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Es war die Zeit, da Knecht Ruprecht abends an den Türen der Kinderstuben herumhorcht, ob die Kleinen am Tage auch brav gewesen sind und schöne Weihnachtsgaben verdienen, oder ob er ihnen nur eine Rute bringen soll.
Da wurde manch kleiner Wildfang zahm, denn Knecht Ruprecht notierte alles in seinem Büchlein, jede Unart wurde da gebucht, und die Weihnachtsgaben danach bemessen.
Nesthäkchen war in diesen Wochen vor Weihnachten ganz besonders artig. Selbst mit Klaus vertrug sie sich einigermaßen, damit bloß alle Weihnachtswünsche in Erfüllung gehen sollten.
Fräulein saß mit einem großen Bogen Papier und einem langen Bleistift am Kinderstubentisch und schrieb alle die Wünsche auf, die Annemie ihr diktierte, damit Knecht Ruprecht nur ja keinen vergaß.
»Also erst mal eine kleine Sprechstunde, wie Vater hat«, begann Nesthäkchen ihren Wunschzettel.
»Aber Annemiechen, das kann dir der Knecht Ruprecht doch nicht bringen, sowas gibt es doch gar nicht für Kinder«, lachte Fräulein.
»Doch – eine kleine Puppensprechstunde, und ich bin der Herr Doktor, bitte, bitte, schreibe es doch auf, Fräulein. Knecht Ruprecht, der ist doch so klug, der wird schon wissen, was ich meine«, bat die Kleine voller Zärtlichkeit.
Also oben auf dem Zettel prangte: Eine kleine Sprechstunde.
»Dann möchte ich so schrecklich gern ein kleines Warenhaus Wertheim haben, aber mit einem richtigen Fahrstuhl und mit einem Erfrischungsraum für meine Puppen. Und ein Spielzeuglager muß auch drin sein«, wünschte Annemie sich weiter.
»Nein, Kind, wenn du keine anderen Wünsche hast, da lacht uns ja Knecht Ruprecht aus«, wandte Fräulein kopfschüttelnd ein.
»Na, die anderen kommen auch gleich«, tröstete Annemarie. »Einen niedlichen kleinen Puppenportier brauche ich furchtbar notwendig, und einen kleinen Springbrunnen zum Aufziehen dazu. Und dann möchte Knecht Ruprecht mir doch, bitte, einen Puppenkindergarten schenken wie Tante Marthas.«
Nesthäkchen zog die Stirn kraus und überlegte angestrengt weiter.
»Und für deine Kinder wünschst du gar nichts? Du bist ja eine recht selbstsüchtige kleine Mutter«, half Fräulein weiter.
»Ach, für meine Puppenjören brauche ich noch ganz schrecklich viel. Für Irenchen bestelle ich mir rote Backen und ein Korsett, für Mariannchen ein Paar neue Augen, braun sollen sie sein, und einen kleinen Regenschirm. Lolo könnte vielleicht zwei neue Däume gebrauchen, denn ihre sind abgeschlagen, und einen weißen Federhut dazu; meinst du nicht auch, Fräulein, daß der ihr gut zu ihrem schwarzen Gesicht stehen wird? Und mein Kurt braucht zwei neue Beine, einen rechten Arm und Schlafaugen, er ist doch kein Hase, daß er immer mit offenen Augen schlafen muß. Mit einer kleinen Botanisiertrommel, so wie Hans und Klaus sie haben, würde sich der Junge auch freuen. Babychen soll kurze Kleider kriegen und Beißerchen. Diesen Weihnachten wird es doch schon drei Jahr, und immer noch liegt es im Steckkissen, und hat noch keinen einzigen Zahn. Und nun noch mein Nesthäkchen. Komm, Gerdachen, was wünschst du dir denn? Sag' mir's mal ins Ohr.«
Annemie griff nach ihrer Gerda, die sie vor kurzem gebadet und mit einem Bademantel in den Puppenwagen gesteckt hatte, damit sie sich nur ja nicht erkälten sollte.
Aber entsetzt ließ die Kleine ihren Liebling in die Kissen zurückgleiten.
