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Warum mußte auch im Mai und Juni immer blauer Himmel in Italien sein! So sehnsüchtig auch Herbert auf Regenwetter wartete. Jeden Morgen, sobald er den Zanzarieri, »Mückengardinen« nannten sie die Zwillinge, entstiegen war, eilte er sofort auf die Terrasse, um den Himmel in Augenschein zu nehmen. Blau, blau, immer blauer – ein Tag wie der andere. Es war wirklich schon langweilig. Und ärgerlich dazu. Denn bei dem schönen Wetter kam man nicht ins Aquarium. Man mußte sogar noch in unmittelbarer Nähe desselben spielen.
Die Villa Nazionale war ein herrlicher Palmenpark, der sich an der Seeseite Neapels entlangzog. Dort war der schönste Erholungsaufenthalt der Neapolitaner, sowohl der eleganten Welt als auch des Volkes. Auch von bettelnden Lazzaroni wurde der Park fleißig besucht, da er gleichzeitig das Zentrum des Fremdenverkehrs bildete. Dort spielten Professors Zwillinge, wenn sie nicht in ihrem Garten blieben oder den Vater abholten. Der Park war eine wahre Blumenausstellung mit seinen herrlichen Blütenrondells. Stundenlang konnte Suse sich voller Begeisterung an dem Blühen und Duften, dem leuchtenden Farbenspiel, der Mannigfaltigkeit der südländischen Vegetation erfreuen. Herbert steuerte am liebsten dem in der »Villa«, so wurde der Park kurz genannt, gelegenen Aquarium zu. Dort stand er am Eingang und betrachtete neidisch die Hineingehenden.
Auch kleine Freunde hatten die deutschen Zwillinge bereits auf dem Spielplatz. Wenn man sich auch noch nicht gegenseitig verstand. Das war gar nicht nötig. Da gab es so manches, was viel schneller zur Bekanntschaft führte als Worte. Vor allem waren es Bubi und die Schwarzwald-Lotti, welche die Freundschaft zwischen den deutschen und den italienischen Kindern vermittelten. Bubi war ein liebenswürdiger Hund. Schwanzwedeln ist eine internationale Hundesprache, die im Süden ebenso verstanden wird wie am Nordpol. Wenn das kleine Hündchen mit dem seidenweichen, schwarzen Fell die Kinder mit seinen dunklen Hundeaugen treuherzig anblickte und dazu mit dem Stummelschwänzchen wedelte, wurde er von all den kleinen Händen gestreichelt und geliebkost. Ja, er bekam oft sogar Bonbons und Schokolade. Sein kleiner Herr wurde dadurch zum Mittelpunkt der Kinderschar.
»Ich glaube bestimmt, die halten Bubi für einen Italiener, weil er so schwarze Haare hat«, äußerte sich Herbert zu seiner Schwester.
Nun, das mochte mit der Schwarzwald-Lotti wahrscheinlich auch der Fall sein. Auf Schwanzwedeln verstand sie sich ja nicht. Aber ihre schwarzen Zöpfchen und die bunte Tracht lockten die kleinen italienischen Mädchen an. Auch Lotti wurde gestreichelt und bewundert. Bonbons und Schokolade bekam sie zwar nicht. Aber die Puppenmutter der » bella bambola« – der schönen Puppe – wurde durch ihr Zelluloidkind bald gut Freund mit all den dunkeläugigen, kleinen Italienerinnen.
