab ihr das Geleite. Die Wundergärten der Poesie taten sich vor Dornröschens lang geschlossenen Augen auf; sie grünten und blühten ihr zur Seite. Aber auch manchen Berg galt es in angestrengter Arbeit zu erklimmen. Die bildende Kunst der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit türmten sich als schier unüberwindliche Riesen ihr entgegen. Da war es Mutting, die ihrer Leni eine treue Weggenossin auf der anstrengenden Wanderschaft wurde.

Seit jenem Abend, da es Frau Lisabeth zum erstenmal klar wurde, daß sie um des Toten willen ihre Pflichten den Lebenden gegenüber vernachlässigt habe, war sie eine andere geworden. Sie hatte sich selbst und ihre einstige Willenskraft wieder gefunden. Mit festem Wollen überwand sie die noch von Zeit zu Zeit sich einstellende Niedergeschlagenheit; sie wurde wieder die Mutter ihrer Kinder, die Seele des Hauses.

Als sie zum erstenmal seit langer Zeit wieder das Kinderzimmer betrat, da hielten die wilden Rangen mitten im kraftvollsten Boxen inne. In Suschen, die sonst vor der schwarzen, traurigen Frauengestalt ihr kleines Herz in beklemmender Scheu zurückgezogen hatte, wurde es hell und warm. Mit einem Jubellaut, der Frau Lisabeth durch und durch ging, sprang ihr die Kleine entgegen.

»Biste nu wieder unsere richtige Mutting und kommste abends nu wieder an mein Bettchen beten?«

Frau Lisabeth stieg es feucht in die Augen. Aber das waren andere Tränen als die bisher vergossenen. Sie fühlte, wie das Kind trotz aller Liebe der Schwester nach der Mutter verlangt hatte. Sie nickte und streichelte stumm den Blondkopf.

»Warum rauft ihr?« fragte sie die Jungen nach einer Weile, als ihr die Stimme wieder gehorchte.

Die trotzigen Knabengesichter senkten sich. Selbst Hans, der nie um eine Antwort Verlegene, schlich sich still an seinen Arbeitstisch. Die Ehrfurcht vor dem großen Schmerze der Mutter hielt die kleinen Vagabunden noch im Bann. Da sah Frau Lisabeth, daß sie auch hier mit einem Wort mehr ausrichten konnte, als Dornröschen mit all ihrem Schelten und Strafen.

Dörthe, die gute Alte, glaubte einen Geist zu erblicken, als die Herrin plötzlich in den Wirtschaftsräumen auftauchte, die sie seit dem Tode des Gatten nicht mehr betreten hatte. Dann aber frohlockte sie. Hatte sie es nicht gewußt, daß die neunerlei Kräuter, die sie in der Johannisnacht in die Kohlenglut warf, alles Unglück durch den Schornstein auffliegen lassen würden? Ihr allein war diese wunderbare Heilung der Frau zu danken! Aber Dörthe war bescheiden; sie brüstete sich nicht mit ihrem Erfolg, wenigstens nicht vor der Herrschaft. In der Gesindestube freilich verlangte sie volle Anerkennung. Wehe dem Knecht, der es wagte, über ihre geheimnisvolle Kur zu lächeln oder sie gar damit aufzuziehen! Der bekam sicher das kleinste Stück Fleisch aus der Schüssel.

Nun führte also Frau Lisabeth wieder das Zepter in Küche und Keller; aber sie mußte sich erst an das neue Sparsamkeitssystem gewöhnen. In früherer Zeit war auf Nedderdorf alles aus dem Vollen gegangen. Gar oft mußte Mutting jetzt ihre Zuflucht zu ihrer Lening nehmen, wenn das Wirtschaftsgeld nicht hin, nicht her reichen wollte.

Dornröschen befand sich im Zwiespalt der Gefühle. Sie hatte soviel Grund, dem lieben Gott dankbar zu sein, daß er ihre innigsten Wünsche erfüllt, daß er die trüben Augen ihrer Mutter wieder hell und klar gemacht und der seelisch Müden frischen Lebensmut eingehaucht hatte. Und wenn Dornröschen die Blicke von ihrem Turmfenster über die gemähten Felder zu den sich füllenden Kornspeichern wandern ließ, dann hatte sie wiederum Grund, ihrem Geschick dankbar zu sein. Es ging sichtbar vorwärts mit dem Erbe des Bruders.