»Fräulein – Fräulein,« ganz blaß war Annemie vor Schreck, »komm doch bloß mal her – Gerdachen ist ja ein Kahlkopf geworden!« Unaufhaltsam flossen jetzt die Tränen über Klein-Annemaries Bäckchen.
Fräulein schlug die weiße Wagengardine zurück – wirklich, Gerda lag total verändert da drin und sah ihre entsetzte Mama mit verständnislosen Augen an. Ganz klein und elend war ihr Gesicht geworden, weil die Lockenperücke fehlte. Die lag neben ihr auf dem Kopfkissen, Gerda aber hatte ein großes Loch auf dem Kopf.
»Es ist ja nicht so schlimm, Annemiechen, die Perücke ist durch das Badewasser bloß abgeweicht«, beruhigte Fräulein das aufgeregte Kind.
»Ach, meine arme, arme Gerda, wie weh muß ihr das tun, man sieht ja das ganze Gehirn und alle Gedanken in ihrem Kopf«, jammerte Nesthäkchen.
»Vater macht ihr einen Verband,« tröstete Fräulein liebevoll weiter, »und Knecht Ruprecht bringt ihr neue Haare; ob sie sich vielleicht mit Zöpfen freuen würde?«
»Nein, lieber Schnecken, weil sie doch jetzt schon groß ist und mit in den Kindergarten geht«, schluchzte Annemie, noch immer betrübt.
»Also schön, dann schreibe ich auf: Haarschnecken für Puppe Gerda. Was meinst du denn zu einer roten Sportjacke, solche, wie Großmama dir gestrickt hat, Annemie?« fragte Fräulein, um die Kleine von ihrem Kummer abzulenken.
»Nein, lieber eine grüne«, überlegte die bekümmerte Puppenmama und weinte weiter. »Aber – aber wenn Knecht Ruprecht nun die Haarschnecken vergißt, dann muß meine arme Gerda ihr Lebenlang als Kahlkopf durch die Welt laufen!« jammerte Annemie aufs neue.
»Das wird er schon nicht vergessen, Herzchen, ich hab's ihm ja aufgeschrieben, und zum Überfluß kann ich ihn ja noch mal daran erinnern«, beruhigte sie Fräulein.
»Sprichst du ihn denn, Fräulein?« Annemie horchte auf, und ihre Tränen begannen langsamer zu fließen.
»Freilich«, nickte Fräulein. »Vier Wochen vor Weihnachten, da fragt er jeden Abend bei mir an, ob du artig oder unartig am Tage gewesen bist.«
»Erzählst du ihm immer alles ganz genau, Fräulein, jedesmal, wenn ich geheult habe?« erkundigte sich Nesthäkchen etwas kleinlaut.
»Natürlich, ich muß ihm doch die Wahrheit sagen«, meinte Fräulein.
»Auch daß ich heute über Gerdas Kahlkopf geweint habe, sagst du ihm?«
»Ja, aber darüber wird er nicht böse sein, du hast ja nicht aus Ungezogenheit, sondern nur aus Mitleid mit deinem Kinde geweint«, war die beruhigende Antwort.
»Laß dich bloß nicht mal aus Versehen von ihm in den Sack stecken, Fräulein!« Nesthäkchen machte ein halb ängstliches, halb schelmisches Gesicht bei dieser Vorstellung.
»Ich werde mich schon vorsehen«, lachte Fräulein. »Aber wolltest du denn nicht deine Schuhe abends für Knecht Ruprecht vor die Tür setzen, wie Elli, Herbert und Peter in Arnsdorf das vor Weihnachten stets zu machen pflegen, Annemie?«
»Ja, weißt du, Fräulein, ich wollte es ja so schrecklich gern. Denn wenn die Kinder am Tage artig gewesen sind, legt ihnen Knecht Ruprecht immer einen goldenen Faden und Pfeffernüsse in die Schuhe, und wenn sie unartig waren, einen Silberfaden und weiter gar nichts. Aber Klaus sagt, das macht Knecht Ruprecht nur in Schlesien, unser Berliner Knecht Ruprecht tut das nicht, weil es bei uns nicht Sitte ist.«
»Aber Herzchen, es gibt doch nur einen Knecht Ruprecht für die ganze Welt, das ist doch ein und derselbe in Schlesien und in Berlin«, belehrte sie Fräulein.