Schneller als bei Signor Salvani lernten die deutschen Kinder bei ihren kleinen Freunden auf dem Spielplatz die italienische Sprache. Das war so einfach, es ergab sich ganz von selbst. Die kleinen Italiener spielten Blindekuh. Dies Spiel kannten die deutschen Zwillinge auch. Sie spielten es mit, und bald wußten sie, daß sie nicht »Blindekuh«, sondern auf italienisch » mosca cieca« spielten. Sie warfen durch die blaue Luft nicht mehr den Ball, sondern » la palla«. Um die große Granitschale, die im Park aufgestellt war, spielten sie nicht Haschen oder, wie man in Berlin sagte, »Zeck«, sondern » rincorrersi«. Es war erstaunlich, was die Zwillinge, ganz besonders Herbert, auf dem Spielplatz für Fortschritte in der italienischen Sprache machten. Nach sechs Wochen wurde es ihnen gar nicht mehr schwer, sich zu verständigen. Suse strengte sich weniger an. Sie hatte ja ihren Dolmetscher – so nennt man jemand, der die Verständigung in einer Fremdsprache vermittelt – immer bei sich. Herbert führte stets das große Wort für beide. Es war wirklich genug, wenn ein Zwilling Italienisch konnte.
Die Mutter ging mit Vorliebe mit den Kindern auf den Spielplatz, damit sie neben der Erholung gleichzeitig die italienische Sprache spielend erlernen sollten. Sie konnte sie dort ganz ruhig lassen und inzwischen in der Stadt ihre Besorgungen machen.
Herbert hatte noch viele Freunde in dem Park. Die Lazzaroni, die auf den Bänken herumsaßen und dem lieben Gott die Zeit fortstahlen, das waren alles seine guten Freunde. Er half ihnen beim Aufsammeln fortgeworfener Zigarrenstummel, mit denen die Bettler in den Gassen einen schwungvollen Handel trieben. Bis die Mutter eines Tages der merkwürdigen Beschäftigung ihres Sohnes ein Ende machte.
Da waren vor allem die kleinen Zeitungsverkäufer, » giornalisti« genannt, die zu bestimmten Stunden mit ihren italienischen Blättern durch den Park stürmten und so laut schreien konnten, daß man ganz neidisch wurde und unwillkürlich mitschrie. » Roma – Tribuna – Corriere della sera« – oh, wie wundervoll konnten die kleinen Italiener das Rrr dabei rollen. Herbert übte es so lange, besonders des Morgens beim Mundspülen, bis auch er eine große Kunstfertigkeit darin erlangte und das Rrr wie ein Rad bei ihm schnurrte. Enrico, Arminio, Carlo und Roberto, wie die jungen Zeitungsverkäufer hießen, hatten in dem kleinen Deutschen einen bewundernden Verehrer gefunden. Diese Verehrung ging so weit, daß Herbert den Jungen oftmals etwas von seinem Frühstück aufhob oder auch ein Stück Kuchen mit einem von ihnen teilte. All seine Wünsche gipfelten insgeheim darin, auch einmal, bloß ein einziges Mal, mit solch einem Kasten Zeitungen durch den Park stürmen zu können und dabei so herrlich zu schreien.
Eines Tages hatte Frau Professor Winter ihre Zwillinge wieder im Park zurückgelassen, um einige notwendige Einkäufe zu machen. In den Straßen der Stadt brütete die Sonnenglut. Nein, es war wirklich besser, die Kinder blieben inzwischen in den Anlagen, wo Palmen, Edelkastanien, Pinien und Zypressen Schatten spendeten und von der See immer ein erfrischendes Lüftchen wehte. Sie spielten ja so nett mit den italienischen Kindern, die meistens mit ihrer französischen Bonne auf dem Spielplatz waren.
Suse hatte ihren Puppenwagen mit der Schwarzwald-Lotti in ein Tempelchen geschoben, das dem Andenken Tassos geweiht war. Dort war ihre Puppenwohnung. Eine kleine italienische Freundin, Ricarda mit Namen, hatte ihre Puppenfamilie in dem Tempel Virgils einquartiert. Sie spielten beide »Signora« – Gnädige Frau – und besuchten sich gegenseitig mit ihren Kindern.