Aber wir Menschen sind ja leider nur selten zufrieden! Ist das, was wir mit ganzer Seele erhofften, nun wirklich eingetreten, in einem Winkelchen des Herzens wird immer noch ein kleines Aber kauern, irgend eine Einschränkung des endlich in den Händen gehaltenen Glückes.

Bei Dornröschen war dieses Aber durchaus nicht so winzig. Ja, es wuchs von Tag zu Tag, bis es in ihrem Herzen kaum noch Platz für das Glücksgefühl ließ.

Leni kam sich jetzt wieder einmal überflüssig vor. Drunten in den Wirtschaftsräumen schaltete und waltete Mutting. Sie hatte die Vorratskammern in ihre Obhut genommen; sie überlegte den Speisezettel für die Woche gemeinsam mit Dörthe und trug das Schlüsselbund, das Abzeichen der hausfraulichen Würde, wieder wie einst am Schürzenband. Als Leni der Mutting den Schlüssel zum Linnenschrank einhändigte, da hatte sie das gleiche bittere Gefühl wie etwa ein kriegsgefangener Offizier, der seinen Degen abliefert.

Auch bei den Gören spielte Mutting jetzt, wie es ja nur natürlich war, wieder die Hauptrolle. Die Jungen waren artiger und wagten keine offenen Widersetzlichkeiten mehr. Der alte Kantor wunderte sich, daß sie ihre Aufgaben, wenn auch fehlerhaft, doch immerhin machten.

Lütt Susing hatte sich wie einst ihren Spielwinkel neben Muttings Nähtisch eingerichtet. Das kleine Ding umfaßte mit ihrer großen Liebe jetzt alle drei: Mutting, Dornröschen und Onkel Hans. Es blieb für jeden genug von ihrer kindlichen Zärtlichkeit. Aber als Dornröschen eines Abends an Susings Bettchen zum Gutenachtkuß trat und die Kleine darauf bestand: »Nee, Mutting soll zum Beten kommen,« da kamen Leni bittere Tränen über die vermeintliche Undankbarkeit der kleinen Schwester, der sie jahrelang Mutter gewesen war, in die Augen, und sie flüchtete mit ihrem Schmerz in das Turmstübchen. Sie dachte in ihrer ungerechten Bitterkeit nicht daran, daß die Kleine eine reinere Freude über die Wandlung der Mutter in sich trug als sie selbst.

Aber dann kam ein Tag, da Mutting zum erstenmal wieder ihren Fuß in Dornröschens Rosenturm setzte.

Das junge Mädchen, das gerade bei einem Bande Lessing darüber grübelte, warum Suschen wohl bei Mutting jetzt viel schneller stricken lernte, als bei ihr – daß Mutter geduldiger war, kam ihr natürlich nicht in den Sinn – fuhr erschreckt empor.

»Mutting . . . du hier? . . . im Rosenturm?«

Sie umfing den so lang entbehrten Gast und führte ihn zärtlich zu dem kleinen Rosenknospensofa. Dort lehnte die große Leni, wie es einst die Lütti getan hatte, den Kopf an die treue Brust ihrer Mutter, und all ihr Glücksempfinden, die Gute zurückgewonnen zu haben, strömte zusammen mit dem kindlichen Gefühl, beiseite geschoben zu sein, in erlösende Tränen aus.

Mutting wußte gar nicht, was sie aus ihrer weinenden Ältesten machen sollte; sie streichelte nur leise ihr weiches Haar.

»Dirn, werd' mir man ja nich etwa nervös,« schalt sie liebevoll.

Solche streichelnde Mutterhand strömt eine wunderbar beruhigende Kraft aus. Sie machte Lenis Tränen langsamer fließen; sie löschte das häßliche, ungerechte Gefühl in dem jungen Herzen. Leni vermochte wieder freien Blickes ihrer Mutter ins Auge zu sehen.

