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Über die taufrischen Wiesen von Arnsdorf kam der Morgenwind daher. Er schaute in den Gutshof hinein, dort lag noch alles in tiefstem Schlaf. Nur der goldrote Hahn, der auf dem Misthaufen schlief, machte ein halbes Auge auf und blinzelte den Morgenwind verschlafen an. Da pustete ihn dieser übermütig ins Gesicht, daß er sogleich beide Augen aufriß und mit den goldroten Flügeln schlug.
Dann aber erklang es plötzlich in den höchsten Tönen »Kikeriki – kikeriki« – dabei kniff der Hahn die Augen wieder zu, denn er konnte sein Lied schon auswendig.
»So, den Langschläfer hätten wir geweckt«, dachte der Morgenwind und klirrte gegen die Fensterscheibe des Fremdenzimmers, das nach dem Hofe zu lag.
Da drinnen bewegte es sich. Ein Kinderbeinchen streckte sich zum Himmel empor und verschwand dann wieder unter der Decke.
Der Morgenwind machte ein erstauntes Gesicht. Nanu, wer lag denn heute da drin im Kinderbettchen?
Ein fremdes, kleines Mädchen und eine fremde Puppe, die er noch niemals hier auf dem Gute gesehen hatte. Das Gesicht hatte die Kleine noch tief in den Kissen vergraben.
Aber das Wecken verstand der Morgenwind, das war ja sein Amt hier auf dem Gut. Er nahm eine Weidenranke, die da gerade an der Mauer hing und schlug damit lustig gegen die Fensterscheibe.
Das fremde, kleine Mädchen steckte das zweite Beinchen heraus und die Ärmchen dazu, aber es schlief weiter.
Da gab der Morgenwind seinem Freund, dem Hahn, ein Zeichen, und der ließ sich nicht lange bitten. Aufs neue erklang es »Kikeriki – kikeriki.«
Das kleine Mädchen droben im Fremdenzimmer aber träumte, der Hahn aus seiner Spielzeugschachtel sei lebendig geworden und habe laut gekräht.
Doch als der Hahn auf dem Misthaufen zum drittenmal »Kikeriki – kikeriki« sang, da setzte sich die Kleine plötzlich im Bette hoch.
Ei – das war ja ein süßes, kleines Ding, wie erstaunt sie sich in der neuen Umgebung umguckte! Die gefiel dem Morgenwind ganz ausnehmend gut.
Jetzt endlich wußte Klein-Annemarie, denn sie und kein anderer war das fremde, kleine Mädchen, wo sie war. Richtig – in Arnsdorf. Aber wie sie hierher ins Bett gekommen, darauf konnte sie sich gar nicht mehr besinnen. Auch Tante Kätchen, Kusine Elli und die Vettern hatte sie gestern abend in ihrer Müdigkeit kaum noch begrüßen können.
»Kikeriki«, rief der Hahn unten wieder, und »Kikeriki – kikeriki« – erschallte es auch oben aus dem Kinderbett in hellen Tönen, daß Puppe Gerda und Fräulein entsetzt hoch fuhren.
»Aber Annemie, Kind, was fällt dir denn ein, gleich legst du dich hin und schläfst weiter«, rief Fräulein.
»Kikeriki – der Hahn ist schon wach, dann müssen wir auch aufstehen, auf einem Gut schläft man überhaupt nicht so lange, sagt Frida.« Annemie, die gestern besonders früh ins Bett gekommen, war bereits ganz ausgeschlafen.
Leider – denn Fräulein war noch sehr müde.
»Sei ruhig, Herzchen, und störe mich nicht«, bat sie.
Das versprach Annemie, denn sie hatte doch ihr Fräulein sehr lieb.
Sie begann eine halblaute Unterhaltung mit Gerda
»Gefällt es dir hier, Gerdachen?«
Die Puppe zuckte die Schultern, sie konnte in der kurzen Zeit noch nicht recht urteilen.
