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16. Kapitel. Knecht Ruprecht klopft an

So kam der Weihnachtsabend, der schönste Tag im Jahre für Kinderherzen, heran.

»Voriges Jahr haben wir Paulchen seinen Weihnachten auf unserm Rodelschlitten durch tiefen Schnee hingezogen. Weißt du noch, Herbert, wie wir das brennende Bäumchen ganz leise in Paulchens dunkle Stube geschoben haben?« erinnerte Suse, nachdenklich in die immer noch grünen Bäume des Gartens hinausstarrend.

»Und dies Jahr haben wir selber keinen Weihnachtsbaum«, klang es ziemlich empört zurück.

»Wenn wir nur jemand hätten, dem wir bescheren, dem wir eine richtige Weihnachtsfreude machen könnten. Das wäre ebenso schön wie ein Baum«, überlegte das kleine Mädchen.

»Na, wir schenken doch Vater und Mutti und Pietro und Teresina was. Und Bubi bekommt die niedliche, kleine Weihnachtswurst und du – nee, das verrate ich nicht.«

»Doch, Herbert, du hast es mir ja versprochen. Bitte, bitte, sage es mir doch«, bat Suse neugierig.

»Also meinetwegen. Du kriegst von mir einen famosen Seidenspinner. Ich habe ihn bei einem Schulfreund gegen eins meiner weißen Mäuschen eingetauscht. Freust du dich darüber?«

»Nee, gar nicht«, sagte Suse enttäuscht. »Da freut sich meine Mija ja sicher mehr über das rosa Halsband, das ich ihr gehäkelt habe. Nee, den ollen Seidenspinner kannst du überhaupt behalten. Darüber freust du dich doch bloß allein.«

»Na, wir sind doch Zwillinge«, begehrte Herbert ärgerlich auf, daß sein Geschenk nicht die volle Würdigung erhielt. »Da ist es doch ganz gleich, wer von uns beiden sich darüber freut.«

Suse schwieg betreten. Hatte Herbert recht? Mußte sie sich als getreuer Zwilling nicht auch mit dem freuen, was ihm Freude machte? Und war es überhaupt nett, für ein Geschenk undankbar zu sein?

Das waren keine angenehmen Gedanken am Heiligabend.

»Wir hätten wieder irgendeinem Armen eine Weihnachtsfreude machen sollen, Herbert«, begann Suse von neuem. »Da hat man selbst doppelte Freude, sagte Mutti.«

»Hier in Neapel gibt's gar keine armen Leute«, meinte Herbert gleichgültig.

»Na, und die vielen Lazzaroni? All die netten Bettler aus dem Park, die uns zu unserm ersten November so schöne Morgenmusik gemacht haben«, erinnerte die Schwester.

Richtig, die Lazzaroni! Natürlich mußten die zu Weihnachten bedacht werden. Herbert war Feuer und Flamme für Suses Vorschlag.

Mutti hatte heute reichlich zu tun. Sie fabrizierte in der Küche allerlei deutsches Weihnachtsgebäck, damit ihre Lieben die Heimat heute nicht allzusehr entbehren mußten. Aber die gute Mutti nahm sich doch die Zeit, den Wunsch ihrer Zwillinge zu erfüllen und ihnen ein Körbchen mit allerlei guten Sachen für die armen Bettler in der Villa Nazionale zu packen. Denn sie freute sich über die mitleidige Regung der Kinder.

So zogen Professors Zwillinge am Nachmittag mit ihrem Körbchen in die Anlagen. Und die erfreuten Bettler flehten den Segen der Madonna auf die guten Kinder herab.

Im Süden sind die Wintertage länger als im Norden. Es war noch hell, als Professors Zwillinge heimkamen.

»Nun haben wir auch unsere Weihnachtsfreude ohne Bäumchen gehabt«, sagte Suse mit frohen Augen.

Die Zwillinge saßen in ihrer Kinderstube und warteten auf das Nahen des Heiligabends.