»Du hockst mir zuviel bei den Büchern, Kind. Alles mit Maß! In einem Tag wurde Rom nicht erbaut. Mehr als zwei Stunden darfst du mir nicht mehr hier lernen.«

Was war das für ein schönes, Ruhe gebendes Empfinden, sich wieder von treuer Muttersorge umhegt zu wissen, wiederum das kindliche Gefühl der Abhängigkeit von Mutting in sich zu tragen!

»Lauf in die Felder wie sonst! Du bist daran gewöhnt, Dirn. Kiek eins (sieh dir an), wie der junge Staberow jedes Fleckchen Erde nutzbar macht! Da gibt es auch für dich was zu lernen, mein Lening.«

Dornröschen warf den Kopf zurück, aber sie schwieg.

Am Tag vorher erst hatte Mutting die frische, pflichttreue Art des Verwalters mit Vating verglichen – diesen fremden Menschen in einem Atemzug mit ihrem vergötterten Vating zu nennen!

Leni fühlte eine große Bangigkeit nach dem ihr so früh entrissenen Vater, als ob der nicht der erste gewesen wäre, der seinem törichten Mädel den Kopf zurechtgerückt und es beim Schlafittchen genommen hätte!

Aber was Vating nicht mehr tun konnte, besorgte am nächsten Tage ein anderer. Der Erntesonntag, der auf diesen Abend folgte, brachte eine große Freude: Karl Heinz traf überraschend ein.

Frau Lisabeth konnte sich noch nicht dazu entschließen, das Erntefest wie in früheren Jahren mit Sang und Klang auf dem Hofe zu begehen. Die Gören und Mägde hatten es sich zwar nicht nehmen lassen, wie sonst Erntekränze zu flechten. Auch die übliche Austköst sollten die Leute haben, die so brav ihre Pflicht getan hatten. Aber der herkömmliche Tanz auf der Tenne wurde in den Dorfkrug verlegt. Der Verwalter fand dies durchaus in der Ordnung. Er stand dann in freudigem Stolz zwischen Frau Lisabeth und dem Dornröschen und erwartete die mit der Erntekrone antretenden Mägde, Knechte und Tagelöhner.

Dornröschen hatte sich nicht ihrer Pflicht entziehen können, als ehemaliges Fräulein Inspektor den Erntespruch mitanzuhören, so gern sie ferngeblieben wäre. Auch Frau Lisabeth konnte sich erst auf des jungen Staberows Bitten dazu überwinden, bei der Ansprache der Leute zugegen zu sein. Die beiden Frauengestalten zur Seite des jungen Landwirts hatten den gleichen Gedanken: »So hat einst uns' leiw Vating an dieser Stelle gestanden!« Aber der weiße Kopf dachte es in stiller Wehmut und der braune in heimlichem Groll.

Da, gerade als eine Staubwolke das Nahen der Tagelöhner auf der Landstraße ankündigte, bog eine hochaufgeschossene Gestalt in die sonnenbeschienene Kirschenallee, die auf das Wohnhaus zustrebte. Leni durchzuckte es in jäher Ahnung. Sie legte die Hand über die Augen, um schärfer zu sehen. Dann stieß sie einen Schrei aus, wie ein Vogel, der sich in die Lüfte schwingt, und gleich einem Vogel flog sie auch jetzt die lange Allee hinab.

»Min Jung – min leiw Jung!« Frau Lisabeth flüsterte es aus überströmendem Herzen.

Nein, wie der Jung dem Vater ähnlich geworden war! Gar nicht zu sagen! Dieselbe kantige Stirn hatte er, die gleichen guten und dabei doch ein wenig verschmitzt blickenden Augen! Frau Lisabeth konnte sich an ihrem geliebten Sprößling gar nicht satt sehen.

»Karl Heinz, mein ältester Jung – Herr von Staberow, der sich in aufopferungsvollster Weise unseres Gutes annimmt,« stellte sie Sohn und Verwalter vor.

Onkel Hans schüttelte dem stattlichen Burschen mit dem offenen Gesicht, für den er sich hier auf fremdem Boden mühte, herzlich die Hand.

»Ich habe schon viel von Ihnen gehört,« sagte Karl Heinz.

»Hoffentlich Gutes,« erwiderte scherzend der Verwalter.

Karl Heinz errötete wie ein Mädchen.

»Ich weiß von meiner Mutter, daß ich Ursache habe, Ihnen sehr dankbar zu sein.« Die Mitteilungen seiner Schwester verschwieg er wohlweislich.