»Auch für Amerika?« Nesthäkchen schüttelte ungläubig den Kopf.
»Aber natürlich, sogar für Afrika.«
»Na, denn möchte ich aber wissen, wie der an einem Abend, in Berlin und in Amerika, in Schlesien und in Afrika nach all den vielen Kindern herumfragen kann«, ereiferte sich Annemie. »Dann hat er sicher Siebenmeilenstiefel oder wenigstens ein Luftschiff.«
»Es wird wohl ein Luftschiff sein,« entschied Fräulein die schwierige Frage, »ich habe es schon manchmal abends surren hören. Aber ich würde es doch jedenfalls mal probieren, Annemiechen, und die Schuhe vor die Tür setzen. Dann siehst du gleich, ob Knecht Ruprecht die Sitte kennt oder nicht.«
Das war einleuchtend. Und mit Hinsicht darauf nahm Nesthäkchen sich heute noch viel mehr zusammen als sonst. Ja, als Klaus die verwandelte Gerda entdeckte und jubelnd mit dem kleinen Kahlkopf im Zimmer herumtanzte und dazu sang: »Die Gerda hat den Zopf verloren, sie sieht jetzt aus wie abgeschoren!« gab ihm Annemie nicht in ihrer Empörung zwei Püffe, wie sie erst gewollt, sondern nur einen. Das war doch entschieden sehr artig.
Vater machte dem Puppenkinde einen kunstgerechten Verband, daß es aussah wie der Araber aus Tausend und eine Nacht. Mutti aber legte Gerda ein großes Stück Schokolade als Pflaster auf, das heilte den Schmerz ihrer kleinen Mama gleich mit.
Am Abend stellte Annemie sorgsam ihre roten Hausschuhchen für Knecht Ruprecht vor die Kinderstubentür, und daneben baute sie sämtliche Puppenschuhchen auf. Denn ihre Kinder wollten doch auch einen Goldfaden und Pfeffernüsse haben. Da standen Gerdas Goldkäferschuhchen, Irenchens Lackschuhe, Mariannchens braune Schnürstiefel, Lolos weiße Lederschuhe, Babys gestrickte Wollschuhchen und von dem wilden Kurt nur ein zerlöcherter Stiefel. Der andere trieb sich Gott weiß wo herum.
Klein-Annemarie aber lag mit verhaltenem Atem im Bett neben Gerda.
Beide horchten.
Kam denn Knecht Ruprecht noch immer nicht? Annemie wollte ihn doch so schrecklich gern mal belauschen!
Surrrr – rrrrrr – deutlich vernahmen die zwei ein lautes Surren draußen im Hof.
»Du, Gerda, hörst du, das ist Knecht Ruprechts Luftschiff!« flüsterte Annemie aufgeregt.
Aber Gerda schüttelte den verbundenen Kopf: Ach Unsinn, das war doch bloß der Fahrstuhl!
Nein, sicher war es das Luftschiff gewesen, denn jetzt kam es tap – tap mit schweren Stiefeln den Korridor entlang, bis zur Kinderstubentür.
»Hörst du ihn?« fragte Klein-Annemie und wagte kaum zu atmen.
Aber Gerda war wieder anderer Meinung als ihre kleine Mama: Das konnte doch ebenso gut die Frida sein, die sich alle Puppenschuhchen zum Putzen holte.
Vergeblich sperrte Annemie ihre kleinen Ohren auf. Nichts ließ sich mehr vernehmen, weder Knecht Ruprecht noch Fräuleins Stimme, die ihm doch Bescheid sagen wollte.
Ach Gott, wenn Fräulein nun vergaß, Knecht Ruprecht zu bestellen, daß Gerda neue Haare brauchte, wenn das arme Ding Zeit ihres Lebens so entstellt einhergehen mußte! Diese Vorstellung brach Annemie fast das weiche Herz.