»Unsere kleine Omama denkt jetzt zu uns her«, meinte das kleine Mädchen, sich an frühere Weihnachtsabende, wo stets die liebe Omama und Frau Annchen dabeigewesen, erinnernd.

»Und mein Laubfrosch auch«, fiel Herbert ein.

»Du kriegst ja heute einen neuen.«

»Ja, aber der ist kein Deutscher, sondern Italiener. Der alte Laubfrosch ist doch mein Landsmann.«

Die Zwillinge hatten gar nicht acht gehabt, daß sich über die Palmen und Orangenbäume draußen leise, leise der heilige Abend niedersenkte. Mit seinen Friedensfittichen schwebte er durch die grünen Gärten Italiens genau so feierlich, wie über die Schneehalden des Nordens.

Da – »klinglingling« erklang es aus dem Nebenzimmer, und die Türen öffneten sich.

Was war denn das – Lichterglanz? Die noch im Dunkeln sitzenden Kinder hielten sich geblendet die Augen zu.

Ja, gab es denn hier in Italien Weihnachtstannen?

Eine Tanne war es ja nicht, die mit vielen, hellen Lichtchen den überraschten Kindern entgegenstrahlte. Eine niedliche kleine Zypresse hatte der Vater von Pietro besorgen lassen, und die Mutter hatte sie mit Lichten, mit Silberlametta, blanken Kugeln und bunten Ketten zu einem richtigen Weihnachtsbaum ausgeputzt.

So prangte nun der Baum des Südens im deutschen Weihnachtskleid.

Und wer stand hinter dem Weihnachtsbaum versteckt?

»Rita!« rief Suse, jubelnd auf die Freundin zueilend.

Ja, sie war's. Rita und auch ihr Bruder Enrico. Sogar Mademoiselle fehlte nicht. Die gütige Mutter hatte die mutterlosen Kinder, die heute keinen richtigen Weihnachtsabend feierten, heimlich in ihr Haus geladen. Das war eine herrliche Überraschung – beinahe ebenso schön wie der brennende Lichterbaum.

Aber auch die Eltern bekamen jetzt ihre Weihnachtsüberraschung.

Herbert stieß Suse an: »Los!« kommandierte er.

Die Zwillinge nahmen mit wichtigen Mienen am Klavier Platz.

»Stille Nacht – heilige Nacht« – lieb vertraut zog das deutsche Weihnachtslied durch den Raum, zauberte den Eltern die ferne Heimat vor.

Was schadete es, daß Suse in ihrer Aufregung h statt b anschlug, daß Herbert nicht ordentlich Takt hielt? Das schadete gar nichts. Vater und Mutter fielen mit bewegten Stimmen in das Lied ein. Und als es geendet, schlossen sie frohen Auges ihre Zwillinge für die gelungene Überraschung in die Arme. Die italienischen Kinder hatten andächtig gelauscht. Pietro und Teresina hatten sogar Tränen in den Augen, weil ihre Engelchen wirklich wie die Engel im Himmel gespielt hätten.

Dann kam die Bescherung. Wieder gab's da eine Überraschung für die Zwillinge: Eine allerliebste kleine Armbanduhr erhielten sie – die von Herbert ein wenig größer als die von Suse. Die kleine Omama hatte sie ihren Lieblingen aus Berlin geschickt.

»Rita, ich habe eine Uhr wie du!« War das ein Jubel.

Allgemeine Freude herrschte. Die Eltern bewunderten Suses zierlich mit bunten Kreuzstichblumen gesticktes Kissen und Herberts Schnitzarbeit. Pietro und Teresina freuten sich über ihre schönen Geschenke, und selbst die italienischen Kinder und Mademoiselle gingen nicht leer aus. Sie erhielten Marzipan und andere Süßigkeiten.

Herbert trug das Glas mit seinem neuen Laubfrosch liebevoll im Arm mit sich herum, wenn der Frosch auch ein Italiener war. Und Suse versuchte sogar dem Seidenspinner von Herbert freundlichere Gefühle entgegenzubringen.