Die Zwillinge sahen mit uneingeschränkter Bewunderung zu dem großen Bruder auf. Nein, der bekam ja schon wirklich einen Schnurrbart!

»Tag, Dörthe! Na, immer noch so gut bei Stimme?«

Die Alte schlug mit der verarbeiteten Hand scherzhafterweise nach dem jungen Herrn von Nedderdorf, der ihr längst über den Kopf gewachsen war.

Auch Jürgens bekam seinen Händedruck und ein herzliches: »Na, oller Freund, wo geiht dat?«

»Je, dat is hier all nich mehr so, as dat gewesen is,« stieß der alte Jürgens mit einem feindseligen Blick gegen den Verwalter mit verzogenen Mundwinkeln hervor.

An Karl Heinzens rechtes Hosenbein schmiegte sich Suschen; an dem linken rieb Cäsar seinen zottigen alten Kopf und sah triumphierend auf den neugierig beiseite stehenden Bubi. Ja, Karl Heinz, der olle gaude Jung, der wußte wenigstens noch das Alter zu ehren!

Immer näher kam die weiße Staubwolke auf der Straße. Jetzt unterschied man schon einzelne Gestalten in dem Gewirr durcheinander kribbelnder Menschenbeine. Bald traten schmucke Mädchen, stämmige Burschen und wettergebräunte Männer, verlegen an den Mützen rückend, vor die Gutsherrschaft.

Jetzt war die Bitterkeit dieser Stunde genommen. Neben dem Fremden stand jetzt Karl Heinz, der künftige Herr! Von der Vergangenheit wanderten Muttings und Lenis Gedanken frohe Wege in die Zukunft.

Der Erntespruch wurde nach üblicher Weise abgeleiert; die Leute ließen sich dann Dörthens Schweinebraten bestens schmecken. Dann zogen sie wieder zum Dorfkrug, um dort erst die eigentliche Lustbarkeit zu beginnen. Die Gutsgören trabten selbstverständlich hinterdrein; sogar der Besuch des Bruders trat vor den Erntefreuden zurück. Auch Cäsar, den das Wiedersehen mit Karl Heinz ordentlich verjüngt hatte, trottete in bissiger Gemeinschaft neben dem jungen Teckel auf den Tanzboden.

Mutting hatte der Tag doch etwas angegriffen; sie mußte sich ein wenig niederlegen. Der Verwalter zog sich bescheiden zurück, Bruder und Schwester hatten sich allein.

»Dornröschen, min olle leiwe Dirn, wat büst du ernst und ehrpusselig seit den letzten Ferien geworden! Komm man auf den Windmühlenberg! Du sollst mir wieder lachen, Lening!«

Sie tat es bereits über das ganze Gesicht.

»Ach, daß ich dich wieder da hab', Karling, – gerade jetzt, wo es mir so not tut, einen guten Kameraden zur Seite zu haben!« Der Ernst blickte durch all die Wiedersehensfreude hindurch.

»Schieß los!«

Karl Heinz ließ sich auf das Birkenbänklein im Schatten der Windmühlenflügel nieder und zog die Schwester zärtlich-täppisch neben sich. Sie schwiegen beide. Die Zungen fanden noch nicht wieder so recht den vertrauten Weg zueinander; aber ihre Hände hielten sich gefaßt.

»Na?« Der Bruder versetzte ihr einen kleinen, aufmunternden Stoß.

Es wurde Leni schwer, ihre innersten Gedanken bloßzulegen.

»Ich bin hier überflüssig geworden,« klagte sie schließlich leise.

»Ich bin hier überflüssig geworden,« klagte Leni.

»Wat büst?« – Karl Heinz fuhr auf. – »Snak, 'n ollen lütten Döskopp büst,« zankte er.

Leni wurde es warm – ach, so warm ums Herz! Das war die Sprache, die sie am allerbesten verstand; ihrem Karling nahm Dornröschen nichts übel.

