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11. Kapitel. Knabber – knabber – Mäuschen.

Selten hatte auf Annemie eine Strafe solchen nachhaltigen Eindruck gemacht wie der Verlust des erträumten Mohrenkopfes. Tagelang dachte Naschmäulchen noch mit tiefem Bedauern an sein schönes, braunes Schokoladenkleid. Ihr liebstes Spiel war seitdem: Konditor.

Die Mehl- und Vorkostbude wurde in einen Konditorladen umgewandelt. Annemie machte einen Knoten in jede Ecke ihres Taschentuches, da, hatte sie die feinste Konditormütze. Auch ihr Kurt bekam eine Taschentuchmütze. Er war der Konditorjunge und wurde »Fritze mit der Zippelmütze« genannt.

Auf dem Ladentisch der Mehlbude aber baute der Herr Konditor gar verlockende Sachen auf. Da gab es Sandtorten in allen Größen, jeden Tag im Tiergarten frisch gebacken und dick mit Zucker bestreut. Aus einem von Mutti erbettelten Apfel fabrizierte Annemie Apfelkuchen, Apfelstrudel und Apfeltorte in ihrer kleinen, runden Blechform. Aus Pappe wurden kleine Torteletts ausgeschnitten und mit Kirschkernen belegt. Schokoladenplätzchen ergaben tadellose Schokoladentorten, statt Marzipankartoffel wurde eine richtige Schalkartoffel auf durchbrochenem Tortenpapier ausgestellt. Aber der Mohrenkopf – wo sollte sie den bloß hernehmen? Denn ohne Mohrenkopf war ein Konditorladen doch undenkbar!

Annemie kam auf die seltsamsten Ideen. Es hätte nicht viel gefehlt, dann hätte sie ihrem Kinde, ihrer Lolo, den Kopf abgedreht, denn die Negerpuppe hatte doch einen Mohrenkopf. Aber zum Glück für die arme Lolo fiel Nesthäkchens Blick auf Fräuleins Strumpfkorb.

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Das braune Wollknäuel dort, das gab ja einen prächtigen Mohrenkopf, da würden sich die Puppen alle Finger nach lecken.

Nun konnte das Spiel beginnen. Der Herr Konditor setzte seine Mütze auf, stellte Puppentischchen und Puppenstühle zurecht, falls jemand in der Konditorei Kaffee oder Schokolade zu trinken wünschte, und ließ »Fritze mit der Zippelmütze« als Kellner antreten.

Klinglingling – da ging ja schon die Türschelle. Die erste Kundin kam hereingetrippelt. Es war Irenchen, aber sie stellte eine alte Dame vor und sprach mit zitternder Stimme.

»Was wünscht die gnädige Frau?« Der Herr Konditor dienerte höflich bis zur Erde.

»Ich möchte ein Kirschtortelett mit Schlagsahne«, bestellte die alte Dame und zitterte so sehr mit der Stimme, daß Annemie, die Konditor und Gäste in einer Person spielen mußte, ganz heiser wurde.

»Jawohl – gnädige Frau – bitte einen Augenblick, Schlagsahne wird sogleich frisch geschlagen!«

Die alte Dame nahm an dem kleinen Tischchen Platz und der Konditor nebst Fritze mit der Zippelmütze rasten zur Waschtoilette. Dort schlug der Herr Konditor mit seinem kleinen Schneeschläger aus der Puppenküche im Seifnapf herrlichen Seifenschaum. Der wurde über das Kirschtortelett aus Pappe gekleckst und von Fritze serviert. Leider tauchte ein Zipfel seiner etwas zu großen Zipfelmütze dabei in die Schlagsahne. Aber das störte die alte Dame durchaus nicht, sie ließ es sich trotzdem schmecken.

Der Herr Konditor aber hatte schon wieder neue Kunden zu bedienen.

Diesmal war es ein niedliches, kleines Schulmädchen. Gerda hieß es, und hatte Irenchens Schulmappe aufgeschnallt. Aber da gleich hinterher noch ein schönes Fräulein die Ladenglocke in Bewegung setzte, die sogar einen roten Sonnenschirm hatte, bediente der Herr Konditor erst das Fräulein. Denn Kinder können warten.