Inzwischen hatte der Morgenwind die Täubchen im Taubenhaus geweckt.
»Rrruck – ruck – ruck – ruck – girrr« – machten die und hoben die Köpfchen.
Und »rrruck – ruck – ruck – ruck, die Täubchen sind auch schon auf!« girrte es ebenfalls aus dem Kinderbettchen.
»Aber Annemie, du hast mir doch versprochen, still zu sein«, stöhnte Fräulein.
Ja richtig – das hatte sie wirklich bloß vergessen.
»Hast du Angst vor den Muhkühen, Gerda, die beißen nicht!« setzte Annemie inzwischen im Flüsterton ihre Unterhaltung mit der Puppe fort.
Gerda schüttelte den Lockenkopf. Aber als es jetzt aus dem Stall dumpf »Muh – mu – uh –« brüllte, denn der Morgenwind hatte gerade die Kühe geweckt, da verkroch sich die Puppe furchtsam unter den Kissen.
Ihre kleine Mama aber lachte und machte noch viel schöner »muh – mu – uh«, nicht gerade zur Freude ihres müden Fräuleins.
Eine Weile blieb es jetzt ruhig. Fräulein glaubte, der kleine Störenfried sei endlich wieder eingeschlafen und legte sich ebenfalls auf die andere Seite.
»Mäh – mäh – mäh« – klang es da zum Fremdenzimmer hinauf. Diesmal dachte Annemie daran, daß sie Fräulein nicht wieder wecken durfte. So gern sie auch mitgeblökt hätte, sie machte fest ihren kleinen Mund zu. Aber als das »Mäh« da unten gar kein Ende nehmen wollte, hielt es Annemie nicht länger im Bett aus.
Eins – zwei – drei – war sie mit ihrer Gerda am Fenster.
»Ach – sind das aber viele Schäfe!«
Und wie lustig sie durcheinandersprangen – hops – hops – denn sie wurden gerade auf die Weide getrieben. Auch die Knechte waren schon auf, sie spannten bereits die Leiterwagen ein, um aufs Feld zu fahren. Mitten auf dem Hof aber stand Onkel Heinrich und sah nach dem Rechten.
Was – alle waren sie schon auf, der Hahn, die Tauben, die Muhkühe, die Schäfchen, die Knechte und sogar Onkel Heinrich – nein, da blieb Annemie auch nicht länger oben.
Ein schneller Blick zu Fräuleins Bett – keine Sorge, Fräulein schlief fest. Wie der Wind war die Kleine aus der Tür, ihr Puppenkind im Arm, sprang sie seelensvergnügt die Treppe hinab.
»Guten Morgen, Onkel Heinrich, bitte, schenke mir doch eins von den süßen, kleinen Schafen, du hast ja so viele«, erklang es plötzlich hinter dem Gutsherrn.
Der wandte sich erstaunt um.
Da standen zwei allerliebste kleine Hemdenmätze vor ihm, denn auch Gerda hatte noch keine Toilette gemacht.
»Krabbe, bist du etwa Fräulein ausgekniffen, du wirst dich erkälten.« Onkel zog seine Lodenjoppe aus und wickelte Klein-Annemie und Gerda hinein. Dann nahm er sie beide auf den Arm.
Die Knechte ringsum lachten, und auch das »Mäh« der immer noch vorübergehenden Schafe hörte sich an, als ob sie die beiden Hemdenmätzchen auslachten.
Onkel trug die zwei ins Haus zurück.
»Nicht wieder in die Fremdenstube,« bettelte Annemie, »bitte, bitte, lieber Onkel! Fräulein ist noch so schrecklich müde, und ich störe sie bloß«, setzte der kleine Schlaukopf hinzu.
»Ja, wo laß ich dich denn da bloß, Krabbe? Ich muß jetzt aufs Feld reiten.«
»Da kannst du mich ganz ruhig mitnehmen, Onkel Heinrich, auf dem großen Schaukelpferd von Klaus bin ich schon oft geritten und auf Vaters Schultern auch, du sollst mal sehen, ich falle nicht runter.«
Aber der Onkel schien doch mit dem Vorschlag nicht so recht einverstanden zu sein.