»Es ist schon so, wie ich sag', min Jung; im Haus ist Mutting jetzt wieder am Ruder, und das is ja auch gut –«

»Je, Lening,« unterbrach sie der Bruder, »ich bün hellfroh, wie Mutting sich wieder herausgerappelt hat; so gemütlich war mein Heimkommen noch nie seit Vatings Tod.«

»Ich find', daß der Fremde unsere Gemütlichkeit denn doch recht beeinträchtigt.«

»Nee, Dirn,« widersprach der Bruder verwundert, »da büst hellschen auf 'n Holzweg! Ich weiß auch gar nicht, was du an dem netten Menschen auszusetzen hast. Der macht doch wahrhaftig keinen hochnäsigen Eindruck! Selbst mir jungem Dachs gegenüber war er geradezu bescheiden.«

»Was ich an dem auszusetzen hab'? Siehst du das schwarze Ungeheuer da drüben auf dem Stoppelfeld? Das ist die neue Lokomobile, die mit einem Male hier notwendig wurde, und dort in unserem ehemaligen Karrenschuppen steht noch 'n Hümpel so 'ner Eisenbiester. Ist bei Vatings Zeiten hier nicht mit Maschinen gearbeitet worden, warum denn nu?«

»Je, Lening, wir leben doch mal in dem Zeitalter der neuen technischen Erfindungen und der Maschinenindustrie,« – Karl Heinz war für seine achtzehn Jahre schon recht reif – »ein junger Mensch greift leichter zu was Neuem als ein alter!«

»Und bescheiden, sagst du, sei dieser Mensch?« fuhr Leni erregt fort, ihrem Herzen endlich Luft machend. »›Landpomeränzchen‹ hat er sich erdreistet, mich zu nennen – na, was sagst du jetzt?« Ihre Augen blitzten.

»Je, mit dem Landpomeränzchen – sühst, Dirn – da mag er ja so Unrecht nicht haben! Wenn man tagein, tagaus auf der Klitsche sitzt und Tüften (Kartoffeln) buddelt, da kann man schwer schöngeistige Interessen pflegen. Siehst du: letzthin wollt' ich dir schon sagen, du müßtest ab und zu mal nach Rostock kommen und dich äußerlich und innerlich 'n büschen auffrischen. Ja, auch äußerlich, Dornröschen! Denn das ist selbst mir aufgefallen, daß du nicht halb so nüdlich aussiehst wie die lütten Stadtdirns, und du büst dabei doch 'n ganzen Strämel hübscher!«

Der Schlußsatz wirkte besänftigend. Leni starrte auf ein Krautbüschel zu ihren Füßen. Also Karl Heinz war derselben Meinung wie der Verwalter? Ja, dann freilich! Ihr Karling, der meinte es gut mit ihr, das wußte sie.

Vating hätte ihr den kindischen Kopf nicht besser zurechtrücken können, als das der Bruder besorgt hatte. –

»Ja, Mädel, büst du unter die Professoren gegangen?«

Karl Heinz griff mit spitzen Fingern, als er Dornröschen nun in ihrem eigenen Reich einen Besuch abstattete, nach dem auf dem Tisch liegenden Laokoon. »Lessing, Goethe, Shakespeare? Ja, Dirn, denn hast freilich recht, wenn du dich nicht Landpomeränzchen schelten lassen willst. Aber wie kommen diese Bücher hier in den Dornröschenturm?«

»Bitte sehr, ich hab' sie gelesen!« Ein gewisses Gefühl höherer Selbsteinschätzung hatte man ja zweifellos, wenn man so etwas sagen konnte.

»Flunkere nicht! Du hast doch sonst derartigen Kram nicht pläsierlich gefunden –«

»Das tu' ich auch jetzt noch nicht, ich mopse mich sogar manchmal fast tot dabei,« gab Dornröschen ehrlich zu, worauf er herzlich lachte.

Der Tag wurde höchst gemütlich. Der Abend war warm, wie das solchem Erntefestabend auch zukommt; man konnte den Tisch auf der Veranda decken. Dornröschen hatte einen Tischläufer aus der Zeit her aufgelegt, da sie noch Handarbeiten machen konnte, und die schönsten Spätrosen zum Schmuck geschnitten. Auch sie selbst hatte eine rosenrote Blüte in den Gürtel gesteckt. Heute, da ihr Karling da war, lohnte es sich.