»Nein, mein Gerdakind,« flüsterte sie zärtlich, während ihr schon wieder die Tränen in die Augen stiegen, »so sollst du nicht rumlaufen! Als Kahlkopf mit ohne Frisur kannst du dich doch gar nicht im Kindergarten sehen lassen. Sonst lachen dich die anderen Puppen ja aus. Nein, ich gebe dir einen von meinen Zöpfen ab, ich habe ja zwei!«
Und ehe Puppe Gerda sie zurückhalten konnte, war Annemie – hast du nicht gesehen – aus dem Bettchen und tappte zum Kinderstubentisch. Dort hatte Fräulein ihren Nähkasten mit der großen Schere stehen lassen.
Ritsch – ratsch – schnipp – schnapp – machte die Schere – da war das eine Rattenschwänzchen ab. Selig sprang die Kleine damit ins Bett zurück.
»So, Gerdachen, nun brauchst du nicht mehr traurig zu sein, nun hast du ebensolch schönes Zöpfchen wie ich!« Damit band Nesthäkchen ihr abgeschnittenes Rattenschwänzchen mit einem Haarband an Puppe Gerdas Verband fest.
Gerda schmiegte sich dankbar an ihre gute kleine Mama, und dann schlief jeder von ihnen mit seinem einen Rattenschwänzchen glückselig ein.
Am anderen Morgen aber verwandelte sich das Glück in Tränen. Als Fräulein an Annemies Bett trat, um sie anzuziehen, war sie nicht weniger entsetzt, als die Kleine gestern beim Anblick ihrer Puppe.
»Annemie – um Himmels willen – was hast du denn bloß gemacht?«
Nesthäkchen sah Fräulein mit ihrer halben Jungs- und ihrer halben Mädchentolle groß an, sie dachte im Augenblick gar nicht an das abgeschnittene Rattenschwänzchen.
»Wo hast du denn bloß dein Zöpfchen gelassen?« Fräulein traute ihren Augen nicht.
»Das ist meiner Gerda über Nacht angewachsen.« Mit strahlendem Gesicht hielt Annemie die Puppe in die Höhe. Aber da war nichts von einem Zöpfchen zu sehen, nur der Verband saß auf dem Kopf.
Ja, wo war das Rattenschwänzchen denn bloß geblieben? Annemie begann in Hast zu suchen, während Fräulein noch immer ganz erstarrt dastand.
»Da ist es ja!« Unter dem Kopfkissen zog die Kleine ihr abgeschnittenes Zöpfchen, das Gerda im Schlafe verloren, hervor und hopste damit seelensvergnügt im Bett herum.
Bei diesem Anblick kam wieder Leben in Fräulein.
»Schämst du dich denn gar nicht, du Unart, dir deine Haare abzuschneiden, ach, was wird Mutti bloß sagen?« Damit war Fräulein aus dem Zimmer, um Frau Doktor Braun von der merkwürdigen Verwandlung ihres Nesthäkchens in Kenntnis zu setzen.
»Ich wollte doch man bloß meiner Gerda ein Zöpfchen abschenken, weil sie doch nicht als häßlicher Kahlkopf rumlaufen kann.« Weinerlich verzog Annemie das noch eben lachende Gesicht, als Mutti in höchster Aufregung die Kinderstube betrat.
»Lotte – Lotte – wie siehst du aus!« Mutti war noch entsetzter als Fräulein. »Weißt du nicht, daß du keine Schere anfassen darfst, du ungezogenes Kind?! Nun muß ich dir doch das andere Zöpfchen auch noch abschneiden lassen, so kann es nicht bleiben!«
Aber da ging Annemies leises Weinen in lautes Jammergeheul über.
»Nein – nein – ein Zöpfchen muß ich behalten, ich will nicht als häßlicher Kahlkopf in den Kindergarten gehen!« Sie schrie so laut, daß auch Vater erschien, um zu sehen, was denn seiner Lotte fehle.
Als Vater die schreckliche Geschichte von dem abgeschnittenen Rattenschwänzchen vernommen hatte, lachte er laut.
Ganz erstaunt richtete Nesthäkchen die tränennassen Augen auf ihn – war Vater denn nicht böse wie die andern?