»Wollen mal sehen, ob Tante Kätchen schon so weit ist.«
Ja, Tante Kätchen war schon fertig, sie lachte über das ganze Gesicht, als der Onkel ihr das lebendige Paket in den Arm legte.
»Na, ausgeschlafen, Herzchen?«
Aber Annemie gab keine Antwort, die mußte erst Tante Kätchens Gesicht studieren.
»Ach, so siehste aus, Tante Kätchen? Genau wie Mutti, bloß schimpfen mußt du noch, daß ich Fräulein fortgelaufen bin.«
Das tat aber Tante Kätchen nicht, sondern sie lachte noch viel mehr.
»Was ziehe ich dir denn nun an, Herzchen, so kannst du doch nicht herumlaufen, und Fräulein wollen wir nicht stören – halt, ich hab's. Da ist noch ein ausgewachsener Waschanzug vom Peter, der wird dir gerade passen.«
»Au ja – fein!« Jauchzend ließ sich Annemie in Tante Kätchens Schlafzimmer tragen und ganz artig waschen und kämmen. Sie wollte doch so schnell wie möglich in Vetter Peters Höschen schlüpfen.
Als Fräulein mit ängstlichem Gesicht unten erschien, denn sie hatte ihren Pflegling oben überall vergeblich gesucht, stand ein niedlicher, kleiner Junge mit zwei blonden Rattenschwänzchen vor ihr und lachte sie schelmisch an.
Da konnte Fräulein nicht böse sein, Annemie sah zu süß aus. Und sie bat so zärtlich, Fräulein möchte sie doch noch ein bißchen als kleiner Junge rumlaufen lassen, daß Fräulein es ihr nicht abschlagen konnte.
Die zwölfjährige Elli kam nun auch zum Vorschein. Sie gab Annemie einen Klaps auf die Höschen und sagte: »Na, Peter?« Da hing sich statt des Bruders Klein-Annemie lachend an ihren Hals.
Auch die Jungen, die zusammen schliefen, erkannten die Kleine nicht, das gab einen lauten Hallo.
»Wo gehen wir nachher zuerst hin?« fragte der zehnjährige Herbert beim Frühstück.
»Natürlich in die Ställe, wir müssen doch Klaus und Annemie erst die Pferde, Kühe und Schweine vorstellen«, rief sein jüngerer Bruder Peter.
»Nein, ich muß erst in die Rumpelkammer«, erklärte Klein-Annemarie wichtig.
»Was – wo willst du hin – was willst du denn in der Rumpelkammer?« so fragte man.
»Ja, ich muß doch erst Ellis alten Puppenwagen für meine Gerda vorkramen«, meinte das Puppenmütterchen.
Aber die gute Elli hatte bereits ihren Puppenwagen für das kleine Kusinchen zurechtgestellt, und ihre große Kochmaschine dazu. Von diesem Augenblick an liebte Annemie die große Kusine über alle Maßen.
Nachdem auch Gerda sich aus einem Hemdenmatz wieder in eine anständig gekleidete Puppe verwandelt hatte, zog die ganze Gesellschaft in die Stallungen.
Fräulein konnte inzwischen in Ruhe auspacken.
Zuerst ging's zu den Pferden. Der kecke Klaus ließ sich von einem Knecht gleich auf einen der Braunen setzen und schrie dazu »Hü« und »Hott«.
Annemie aber stand ängstlich von weitem. Sie traute sich nicht mal an das niedliche Füllen, das Babypferdchen, heran, das Elli mit Zucker fütterte. Und als sie sich schließlich überreden ließ, dem Tierchen selbst ein Stückchen Zucker zu reichen, da zog sie laut schreiend das Händchen zurück, welches das Füllen beschnuppert hatte. Ganz genau zählte sie nach, ob auch kein Fingerchen fehlte, der Zucker aber lag auf der Erde.