Herbert, der künftige Mann, verschmähte natürlich das »kindische« Puppenspiel. Er hatte aus Deutschland ein kleines Flugzeug mitgebracht, das man aufzog, und das dann in großen Kurven durch die Luft flog. Dieses Flugzeug begeisterte die kleinen Spielkameraden heute noch mehr als Bubi. Jeder wollte es einmal in die Luft schnellen.
Zur gewohnten Zeit hörte man wie eine Welle das Geschrei der heranstürmenden kleinen » giornalisti« aus der Ferne näher und näher brausen. Jetzt unterschied man schon die einzelnen Rufe: » Corriere della sera – Roma – Tribuna« – und da waren sie auch schon, wild durcheinanderschreiend. Wie eine Sturmflut ergossen sich die schwarzhaarigen, schwarzäugigen und schwarzfingerigen kleinen Neapolitaner in die Villa Nazionale.
Arminio, ein Bürschchen von etwa elf Jahren, hielt plötzlich im Schreien inne. Er war Herberts Spezialfreund und pflegte jetzt schon die Freundschaftsbeweise des deutschen Jungen als etwas ihm Zukommendes aufzufassen. Aber heute hatte es Arminio weder auf Kuchen noch auf eine verlockende Murmel oder auf ein buntes Bild abgesehen. Heute war er ganz und gar gefangen von dem niedlichen kleinen Flugzeug, das da, von Herberts Händen geschickt abgeschnellt, in herrlichen Kurven seine Bahn durch die Luft beschrieb.
»Laß mich mal machen!« bat er auf italienisch. » Prego – bitte!«
Herbert stellte sich taub. Aber er ließ sein Flugzeug immer neue, noch schönere Bogen beschreiben.
» Prego – prego, Erberto!« Die braunen, nichts weniger als sauberen Finger von Arminio griffen bittend nach dem weißen Blusenärmel seines kleinen Freundes.
Da kam Herbert ein Gedanke. Ein famoser Gedanke. Nein, das ging doch nicht – irgend etwas in ihm warnte – hielt ihn noch zurück davon, den Gedanken auszusprechen.
Aber warum sollte denn das nicht gehen? Herrlich ging es. Nie würde solch eine günstige Gelegenheit wiederkehren. Die Mutter war nicht da – Suse spielte drüben. Nur Bubi sah seinen kleinen Herrn mißbilligend an, als ob er mit seinen klugen Hundeaugen seine Absichten durchschaute. Ja, was ging denn das Bubi überhaupt an! Wer war denn von ihnen beiden der Herr? Nun gerade!
»Du kannst mit meinem Flugzeug hier im Park spielen, Arminio, wenn – wenn du mich statt dessen Zeitungen ausrufen und verkaufen läßt.« Da war's heraus. Zwar etwas stotternd, denn so ganz beherrschte Herbert die italienische Sprache doch noch nicht, besonders wenn er aufgeregt war.
Der kleine Italiener hob den Zeigefinger der rechten Hand hoch und bewegte ihn schnell hin und her. Das bedeutet in Italien eine Verneinung.
Herbert kannte bereits diese Gebärdensprache. » Prego – bitte, bitte!« Jetzt war er es, der bat.
»Es geht nicht, Erberto. Ich muß das Geld für die Zeitungen abliefern.«
»Aber ich bringe dir doch alles Geld, Arminio. Jeden Centesimo bekommst du ehrlich wieder«, versprach der kleine Deutsche eifrig.
Nun war das Wort »ehrlich« bei dem kleinen Neapolitaner ein höchst mangelhafter Begriff. Er hatten nicht mehr Zutrauen zu der Ehrlichkeit seines deutschen Freundes als zu seiner eigenen. Aber das Flugzeug surrte gerade wieder verlockend im Sonnenlicht – Arminio konnte nicht widerstehen.
Er nahm seinen an Trägern um den Hals hängenden Zeitungskasten und hängte ihn Herbert um. »Hier in diese Schachtel kommt das Geld. Verliere es nicht. Du mußt laut ausschreien. Avanti!«
Oh, schreien wollte Herbert schon aus kräftigen Lungen.