Nein, Vater nahm sein Kleines auf den Arm, trocknete ihm die Tränen und sagte begütigend zu Mutti: »Unsere Lotte hat es nicht böse gemeint, sie wollte ihrem Kinde doch nur helfen. Mutterliebe denkt eben niemals an sich selbst, und – die Haare wachsen ja wieder!«
Aber vor dem Friseur mit der großen Schere vermochte auch Vater seinen Liebling nicht zu retten. Denn so konnte ihr Köpfchen wirklich nicht bleiben.
Ritsch – ratsch – schnipp – schnapp – da mußte auch das andere Rattenschwänzchen herunter, so bitterlich die Kleine auch im Friseurladen weinte.
Fräulein packte das Zöpfchen sorgsam ein, und Klein-Annemie warf einen Blick in den großen Spiegel.
»Wie Klaus sehe ich aus – abscheulich –« schluchzte sie, »wenn Knecht Ruprecht jetzt bloß nicht denkt, daß ich ein Junge bin und mir lauter olle Soldaten zu Weihnachten bringt.«
»Eine Rute wird er dir bringen und nichts weiter – denn was anderes hast du doch wohl nicht verdient«, sagte Fräulein sehr bestimmt.
»Hat er mir denn was in meine Schuhe reingelegt?« Jetzt erst dachte Annemie an dieselben, über all der Aufregung waren sie in Vergessenheit geraten.
O weh – in Annemies roten Schuhchen lag kein Goldfaden und keine Pfeffernuß, nicht einmal ein silberner Faden. Und die Puppen hatten doch alle ein goldenes Fädchen und eine Pfeffernuß in ihrem Schuhchen gefunden, sogar der wilde Kurt. Aber von Annemie schien Knecht Ruprecht überhaupt nichts wissen zu wollen.
»Nein, Lotte, ich kann dich nicht mehr liebhaben.« Mutti hielt sich die Augen zu, als ihr Nesthäkchen mit dem kurzgeschorenen Jungskopf wieder bei ihr erschien.
»Und ich habe meine Gerda doch lieb gehabt, wenn sie auch ein Kahlkopf war!« sagte die Kleine halb weinerlich, halb vorwurfsvoll.
Da siegte auch bei Frau Doktor Braun die Mutterliebe. Sie nahm ihre Lotte auf den Schoß und gab ihr einen Kuß zur Verzeihung.
Das kleine Mädchen aber versprach hoch und heilig, es niemals wieder zu tun.
Ja, Annemie, das soll dir wohl auch schwer werden, denn so schnell, wie sie abgeschnitten sind, wachsen die Zöpfchen nicht wieder!
Fräulein brachte Hut und Mäntelchen herbei, denn es war Zeit für den Kindergarten.
Aber Annemie, die sonst doch so gern zu Tante Martha ging, wollte heute durchaus nicht hin.
»Ich schoniere mich so toll, nachher denkt Tante Martha noch, ich bin ein fremder, kleiner Junge!« flüsterte sie Fräulein ins Ohr.
Die aber sagte: »Das schadet gar nichts, daß du dich schämst, das ist deine Strafe!«
»Denn soll mir Vater wenigstens einen Verband um den Kopf machen wie Gerda«, bat Annemarie flehentlich.
Aber Vater war fort auf Praxis. Und so traten zwei kleine Kahlköpfe, Annemie und Gerda, zu Tante Marthas und aller Kinder größtem Erstaunen heute im Kindergarten an.
Ach, Annemie mußte sich wirklich schämen, denn jeder fragte sie doch, wo sie denn ihre hübschen Zöpfchen gelassen habe. Trotzdem die Kinder jetzt so nette Weihnachtsarbeiten bei Tante Martha anfertigten und dazu mit hellen Stimmen Weihnachtslieder sangen, war Klein-Annemie lange nicht so vergnügt wie sonst. Das Lied »Morgen kommt der Weihnachtsmann« traute sie sich gar nicht mitzusingen, weil doch Knecht Ruprecht nichts von ihr wissen wollte.
Ein paar Tage später war der eine kleine Kahlkopf verschwunden – und zwar Puppe Gerda. Trotz Annemies ängstlichem Forschen kam sie nicht wieder zum Vorschein. Ob Klaus sie fortgenommen hatte oder am Ende gar Knecht Ruprecht – das blieb Nesthäkchen vorläufig ein Rätsel.