Als man gerade zu Tisch gehen wollte, pochte es laut an die Tür. Verwundert blickte man sich an. Wer mochte der späte Gast sein?

Aus einer braunen Kutte schaute ein weißbärtiger Alter ins Zimmer. Einen Sack hatte er auf dem Rücken.

»Knecht Ruprecht!« riefen die deutschen Zwillinge – » San Niccolò!« die italienischen Geschwister. Und dann lachten sie alle. Sie waren ja schon groß. Sie glaubten doch nicht mehr an den Weihnachtsmann. Gewiß hatte sich Pietro einen Spaß gemacht.

Da aber begann der Weihnachtsmann mit verstellt tiefer Stimme zu sprechen. Es waren deutsche Laute: »Gibt es in Italien artige Kinder?«

Der Professor und seine Frau blickten sich in freudigem Erschrecken an. Die Zwillinge standen starr. Aber nur einen Augenblick. Dann kam wieder Leben in Herbert und Suse.

»Onkel Ernst!« schrien sie wie aus einem Munde und eilten auf Knecht Ruprecht zu, rissen ihm den falschen Bart herunter und sprangen an dem lieben Onkel aus Freiburg empor.

Der hatte einen Arm um die Zwillinge geschlungen, den andern um die Mutti, seine Schwester.

Während der Professor ihm freudestrahlend auf die Schulter klopfte: »Das hast du famos gemacht, mein Junge!«

»Ich bringe euch Ausreißern Weihnachtsgrüße aus der Heimat«, sagte Onkel Ernst lachend und öffnete seinen Sack. Da kamen die Geschenke von den Großeltern aus Freiburg, welche die Zwillinge eigentlich schon vermißt hatten, zum Vorschein.

»Du bist uns das liebste Geschenk, Ernst«, sagte die Mutter innig. Sie konnte es noch gar nicht fassen, daß sie den Bruder bei sich hatte, daß die Heimat am Weihnachtsabend zu ihr in die Fremde gekommen.

»Nun lassen wir dich so bald nicht wieder fort, mein Junge«, rief auch Professor Winter, mit dem feurigen Vesuvwein seinem Schwager zutrinkend. Es erschien den Kindern drollig, daß der Vater zu dem großen Onkel, der doch schon ein Herr war, in seiner Wiedersehensfreude immer »mein Junge« sagte.

»Nein, so bald werdet ihr mich nicht wieder los«, lachte der Onkel. »Ich beabsichtige, den Winter über in Neapel zu bleiben und in den Ausgrabungen von Pompeji Studien zu machen. Ich will meine Doktorarbeit darüber schreiben.«

Onkel Ernst hatte Geschichte studiert und wollte Altertumsforscher oder, wie es wissenschaftlich hieß, »Archäologe« werden.

»Um so besser«, rief sein Schwager erfreut. »Je länger, je lieber!«

Onkel Ernst aber machte bereits wieder Spaß und scherzte mit den Zwillingen und ihren Freunden in einem ulkigen Kauderwelsch von Deutsch, Italienisch und Französisch. Auch Bubi wurde vorgeführt, den Onkel Ernst einst als winziges Hundebaby dem zweibeinigen Bubi in einer Tortenschachtel geschenkt hatte. Er hatte recht wenig Heimatsgefühl, der Köter. Denn er knurrte den lieben Onkel als Fremden mißtrauisch an.

Als Enrico und Rita sich dankbar verabschiedeten, flüsterte die kleine Italienerin ihrer deutschen Freundin ins Ohr: »Seitdem unsere mamma im Himmel ist, haben wir nie wieder solchen schönen Weihnachtsabend gehabt wie den heutigen.«

Das machte Suse sehr glücklich.

So hatte der Heiligabend, gerade so wie Knecht Ruprecht, einen Sack voller Überraschungen für die deutsche Professorenfamilie im fremden Lande gebracht.


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