Bei den Kühen erging es Klein-Annemie nicht viel besser. Trotzdem sie ihrer Gerda so mutig versichert hatte: »Die beißen nicht!« wagte sie sich nicht näher. Warum schlugen sie denn auch so ärgerlich mit der Schwanzquaste? Und vier Beine zum Stoßen hatten sie auch, an jeder Ecke eins.
Plötzlich aber rief die Kleine erfreut, auf eine wunderhübsche, weißbraune Kuh zeigend: »Das ist ja die Kuh aus meinem Bilderbuch!«
»Quatsch,« lachte Vetter Peter, »das ist doch eins lebendige.«
»Na, denn ist es eben ihre Schwester, sie sieht ihr genau so ähnlich wie Tante Kätchen meiner Mutti«, erklärte Annemie mit Bestimmtheit.
Onkel Heinrich, der von seinem Morgenritt zurückgekehrt war, und den schmeichelhaften Vergleich gerade mit angehört hatte, lachte dröhnend.
»Weißt du denn auch, was uns die Kuh gibt?« fragte er.
»Aber das weiß doch sogar schon meine Gerda, daß man die Milch von der Kuh kriegt«, rief Annemie stolz.
»Na, und der Kaffee, wo kommt der her?« neckte der Onkel.
Die Kleine besann sich keinen Augenblick.
»Natürlich vom Pferd, denn er ist ebenso braun!«
Schallendes Gelächter folgte auf Klein-Annemies Ausspruch. Selbst die Kühe lachten, daß ihr langer Schwanz hin und her wackelte.
Annemie aber lief aus dem Kuhstall und teilte Elli heimlich mit, daß sie sich »ganz schrecklich schoniere«.
Die Schweinchen fanden auch nicht den Beifall der kleinen Kusine. Sie meinte geringschätzig: »Die sind ja gar nicht richtig! Die Ferkelchen in meinem Bilderbuch sehen rosenrot aus und riechen auch gar nicht so abscheulich!«
Aber von der Geflügel-Kinderstube war Annemie nicht fortzubringen.
Ach Gott, wie niedlich! Die kleinen Entchen, die noch ganz gelbe Flaumfedern hatten, die winzigen Gänschen, und die süßen, kleinen Kücken, die so unbeholfen hinter ihrer Hennenmutter hertappelten.
Auch der Kaninchenstall mit seinen übermütigen Bewohnern, die sich gar lustig überpurzelten, machte den Stadtkindern große Freude.
»Nun wollen wir in den Garten gehen«, meinte Elli.
Ach, war es da schön! Lauter Stiefmütterchen und Vergißmeinnicht, und die vielen Gänseblümchen, die da alle auf dem Rasen wuchsen.
»Pflücke dir doch welche, wir wollen für deine Gerda einen Kranz machen, Annemiechen«, schlug Elli vor.
Die Kleine zögerte.
»Ja, darf ich denn auf den Rasen treten?« fragte sie erstaunt.
»Aber natürlich«, lachte Elli.
»Gibt's denn hier keinen Tiergartenwächter?« Scheu sah sich die kleine Berlinerin um.
»Nein, Annemie, hier darfst du laufen, wohin du willst, hier tut dir keiner was«, beruhigte sie die Kusine.
»Ach, ist das schön bei euch – ich will niemals wieder in den ollen Tiergarten!« Das klang wie der Jubellaut eines Vögelchens, das zum erstenmal aus dem engen Bauer in die weite Luft hineinfliegt.
Klaus aber hatte seine ländliche Freiheit schneller begriffen. Der war bereits mit einem Satz in die Hängematte und mit dem nächsten wieder heraus und in die Schaukel. Jetzt strampelte er am Reck, und dann ging es mit den Vettern in die Johannisbeeren und Stachelbeersträucher.
Und am nächsten Tage hatte er bereits einen verdorbenen Magen.