Mit erstaunten Augen hatte Bubi die Verwandlung seines kleinen Herrn von einem wohlerzogenen, im Park spielenden Jungen zu einem Zeitungsverkäufer mitangesehen. Nanu – was hatte denn das zu bedeuten?
Einen Augenblick blieb Herbert unschlüssig stehen. Sollte er nicht seiner Suse noch Bescheid sagen, daß er bloß mal ein bißchen mit den Zeitungen durch den Park lief? Er fühlte sich doch immer als ihr Beschützer, wenn die Mutter nicht da war. Aber wenn sie ihn nun von seinem Vorhaben abbringen wollte? Suse war manchmal so ehrpusselig, sie sagte oft laut genau dasselbe, was in ihm leise eine Stimme sagte, auf die es höchst unbequem war zu hören. Ach, die Suse spielte ja da drüben mit ihrer dummen Puppe. Und bis sie ihn vermißte, war er längst wieder da. Alle diese Gedanken kreuzten sich blitzschnell im Lauf von Sekunden in Herberts Kopf. Und da rief er dem Arminio auch schon zu: » A rivederci – auf Wiedersehen!« Fort stürmte er, gefolgt von Bubi, dessen zuerst vorwurfsvolles Gebell bald in ein frohlockendes überging. Denn böse Beispiele verderben gute Sitten.
» Corriere della sera – Roma – Tribuna« – oh, wie wunderbar das Rrr rollte. Herbert konnte es noch viel schöner als Arminio. Er schrie lauter als die andern kleinen giornalisti.
Dieser und jener kaufte eine Zeitung. Das Geld in der Schachtel klapperte. » Corriere della sera – Tribuna – Roma« – –. Wenn er mal groß war, wurde er nicht Professor, wie er sich das eigentlich vorgenommen hatte, sondern Zeitungsverkäufer. Das war viel famoser!
Die kleinen giornalisti hatten den Park nach allen Richtungen hin abgestreift und stürmten jetzt schreiend in die Stadt zurück. Herbert und Bubi hinterdrein. Kein Gedanke kam dem Jungen mehr an seinen Zwilling, an die Mutter, die inzwischen zurückkehren konnte. Er dachte nur daran, recht viel Zeitungen zu verkaufen. Er war mit all seinen Gedanken Geschäftsmann.
Manch verwunderter Blick von Vorübergehenden und Käufern streifte den kleinen Zeitungsjungen. Er nahm sich ja wohl auch etwas merkwürdig aus. Die andern kleinen giornalisti trugen ein paar zerrissene, manchmal auch geflickte Hosen, ein Hemd, dessen ursprüngliche Farbe sich nicht mehr feststellen ließ. Barfuß, die Haut wie Bronze, schwarzes Haar und kohlschwarze Augen. So sahen sie aus, einer wie der andere.
Ein Herr, den roten Baedeker, den Fremdenführer, in der Hand, blieb vor Herbert stehen. » Corriere della sera«, die Abendzeitung verlangte er. Ihm fiel das gepflegte Aussehen des vermeintlichen Neapolitaners besonders auf. Verwundert musterte er den blauäugigen Jungen im sauberen, weißen Matrosenanzug bis zu den in Wadenstrümpfen und Sandalen steckenden Füßen. So pflegten die kleinen italienischen Verkäufer sonst nicht auszusehen.
»Wie heißt du?« fragte der Herr auf italienisch.
»Erberto«, sagte Herbert und wollte weiter.
»Bist du italiano – Italiener?«
Einen Augenblick schwankte Herbert. Er wollte doch gar zu gern für einen Italiener gelten. Aber er brachte die Lüge nicht über die Lippen. » Corriere della sera – Roma – Tribuna« – schrie er aufs neue aus, um der peinlichen Antwort überhoben zu sein.