»Was bekommt die Dame?« wandte er sich höflich an die Zuletztgekommene.

»Für zwanzig Pfennig Streußelkuchen«, verlangte das Fräulein und zeigte mit der Porzellanhand auf den Apfelkuchen.

»Das ist Apfelkuchen, meine Dame, darf es der vielleicht sein?« fragte der Konditor diensteifrig.

»Ja, bitte, ich bin nämlich so kurzsichtig«, entschuldigte sich Mariannchen mit den verklebten Augen, denn sie war das schöne Fräulein.

»Sonst noch etwas gefällig, meine Dame?«

»Schicken Sie mir zu morgen noch eine Schokoladentorte, mein Name ist Fräulein Magenweh, gleich um die Ecke – adieu«, damit verschwand das Fräulein.

»Empfehle mich – empfehle mich, meine Dame«, Annemie machte ganz genau die Stimme des dicken Konditors, der nebenan wohnte, nach. Aber da sie die Ähnlichkeit noch nicht treffend genug fand, stopfte sie sich noch ein Puppenbett unter die Schürze, um ebenso wohlbeleibt auszusehen.

»Na, spielt meine Lotte schön – siehst du, heute bist du artig, da kann man dich liebhaben«, lobte die durchs Zimmer kommende Mutter. Sie unterzog mit Fräulein die Sommergarderobe ihrer drei Sprößlinge einer gründlichen Musterung. Darum mußte die Kleine sich allein beschäftigen.

Nesthäkchen strahlte über das ganze Gesicht bei Muttis Lob. Es hatte ihr doch schwer auf der Seele gelegen, daß Mutti neulich, als Tante Albertinchen zu Besuch war, so unzufrieden mit ihrem Töchterchen gewesen war.

Gleich aber erinnerte sich Annemie wieder ihrer Würde und sagte mit einem tiefen Diener: »Entschuldigen Sie, gnädige Frau, Sie irren sich, ich bin nämlich der Herr Konditor und nicht Ihre Lotte! Wünscht die Dame vielleicht einen Mohrenkopf?«

Mutti drohte mit vielsagendem Lächeln, in Erinnerung an die Mohrenkopfgeschichte, und der Herr Konditor wandte sein erglühendes Gesicht schnell einer anderen Kundin zu. Hätte er doch bloß nicht von dem dummen Mohrenkopf angefangen!

Aber als Mutti jetzt das Zimmer verließ, klang es so täuschend mit der Stimme des dicken Konditors hinter ihr her: »Empfehle mich – beehren Sie mich wieder!« daß Mutti ein Lachen nicht unterdrücken konnte.

Der Herr Konditor hatte sich inzwischen zu dem kleinen Schulmädel gewandt.

»Nanu, Kleine, warum weinst du denn?« fragte er erstaunt.

»Weil ich gar nicht herankomme, ich war viel eher da als das kurzsichtige Fräulein Magenweh und die gnädige Frau Mutti – und wenn Sie alle Ihre Kunden so schlecht bedienen wie mich, dann gehen wir einfach zu dem neuen Konditor in der andern Straße.«

»I, du bist ja eine ganz freche Jöre,« sagte der Herr Konditor, mit Recht empört, »geh doch – geh – aber soviel Kuchenkrümel gibt's da nicht für'n Sechser wie hier bei mir.«

Das schien auch Puppe Gerda einzusehen, denn sie kaufte, obgleich sie so geschimpft hatte, ihre Kuchenkrümel doch lieber in diesem Laden.

Nachdem das dreiste Ding die Konditorei verlassen hatte, kam eine ganze Weile gar keiner. Der Herr Konditor ließ sich müde von all der Anstrengung auf einem Stuhl nieder und verzehrte zur Erfrischung selbst eine ganze Schokoladentorte. Fritze mit der Zippelmütze sah neidisch zu.

Klinglingling – da klingelte es wieder. Ein Herr war es, ein Ausländer. Er mußte wohl geradeswegs aus Afrika kommen, so schwarz war er, und hieß Herr Lolo. Merkwürdigerweise schienen die Herren in Afrika weiße, kurze Kniehöschen mit Stickereiansatz zu tragen.