Onkel Hans und Karl Heinz fanden viel Berührungspunkte miteinander. Ihr frisches, lustiges Wesen begegnete sich. Der Ältere ging so freundschaftlich auf die Gedankengänge und Neigungen des bei weitem Jüngeren ein, daß Karl Heinz immer mehr zu der Ansicht kam, der Staberow sei ein Prachtmensch, seine Schwester Lening aber von mancher falschen Vorstellung befangen. So angeregt war die Unterhaltung lange nicht gewesen. Es war aber auch Leni jetzt recht angenehm, daß sie nicht wie aus Dummsdorf daneben sitzen mußte, sondern wußte, um was es sich handelte. Dann gab das bevorstehende Abiturium unerschöpflichen Stoff. Onkel Hans wußte aus seiner eigenen Schulzeit allerhand lustige Schnurren zu erzählen. Nun waren es die Zwillinge, die mit weitgeöffneten Ohren und Augen andächtig lauschten.

»Jungs, geht schlafen – euch fehlen diese Ratschläge man bloß noch,« unterbrach Mutting lächelnd die nicht gerade erzieherisch wirkenden Berichte.

Onkel Hans schlug sich lachend auf den Mund und ging geschwind zu einem anderen Thema über, das jetzt besonders die Geister beschäftigte: eine neue Nordpolforschungsreise.

Aber nun waren die beiden Schlingel erst recht nicht ins Bett zu bekommen. Der Nordpol hatte für die beiden etwas märchenhaft Geheimnisvolles; die Gefahren, mit denen die kühnen Polarforscher zu kämpfen hatten, ließen die Herzen der wilden Rangen höher schlagen. Hei, mußte das herrlich sein, auf den von Polarhunden gezogenen Schlitten die Schneegelände zu durchsausen!

Hänschen saß auf des Onkel Hans rechtem Knie, Fränzchen auf seinem linken, trotzdem sie alle beide aus dem Schoßkindalter beträchtlich heraus waren. Sie konnten ihm die Worte gar nicht nahe genug von den Lippen lesen.

»Und denn, Onkel Hans, wenn se denn festsitzen, und um sie rümmer sind lauter mächtige Eisblöcke, was denn?«

»Denn springen sie über die Eisklötze rüber!« Onkel Hans ließ seine Phantasie ebenfalls springen.

»Und die Schlitten und die Polarhunde und die Eskimos?«

»Hopfen mit,« sagte Onkel Hans lachend.

»Ja, aber woher wissen se denn überhaupt, wo 's lang geht?« ereiferte sich Hans junior.

»Jung, hast du noch niemals was von einem Kompaß gehört? Siehst du,« – Hans senior langte den seinen aus der Westentasche – »wer so ein Ding hat und immer der Magnetnadel nachgeht, immer weiter nach Norden zu, der kann gar nicht anders, als mit der Nase geradeswegs gegen den Nordpol rennen!«

Alles lachte, nur die Zwillinge nicht. Die glaubten jedes Wort.

»Sünd die Polarhunde grad so wie unsere Köter?« wollte Hänschen wissen.

»Nee, am Nordpol bellen die Hunde mit dem Schwanz,« behauptete Onkel Hans ernsthaft.

»Was braucht man denn alles zur Ausrüstung?« erkundigte sich Fränzchen mit auffallender Wißbegier.

»Na, erstens mal 'ne lütte Tranlampe, und 'ne Buddel Lebertran zu als Petroleum, 'ne Buddel Nordhäuser gegen den Durst, ein paar Walfischrippenstücke gegen den Hunger und denn 'ne Badehose.« Mit diesen Worten beteiligte sich jetzt Karl Heinz, der gerade so gern uzte wie Onkel Hans, an der phantastischen Erzählung.

»Eine Badehose? Wozu denn?«

»Jung, für alle Fälle, wenn das Eis beim Nordlicht am End schmelzen sollt'! Denn müssen sie doch durch das Polarmeer schwimmen,« log Karl Heinz noch dreister als sein Vorredner.

Es war spät, als man endlich zur Ruhe ging.

Am anderen Morgen reiste Karl Heinz, von den besten Wünschen der Seinen für das bevorstehende Examen und von einer faustdicken Wurst der guten Dörthe begleitet, nach Rostock zurück, um sich für die Prüfung vorzubereiten.


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