Aber der fremde Herr ließ nicht locker. Er merkte, daß da irgend etwas nicht stimmte. Er ging neben dem Jungen her.
»Wo bist du geboren?« examinierte er.
»In Germania – in Deutschland.« Herbert wagte es doch nicht, zu lügen.
»Ah, ein kleiner Landsmann. Da können wir es uns ja bequemer machen und deutsch miteinander reden«, lachte der Herr. »Wie kommst du denn hierher nach Neapel?«
»Mein Vater lebt hier.« Es war Herbert gar nicht recht, daß er seine Rolle als kleiner Italiener nicht mehr spielen konnte. Er wollte weiter.
Der Fremde hielt ihn am Blusenärmel fest.
»Erst sage mir noch mal, wie du heißt, mein Sohn.«
»Herbert Winter – aber ich muß nun wirklich Zeitungen verkaufen. Corriere della sera« – er schrie aus Leibeskräften. Bubi blaffte dazu.
»Winter –«, der Herr stutzte. »Was ist dein Vater?«
Nein, es war nicht möglich, den Herrn zu beschwindeln.
»Professor«, sagte Herbert und – lief davon.
Jedoch der fremde Herr hatte lange Beine, er lief so schnell wie Herbert und Bubi.
»Winter – Professor Winter – nein, das ist ja nicht möglich! Du bist der Junge von Professor Winter? Von dem komme ich ja eben. Ich hatte eine Empfehlung von Professor Baum in Freiburg.«
»Das ist ja mein Großpapa – mein Großpapa in Freiburg«, schrie Herbert plötzlich begeistert und vergaß vor Überraschung ganz, daß er Zeitungsjunge war.
»Hm – und wieso verkaufst du hier in Neapel Zeitungen?« forschte der Herr.
Herbert wurde rot bis über die Ohren.
»Mein Freund Arminio hat mir seine Zeitungen ein bißchen geborgt – bloß so zum Spaß«, stotterte Herbert verlegen. »Aber jetzt habe ich wirklich keine Zeit.« Es fiel ihm plötzlich ein, daß er seine Suse allein im Park zurückgelassen hatte. Wenn sie ihn nun vermißte? Oder wenn Mutti gar inzwischen zurückgekehrt war!
»Weiß denn deine Mutter davon, daß du Zeitungen verkaufst?« fragte der Fremde ernst. Und da keine Antwort erfolgte, setzte er hinzu: »Ich glaube nicht, daß ihr das recht wäre – ebensowenig wie deinem Vater, bei dem ich soeben gewesen bin.«
Herbert lief rascher. Das böse Gewissen jagte ihn. Er wagte es nicht mehr, seine Zeitungen auszurufen. Denn der deutsche Herr blieb an seiner Seite.
»Ich bringe dich heim«, sagte er. Denn er mochte wohl mit Recht fürchten, daß der Junge weiter seinen Zeitungshandel betreiben könne.
»Ich gehe ja nach der Villa Nazionale. Da ist die Suse, das ist meine Schwester. Und der Arminio mit meinem Flugzeug wartet dort auf seine Zeitungen. Vielleicht ist meine Mutter auch schon wieder da.« Das letzte klang recht kleinlaut. Denn mit einemmal kam dem Herbert seine Verwandlung in einen neapolitanischen Zeitungsjungen gar nicht mehr so lustig vor, sondern im Gegenteil recht bedrückend.
»Ich liefere dich persönlich dort ab.« Der Fremde fühlte dem Vater des Jungen gegenüber eine Verantwortung.
Im Park hatte inzwischen die Suse sehr bald ihren Zwilling vermißt. Sie lief zu den andern Kindern und fragte sie nach Herbert. Die gaben ihr auch Auskunft, daß er mit Zeitungen fortgelaufen sei. Aber die gegenseitige Verständigung war nur recht mangelhaft. Herbert, der Dolmetscher, fehlte. Suse verstand nur soviel, daß ihr Zwillingsbruder fort war. Und Bubi dazu. Daß sie und ihre Schwarzwald-Lotti ganz allein in dem großen Neapel waren. Was konnte sie anderes dabei tun, als sich auf die Steinstufen des Tassotempelchens mit ihrer Puppe setzen und bitterlich weinen.