Sein Töchterchen, ein allerliebstes Baby, hatte er auch mitgebracht. Die Mutter des Kindes mußte wohl eine Deutsche sein. Denn das Kleine war zwar etwas schmutzig, aber doch lange nicht so schwarz wie der Mohrenpapa.

»Was willst du essen, mein Herzchen?« fragte der Afrikaner liebevoll sein Töchterchen.

»Mohrenkopf mit Schlagsahne« verlangte das kluge Baby, obwohl es erst ein halbes Jahr alt war.

»Und der Herr? Vielleicht eine Tasse Schokolade gefällig?« fragte der dicke, kleine Konditor und machte drei Bücklinge auf einmal.

Der Herr überlegte einen Augenblick.

»Nein, bringen Sie mir eine Portion Vanilleeis.« Sicher war es in Afrika so heiß, daß man dort nichts weiter als Eis aß.

Der Herr Konditor lief mit einem kleinen Puppenteller in seinen Eiskeller, das war die Küche.

»Hanne, ich muß ganz flink eine Portion Eis haben, der Herr aus Afrika hat es bestellt«, bat er.

Hanne sah die Notwendigkeit ein. Sie schlug von dem Eis im Eisschrank ein kleines Stückchen ab und legte es auf den Puppenteller.

»Danke schön, liebe Hanne.« Zärtlich schlang der dicke Konditor seine Arme um die dicke Köchin und hopste dann in seinen Laden zurück, daß auch das Eis dreimal vom Teller hopste. Aber der Konditor wischte es mit seiner Schürze wieder sauber ab, und servierte es dem Afrikaner mit einer Verbeugung.

»Einmal Vanilleeis!«

Fritze mit der Zippelmütze, der inzwischen die Schlagsahne zu dem Mohrenkopf für das Baby hatte schlagen sollen, war wieder mal faul gewesen und hatte nichts getan. Er bekam von seinem Herrn eine Backpfeife und wurde sofort aus dem Dienst entlassen.

Der Herr Konditor brachte eigenhändig die Schlagsahne herbei, irrte sich aber und tat sie statt über den Mohrenkopf auf den Teller über Herrn Lolos Mohrenkopf.

Der schrie und schimpfte und lief aus der Konditorei fort, ohne das Vanilleeis zu bezahlen. Sogar sein Baby vergaß er im Ärger.

Fritze aber hatte mit der Stellung auch seine Zippelmütze abgelegt. Er erschien jetzt als niedlicher, kleiner Junge, mit einem Körbchen am Arm.

»Ein Brot mit Kümmel, aber kein altes«, forderte er und legte auch zugleich das Geld auf den Tisch.

Der Herr Konditor sah sich ratlos in seinem Laden um – Herrgott, das Brot war ja alle geworden!

»Ein Augenblick, mein Söhnchen, ich hole ganz frisches aus meiner Backstube«, und wieder ging es in die Küche.

»Hanne, liebe Hanne –« aber die Küche war leer. Die liebe Hanne schien mit dem Mülleimer hinuntergegangen zu sein.

Solange konnte man einen Kunden unmöglich warten lassen. Der kleine Konditor lief selbst an den Brotkasten in der Speisekammer, und weil er kein Messer anfassen durfte, bohrte er mit seinen Fingerchen ein großes Stück Krume aus dem zum Glück schon durchgeschnittenen Brot.

Dann legte er es sorgfältig wieder fort.

Kurt hatte das sauber in Papier geschlagene Brot gerade in seinem Körbchen untergebracht, da erschien ein vierfüßiger Kunde in der offengebliebenen Ladentür. Er lief sofort an den Ladentisch, auf dem die schönen Sachen alle so verlockend aufgebaut standen, und legte die Hände, die in weißen Pelzhandschuhen steckten, auf die Apfeltorte.

»Die Waren dürfen nicht berührt werden!« sagte der Konditor aufgebracht.

Aber der Herr ließ sich nicht stören. Ja, er hatte sogar die Unverschämtheit, ein Stück Kuchen nach dem andern zu beriechen.

»Was wünschen Sie denn, mein Herr?« fragte der Konditor nun schon zum drittenmal.

Die Wahl schien dem Herrn schwer zu werden. Schließlich war er mit sich im reinen. Aber anstatt sich die Torte an dem kleinen Tischchen servieren oder in Papier packen zu lassen, machte er kurzen Prozeß.

Schwapp – da hatte Herr Puck die größte Schokoladentorte mit dem Mund vom Ladentisch wegstiebitzt und lief damit eilig aus der Konditorei.

»Mutti – Mutti – meine Schokolade – meine schönste Schokoladentorte!« Der Herr Konditor eilte schreiend hinter dem Dieb her.

Aber Mutti, welche die Polizei vorstellen sollte, war nicht in ihrem Zimmer, die hatte Hanne soeben in die Speisekammer geholt, um ihr zu zeigen, daß unbedingt eine Maus dort sein müsse. Sie habe ein großes Loch ins Brot gefressen.

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»Ja, wirklich, Hanne, das beste ist, Sie stellen eine Mausefalle auf«, meinte Frau Doktor Braun.

»Ne, erst mache ich selber Jagd auf die Maus, die ist sicher noch hier in der Speisekammer, denn heute mittag war das Brot noch ganz heil.« Damit begann Hanne voll Jagdeifer die Vorratstonnen und Gläser mit eingemachten Früchten auszuräumen.

Da erschien Nesthäkchen mit der Konditormütze. Aber vor lauter Staunen vergaß sie den Dieb Puck bei der Polizei anzuzeigen.

»Nanu, was ist denn hier los, ziehen wir aus?« fragte sie neugierig.

»Ne, aber wir haben 'ne Maus hier in der Speisekammer.« Hanne schleppte Wein- und Bierflaschen heraus, kein Stück ließ sie an seinem Platz.

»Eine Maus – eine Maus!« jubelte Nesthäkchen und sprang selig zwischen sämtlichen Flaschen und Vorratstüten herum.

Vergessen war der Dieb, vergessen die ganze Konditorei – »eine Maus – eine Maus!« das war ja wundervoll!

Annemie half geschäftig beim Auskramen der Speisekammer, zerschlug dabei den Deckel von der Reistonne, ließ die Zwiebeln alle aus dem Zwiebelnetz rollen und unter Küchenschrank und Tisch trudeln, tauchte heimlich das Fingerchen in die Zuckertonne – und zeigte sich auf diese Weise äußerst nützlich.

»Wenn ich die Maus aber kriege, der soll's schlecht gehen – mir solche Arbeit zu machen!« schimpfte Hanne.

»Was tun Sie denn da mit ihr, Hanne?« fragte Annemie neugierig.

»Die wird bei lebendigem Leibe ersäuft!« sagte Hanne ingrimmig.

Das arme Mäuschen – eigentlich tat es Annemie sehr leid. Heimlich wünschte sie, daß Hanne es nicht erwischen sollte.

»Na, Hanne, haben Sie Ihre Maus schon gefunden?« Mutti trat wieder in die Küche.

»Ne, aber ich krieg' sie schon noch, am hellichten Tage so'n Loch ins Brot zu knabbern – solche Frechheit!« Sie hielt das Brot mit dem großen Loch in die Höhe.

Klein-Annemie wurde blaß, und dann purpurrot.

Unschlüssig sah sie von dem Brot auf Hanne, und von dieser zu Mutti.

Sie schwankte – sie zauderte – und dann schlang sie plötzlich beide Ärmchen um Hannes breite Hüften und brach in bitterliches Weinen aus.

»Sie sollen das arme Mäuschen nicht ersäufen, Hanne, es kann ja nichts dafür, es hat das Brot doch gar nicht gefressen. Ich hab's genommen, weil ich doch Konditor war, und mein Puppenjunge Brot kaufen wollte«, so jammerte Nesthäkchen.

»Du warst die Maus, na warte, wenn du mir nochmal solche Arbeit machen wirst, Mäuschen –« die Köchin drohte gutmütig und räumte ihre Speisekammer wieder ein.

Aber als Annemie jetzt ängstlich fragte: »Werde ich nun auch nicht bei lebendigem Leibe ersäuft?« da griff Hanne mit lustigem Lachen nach einem großen Eimer, und schreiend nahm Nesthäkchen Reißaus.


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