So fand sie die zurückkehrende Mutter. Erschreckt forschte sie nach dem Grunde der Betrübnis. Und da kam es heraus. Herbert – Herbert war weg! Herbert und Bubi – alle beide!
Frau Professor Winter gelang die Verständigung mit den italienischen Kindern besser als der Suse. Sie erfuhr von ihnen, daß Herbert mit dem Zeitungskasten eines Jungen, der dort mit Herberts Flugzeug spielte, davongelaufen sei. Im Augenblick erfaßte die Mutter den Zusammenhang. Eine Mutter kennt ja ihre Kinder und vermag ihrem Gedankengange zu folgen. Sicher hatte Herbert mit dem Zeitungsjungen getauscht, ihm sein Spielzeug für den Zeitungskasten gegeben. Und nun lief er allein in den Straßen Neapels umher – o Gott, was konnte ihm da nicht alles passieren!
Sie wandte sich an Arminio, ob er nicht wisse, wohin Herbert mit den Zeitungen gelaufen sei. Aber Arminio machte eine Bewegung, die ganz Neapel umfaßte und das Mittelländische Meer dazu. Er hatte genug von dem Flugzeug und war nun selbst in Sorge um seine Ware und um sein Geld. Arminio konnte der verängstigten Mutter und der weinenden Suse auch nichts nützen. Die auf den Bänken sich sonnenden Bettler wurden aufmerksam. Was, der kleine deutsche Junge, ihr guter Freund, war verschwunden? Oh, sie wollten ihn schon wieder herbeischaffen. Alle wollten sie ihn suchen helfen, den kleinen Erberto.
Es hieß warten, ruhig abwarten. Das war eine schwierige Aufgabe für die Mutter. Wenn sie sich auch sagte, daß Herbert bestimmt hierher zurückkehren würde, um die geliehenen Zeitungen abzugeben. Er konnte sich ja in der fremden Stadt verlaufen haben. Wer weiß, wann er wieder hier erschien.
Während sie noch überlegte, ob man denn gar nichts unternehmen könne, um ihren Jungen schneller herbeizuschaffen, während Suse leise vor sich hinweinte, Arminio laut räsonierte, und die Lazzaroni den Park und die benachbarten Straßen absuchten, hörte man plötzlich Hundegebell.
Suse spitzte die Ohren. Das war – ja, das war doch Bubi! Da kam er auch schon in vollem Galopp freudeblaffend auf sie losgestürmt. Dahinter langsamer, gar nicht freudig und unternehmend, wie das die Mutter eigentlich erwartet hatte, ihr Junge an der Seite eines fremden Herrn.
Als erster war Arminio bei Herbert. Er riß ihm mit einem Schwall italienischer Vorwürfe über sein langes Ausbleiben die Zeitungen fort. Vor der Mutter und Suse stand alsbald kein kleiner Zeitungsverkäufer mehr, sondern ein ziemlich zerknirschter Junge. Denn auch der fremde Herr hatte ihm unterwegs Vorwürfe gemacht. Muttis sorgenvolle Miene, Suses Tränen aber gingen Herbert noch tiefer als alle Vorwürfe.
Der fremde Herr stellte sich der Mutter als Gymnasialdirektor aus Jena vor und überbrachte ihr Grüße von ihrem Vater aus Freiburg, den er dort kennengelernt hatte.
» Corriere della sera – Roma – Tribuna – – –«, schallte Arminios Stimme aus der Ferne. Nein, Herbert hatte gar keine Lust mehr, noch einmal Zeitungsjunge zu spielen.